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Im Dezember des Jahres 1870 gewahrte ich von meinem Zimmer aus, daß die Hofarbeiter plötzlich zu arbeiten aufhörten, sich zusammenstellten und unverwandt nach dem Thor des Zuchthauses hinblickten. Es war ein Jahr der Aufregung, in dem sich fast jeden Tag Unerwartetes ereignete. Ich vermutete mit Recht, daß eine ungewöhnliche Erscheinung die Aufmerksamkeit der Leute auf sich ziehen müsse, denn als ich vor die Thüre trat, wurde von zwei Gendarmen ein hochgewachsener, stattlicher Mann von militärischer Haltung und in einer Kleidung, von der wenigstens die Hosen zu einer Uniform zu gehören schienen, vorübergeführt. Meine Vermutung, daß der Gefangene mit dem gegenwärtigen Kriege in irgend welchem Zusammenhang stehe, erwies sich als irrig, aber derselbe war, wie sich später zeigte, doch eine so ausgesprochene Charakterfigur, daß er es wohl verdient, dieser Sammlung einverleibt zu werden.
Sehen wir uns seinen Lebensgang etwas näher an, so weit er sich aus den Akten und seinen eignen Mitteilungen zusammenstellen läßt. Leonhard Bollert ist nach seiner Angabe im Jahre 1821 in Zweibrücken geboren, wo sein Vater als Wachtmeister bei dem fünften Chevauxlegersregiment diente. Dieser verließ bald darauf den Militärdienst, ehelichte die Mutter des Knaben und zog mit beiden nach seiner Heimat, einem Städtchen in Unterfranken, wo er sich als Viktualienhändler ernährte. Der begabte Knabe wurde zu einem Schuhmacher in Würzburg gethan, wo er sein Handwerk gründlich erlernte. Nachdem er in demselben Regimente, wie sein Vater, sechs Jahre gedient hatte, ging er in die Fremde. Damit begann ein Abenteurerleben, das nahezu vierzig Jahre gedauert hat. Wegen einer Unterschlagung bei einem Meister wurde er zur Gefängnisstrafe verurteilt, die er in Würzburg abbüßen mußte, das damals eine wahre Hochschule für Verbrecher gewesen zu sein scheint. Nun passierte er der Reihe nach mit längeren oder kürzeren Pausen die Zuchthäuser Plassenburg, Kaisheim, Lichtenau, Diez in Nassau, das Korrektionshaus in Mainz und die hessische Strafanstalt Marienschloß. Überall erwarb er sich durch seine Anstelligkeit und seine tüchtige Kenntnis der Schuhmacherei Anerkennung und guten Verdienst.
Wie er die Pausen ausgefüllt hatte, konnte nicht ganz aufgehellt werden. Einmal diente er – und das mag seine Glanzperiode gewesen sein – bei einem ungarischen Grafen, mit dem er große Reisen machte. In dieser Schule wird er wohl seine feinen Manieren und sein aristokratisches Gebühren angenommen haben. Wie er nach halbjährigem Beisammensein mit dem Magnaten auseinanderkam, ist nicht klar. Vermutlich wird die Börse seines Herrn mit der seinigen durcheinander geraten sein. – Von einem gelungenen Abenteuer pflegte Bollert im engsten Kreise gerne zu erzählen. Er trat nämlich einmal in Wiesbaden als österreichischer Offizier und Baron auf und wurde von dortigen Offizieren sehr gefeiert. Von jener Zeit rührten auch die Militärbeinkleider, in denen er eingebracht wurde. Auch an einem Kreuzzuge beteiligte er sich; er ließ sich nämlich bei der päpstlichen Armee anwerben; doch dauerte die Herrlichkeit nicht lange, da besagte Armee ein Vierteljahr später gefangen und aufgelöst wurde. Bollert war auch dem weiblichen Geschlechte nicht abgeneigt und scheint als sehr schöner Mann große Erfolge errungen zu haben, wie er nicht undeutlich zu verstehen gab.
