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»Ein Zugang« sagte der Aufseher, als ich dessen Flügel betrat, und schloß eine Zellenthür auf. Bei meinem Eintreten erhob sich eine hohe, schlanke, etwas gebeugte Gestalt von ihrem Sitze. Ich stellte mich als den evangelischen Hausgeistlichen der Anstalt vor, worauf der Ankömmling mit einer leichten Verbeugung erwiderte: »Mein Name ist Dietrich, ich bin Apotheker aus Breslau.« Ich schaute ihm ins Antlitz, auf das nun vom Fenster her das volle Licht fiel. Der Mann mochte Ende der fünfzig sein, war aber ein vollständiger Greis. Kurz geschnittene, schneeweiße Haare bedeckten den Kopf; das hagere, bleiche Gesicht war von feinen Runzeln durchzogen, unter einer hohen Stirn glänzte ein dunkles, intelligentes Augenpaar. In dem Gesichte lag etwas, was Mitleid erweckte, ein Zug von tiefem Schmerz und Weh; der Mensch sah vergrämt und abgehärmt aus, er mochte manche schwere Stunde durchlebt haben, welche bekanntlich nicht spurlos vorüber gehen. Auf der andern Seite konnte man in seinen Mienen unschwer eine ziemlich starke Empfindlichkeit lesen und bald wurde ich gewahr, daß der interessante neue Sträfling ein leicht reizbares Wesen an sich trug, wie sich das bei einem fein erzogenen Mann aus guter Familie, der in solche Lage geraten ist, leicht erklären läßt.
»Apotheker aus Breslau?« wiederholte ich mechanisch, und fragte dann erstaunt: »Aber, wie kommen Sie hierher?«
»Das werde ich Ihnen vielleicht später einmal erzählen, Herr Pastor. Ich bin wegen Betruges zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt.« Ich sah daß der Mann sich vorderhand mißtrauisch und ablehnend verhielt, und verzichtete darauf, weiter in ihn zu dringen, um nicht den Verdacht der Neugierde zu erwecken. Ich erkundigte mich beim Weggehen, ob er vielleicht einen Wunsch habe, den ich ihm erfüllen könne. »Bitte«, erwiderte er, »haben Sie die Güte, dem Aufseher zu bedeuten, daß er mich nicht mit »Du« anredet.«
Aus seinen Akten war nicht viel zu ersehen. Augenscheinlich hüllte er seine Vergangenheit in tiefes Dunkel. Die Gerichte wußten, daß er in Breslau geboren sei, von vermögenden Eltern stammte, die tot waren, in seiner Vaterstadt und in Berlin studiert und dann längere Zeit im Auslande gelebt hatte. Er muß zuletzt ein Hochstapler geworden sein, wie denn im Verzeichnis seiner Vorstrafen zu lesen stand, daß er aus der Schweiz ausgewiesen und mehrere Male in Deutschland wegen Schwindeleien bestraft worden war. Zuletzt hatte er in Neustadt, wo er sich für einen Professor ausgab, bei verschiednen Herrn Anleihen zu machen versucht, was ihm trotz seiner gewandten Verteidigung, welche das Staunen der Richter erregte, als rückfällig die obenerwähnte langjährige Zuchthausstrafe einbrachte. Ich erkannte bald an den Umgangsformen des Gefangenen, daß ich es mit einem feinen Weltmanne von ausgebreitetem Wissen, von vielseitigen Kenntnissen und Erfahrungen zu thun hatte. Steht es doch unerschütterlich fest, was so viele nicht einsehen wollen, daß die alleinige Ausbildung des Verstandes noch nicht die wahre Bildung erzeugt, daß jemand bei dem größten Wissen ein ganz roher Mensch sein kann, ja daß schon große Gelehrte zugleich auch große Halunken gewesen sind. Als ich des Mannes zurückhaltendes Wesen bemerkte, beschloß ich sofort, nichts zu thun, was demselben aufdringlich erscheinen konnte, sondern ihn vielmehr herankommen zu lassen. Ich begegnete ihm höflich und freundlich, und wartete ab, ob er Vertrauen zu mir gewinnen werde oder nicht. Jede andere Behandlungsweise hätte denselben für immer abgestoßen und unzugänglich gemacht.
Wochenlang war das Verhältnis zwischen uns beiden ein recht kühles; er beobachtete und ich auch. Ich vermied geflissentlich jedes Wort, das er etwa als einen Bekehrungsversuch hätte deuten können. Auch nachdem der Aufseher ihn mit »Sie« anreden mußte, hatte er noch mancherlei zu klagen und auszusetzen. Er bekam ein warmes Unterkleid, und leichte Beschäftigung; was ihm gestattet werden durfte, wurde gewährt. In der Kirche und den Christenlehrstunden hörte er außerordentlich aufmerksam zu, allein auch er brachte lange nicht die Rede auf religiöse Gegenstände.