In der letzten Unterbrechung von 1870 trieb er das Geschäft als Einbrecher und Hochstapler im Großen. Der Schauplatz seiner Thätigkeit erstreckte sich von München bis an den Rhein. Er fuhr in verschiedenen Kleidungen, ja mit falschen Bärten; er besaß die vollständige Uniform eines bayerischen Oberkondukteurs, in welcher er einmal bis Bingen kam, ohne ein Billet nötig zu haben. In Frankfurt, Würzburg, Heidelberg, Darmstadt, Nürnberg, Augsburg machte er mit großer Keckheit die Wohnungen und Zimmer ausfindig, deren Bewohner verreist oder ausgegangen waren, öffnete sie mit falschen Schlüsseln und nahm alles Wertvolle mit. In Frankfurt wurde er einmal verhaftet, allein es gelang ihm, aus dem dortigen Untersuchungsgefängnis auszubrechen. In Würzburg griff man ihn wieder, worauf ihn das Schwurgericht zu dreizehn Jahren Zuchthaus verurteilte, die er in K. zu erstehen hatte.
Niemand sah Bollert den gefährlichen und verwegenen Einbrecher an. Er war trotz seiner einundfünfzig Jahre noch eine schöne gewinnende Erscheinung und wußte sich auch in den Sträflingskleidern fein genug zu bewegen. Sein Gesicht hatte etwas sanftes, seine Rede war nicht kriechend, sondern höflich und gewinnend, sein Gebühren gegenüber den Beamten nicht unterwürfig, aber gefällig und anständig. Die Beamtenfrauen, denen er als Oberschuster das Maaß nahm, wurden nicht müde, die Eleganz seiner Verbeugungen zu rühmen und interessierten sich für die Lebensgeschichte des einnehmenden Sträflings. Die Magd des Erzählers konnte sich gar nicht fassen vor Bewunderung des vornehmen Mannes, der ihr im Zuchthause die Schuhe angemessen habe. Bald thronte er auch bei uns als Leiter der Schusterei, besorgte die Ledereinkäufe zur Zufriedenheit des Anstaltsvorstandes, und schnitt die schönsten und bequemsten Schuhe zu, welche die Beamten jemals getragen haben.
Im Gotteshause – er war katholisch – wußte er sich bald zum Dienst des Meßners aufzuschwingen und versah denselben mit einem heiligen Ernst und einer unnachahmlichen Würde, wie sie an einem Sträfling noch nie in diesen Räumen beobachtet worden war.
Gegenüber den übrigen Gefangenen verhielt er sich ablehnend; er war und blieb der »Gentleman«, weshalb jene auch nie anders von ihm, als vom »Herrn Bollert« redeten. Er ließ sich in keine Bübereien und keine Unterschlagungen ein, er verriet nichts und niemanden, wie das sonst in oft so verächtlicher Weise in den Gefängnissen vorkommt, er sprach unverholen seine Verachtung über das Gebahren vieler seiner Schicksalsgenossen aus, ohne daß ihm einer entgegenzutreten wagte. Kam er zu einem Beamten ins Haus und erhielt ein Glas Wein oder Bier, so konnte dieser sicher sein, daß er kein Wort davon gegen irgend jemand erwähnte.
Wie ist es möglich, daß Menschen ihr Verhalten, man könnte fast sagen, ihren Charakter auf Jahre hinaus so gänzlich ändern, um dann, des Zwanges ledig, wieder in das alte gefährliche Treiben zurück zu fallen?
Bollert verbrachte seine dreizehn Jahre im Zuchthaus, wurde etwas bleicher und älter, behielt aber seine aufrechte, elegante Haltung. Was aus ihm geworden, weiß ich nicht, wir haben nichts zuverlässiges mehr von ihm gehört. Vor seinem Weggange schenkte ich ihm einen alten Winterüberzieher, den er hübsch herrichten ließ und mit solcher Grandezza trug, daß ein Bekannter den Oberaufseher, welcher Bollert an die Eisenbahn geleitete, fragte: War das nicht der Herr Oberstaatsanwalt?