Ich halte es in und außer dem Hause für gut, das Christentum den Leuten nicht nachzuwerfen, sonst glauben dieselben, es sei nichts wert. Darnach habe ich von Anfang mein Verhalten in der Strafanstalt eingerichtet und nicht ohne Erfolg. Als Dietrich einsah, daß er in seiner traurigen Lage Gott nötiger brauche, als Gott ihn, als ich nicht so aussah, als ob mir das Herz entzwei breche, wenn er mich mit seinem Vertrauen nicht beehrte, machte er sich herzu.
Das erste, was er verlangte, war ein griechisches Testament, das er mit großem Eifer ohne Schwierigkeit las. Er war in seiner Zelle, in welcher er bleiben durfte, mit Dütenmachen beschäftigt, und stand im Sommer lieber einige Stunden früher auf, um nach Erledigung seines Tagespensums desto länger studieren zu können. Mit einer gewaltigen Thatkraft bestrebte er sich, einen von ihm entworfenen Studienplan innerhalb seiner Strafzeit zu vollenden. Das Englische und Französische beherrschte er vollständig, in das Lateinische und Griechische hatte er sich bald wieder eingearbeitet. So las und übersetzte er die wichtigsten alten Schriftsteller, selbst den Plato und Schriften von Aristoteles, Horaz, Tacitus, Vergil, und Stücke von Cicero; dann wagte er sich an die mittelalterliche Litteratur, Nibelungen und Kudrun im Urtext, an Dante, Shakespeare und Cervantes; auch meinen katholischen Kollegen hat er manchmal um Bücher angegangen. Weiter durchforschte er eine Anzahl von Geschichtswerken, aus denen er Auszüge machte. Am eingehendsten widmete er sich der Naturwissenschaft und Philosophie. Er verschlang und verarbeitete Descartes, Spinoza, Leibnitz, Kant und Fichte, und ich besitze einen schönen Band von Auszügen aus diesen, meistens schwierigen Schriftstellern, in deren Verständnis er mehr und mehr eindrang. Ich habe manches interessante und eingehende Gespräch mit ihm über solche Fragen, namentlich über die Auffassung des Kant'schen »Dinges an sich«, einen der dunkelsten Punkte in diesem System, gehabt. Ohne Zweifel war er ein klarer, rastloser Denker, der es verstand, sich allmählich aus seinen wissenschaftlichen Errungenschaften einen geistigen Organismus zu bilden. Nicht wenige Mühe verursachte es mir, ihm die nötigen naturwissenschaftlichen Werke, namentlich solche über Chemie, zu verschaffen. Ich besitze eine ziemliche Anzahl von Abhandlungen aus seiner Feder über einzelne Gegenstände der Chemie, die er wahrscheinlich später zu öffentlichen Vorlesungen oder zum Unterricht an irgend einer Anstalt benutzen wollte. – Auch über religiöse Fragen sprach er öfters und ich gewahrte, daß er die christliche Anschauung mit seinen wissenschaftlichen und philosophischen Ergebnissen in harmonische Verbindung zu bringen suchte.
Schon nahte das Ende seiner Strafzeit und nur ein einziges Mal hatte er von seiner Vergangenheit geredet. Er hatte sich in den glänzendsten Kreisen der hohen Gesellschaft bewegt, das Laster in seiner lockendsten und das Elend in seiner schauerlichsten Gestalt gesehen. Und infolge dieses Lebens war er nun früh ein Greis geworden und namentlich im letzten Strafjahre entsetzlich abgemagert. Er bekam Krankenkost, Bier und Kaffee, allein sein Magen versagte endlich den Dienst.
Was sollte der gänzlich Verlassene am Tage der Freiheit beginnen?
Er hatte einen einzigen Freund, aber dieser lebte in England und zwar in hoher Stellung. In seiner jetzigen Verfassung wollte er sich ihm nicht vorstellen. Wenn er vorübergehend in einem größern Geschäfte die auswärtige Korrespondenz führen würde, hoffte er bald wieder zu Kräften zu kommen und mit einigen Ersparnissen die Reise antreten zu können. Er war sicher, daß ihm sein Freund in England eine Stelle als Lehrer an irgend einer Anstalt verschaffen werde. Ich sorgte auch für ein Unterkommen, wo er einige Monate bleiben konnte, und so war er über die nächste Zukunft einigermaßen beruhigt. Allein seine Körperkräfte nahmen trotz seiner täglichen Spaziergänge sichtlich ab; ich riet ihm einige Tage in das Spital zu gehen, wo er sich am besten zur bevorstehenden Reise erholen könne. Er folgte mir, nahm aber noch das Abendmahl und setzte mich zum Erben seiner Schriften ein, wenn er das Spital nicht mehr verlassen sollte.
Der letzte Tag seiner Gefangenschaft nahte heran; vor seinem Bette lagen seine Kleider, auf dem Tische seine Manuskripte, die er sorgfältig hütete. Sein Angesicht war vor Freude verklärt, ich bin überzeugt, er hatte gute Vorsätze und Absichten.
Am andern Morgen verkündete mir der Spitalwärter, als er frühe erwacht sei, habe er Dietrich tot im Bette gefunden. Ich eilte hinauf und stand lange in wehmütigen Gedanken vor dem Verlebten, der hier enden sollte. Das Antlitz war friedlich, es sah aus, als habe er in der letzten Nacht von einer schönen Zukunft geträumt.