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Im Zuchthause zu K. ist der Schnupftabak das einzige Genußmittel.
Der Sträfling Friedrich Rieß aus Arzberg in Oberfranken bat mich sprechen zu dürfen, da er sich vor seiner Entlassung von mir verabschieden wolle. Der Aufseher brachte einen Burschen, dessen Erscheinung sofort jedem auffallen mußte. Der ziemlich unansehnliche Mensch bestand aus nichts mehr, als aus dem Gerippe, das von einer gelblichen, faltigen Haut überzogen war. Kurze struppige Haare bedeckten den Schädel, seine braunen Augen blickten spähend umher, und unter denselben ragte eine ungeheuere Nase in die Lüfte. Selten habe ich noch einen solchen Zinken in einem menschlichen Angesicht gesehen; durch dessen Magerkeit wurde die Erscheinung nur um so erschrecklicher. Sie glich einer großen Feige, das heißt, sie wurde nach unten immer dicker und sah einer solchen in halbreifem Zustande, auch was Farbe betrifft, nicht unähnlich.
Der Bursche war mir schon lange durch sein schlechtes Aussehen aufgefallen, aber er hatte mir auf Befragen immer ausweichende Antworten gegeben. Beim Hausarzte ließ er sich nicht sehen, auch lag er nie im Spital, er mußte also, wie die Leute zu sagen pflegen, »von Herzen« gesund sein. Da er sich gut betragen hatte, suchte ich beim Abschied, wo für ihn nichts mehr zu befürchten stand, hinter die Wahrheit zu kommen. »Rieß,« sagte ich, »jetzt gesteht mir einmal, warum ihr körperlich so entsetzlich heruntergekommen seid. Ihr wart nicht krank, und besteht doch nur noch aus Haut und Knochen.«
»Jetzt kann ich es Ihnen sagen, Herr Pfarrer,« lautete die Antwort; »es hat mir allerdings nie etwas gefehlt, und ich werde draußen wieder zu Fleisch kommen, allein ich bin halt ein leidenschaftlicher Schnupfer!« Ich blickte unwillkürlich nach der ungeheuern Nase, in welcher eine ganze Dose Platz gehabt hätte und mußte lächeln bei dem Gedanken: Es wäre auch Schade für das schöne Lokal, wenn das unbenutzt bliebe! – »Ja, aber Rieß, wie hängt denn Eure Leidenschaft für das Schnupfen mit der Magerkeit zusammen? Ich habe doch noch nie gehört, daß man vom vielen Schnupfen mager wird?« – »Sie müssen wissen, Herr Pfarrer, daß ich während der vier Jahre, die ich hier zubrachte, kein einziges Mal mein Fleisch gegessen habe.« –
»Warum nicht?«
»Ei, ich habs verhandelt, weil ich nicht genug Schnupftabak für meinen Bedarf bekam.« –
»Ich hätte nicht geglaubt, Rieß, daß ihr ein solcher Knecht Eurer Leidenschaft wäret. Bei dem vernünftigen Menschen kommt doch der Magen vor der Nase.« – »Der Tabak,« sagte er, »ist eben das Einzige, was man in einem solchen Hause hat.«
In der That ist der Tabak das einzige Genußmittel im Zuchthause und spielt deshalb darin eine unglaubliche Rolle. »Geld regiert die Welt« kann man mit Recht behaupten, »und Tabak das Zuchthaus«. Der Vorstand einer solchen Anstalt besitzt im Schnupftabak, dessen Bewilligung und Verweigerung ihm zusteht, ein ganz gewaltiges Mittel, um Fleiß und Gehorsam zu erzwingen. Der wildeste Bursche, den kein Arrest zu bändigen vermag, läßt bald den Kopf hängen, wenn ihm der Tabak entzogen wird, und der trägste Tagedieb klopft fieberhaft auf seinen Webstuhl, um sein Pensum und damit den in Aussicht gestellten Schnupftabak zu erlangen.
Wenn der Sträfling in Begleitung seines Aufsehers etwas in der Stadt oder am Bahnhofe zu besorgen hat, kann ihm nichts glücklicheres begegnen, als wenn er auf einen Cigarrenstumpf stößt: seine Augen leuchten, blitzschnell bückt er sich, und ebenso rasch ist der unschätzbare Fund in seiner Seitentasche verschwunden. Es kam schon vor, daß zwei zu gleicher Zeit den lockenden Gegenstand entdeckten und daß zwischen ihnen eine heftige Prügelei entstand, obschon sie eben noch Freunde auf Leben und Tod waren. In einem ruhigen, ungestörten Augenblick wird dann der Stumpf mit Verstand genossen. Der Sybarit kaut denselben zuerst gründlich, dann raucht er die Masse und die Asche wird schließlich geschnupft: damit ist der Kelch der Freude dann bis auf die Hefe geleert. Als Nachspiel kommt dann unter Umständen noch eine Strafe, wenn nämlich ein neidischer Leidensbruder den unvorsichtigen Schwelger im Interesse der verletzten Rechtsordnung anzeigt.
Ein Zuchthaus ist eine Welt im Kleinen; innerhalb seiner hohen Mauern entwickelt sich ein eigner Geist, eine eigene Welt- und Lebensanschauung, eigene Ansichten von Recht und Unrecht, Ehre und Schande. Die Leidenschaften sind ebenso gut vorhanden wie draußen, nicht minder die Sinnlichkeit und Genußsucht; aber sie dienen anderen Herren und jagen anderen Zielen nach. Der höchste Genuß, der kostbarste Besitz ist der Tabak, er ist das allgemeine Tauschmittel, der allgemeine Wertmesser. Der genußsüchtige Sträfling, der Knecht seiner Leidenschaft sieht alles nur darauf an, ob er es etwa gegen Tabak umsetzen kann, jeder Gegenstand hat für ihn nur so viel Wert, als er Tabak dafür bekommt.
Ein vernünftiger Mensch, der sich zu beherrschen weiß, hätte mit dem Quantum Schnupftabak, daß jedem ordentlichen Sträflinge gereicht wird, vollständig genug, allein die Leidenschaft hat ja nie genug, und so erhebt sich im Zuchthaus die Nase zum vornehmsten aller menschlichen Glieder und es blüht dort, abweichend von allen bekannten Götzendiensten, der Kultus der Nase.
Was der Leidenschaft an Tabak fehlt, muß die List herbeizuschaffen suchen, entweder von Außen oder aus dem Hause selbst. Da steht hinter dem Hause ein Soldat auf der Wache, den dieser oder jener Sträfling kennt: er ist aus seinem Dorfe. Er sucht mit demselben Verbindung anzuknüpfen, er spricht mit ihm in der Nacht aus dem Zellenfenster und hält so lange an, bis der Mitleidige ihm da und dort ein Päckchen Tabak zusteckt. Manchmal entwickelt sich daraus auch ein Tauschhandel; der Soldat erhält für seine Bemühung Fabrikate der Zuchthausarbeit und schon mancher arme Teufel, der dieser Versuchung nicht zu widerstehen vermochte, ist so unversehens selbst hinter Schloß und Riegel gekommen.
Oder es fährt ein Fuhrmann öfters Kohlen und dergleichen in das Haus, oder irgend ein Geschäftsmann läßt drinnen arbeiten, oder es werden allerlei Bedürfnisse für die Anstalt in seinem Laden in der Stadt bezogen, da bleibt es nicht aus, daß er, nach einiger Sondierung über die Weite seines Gewissens, um Tabak angegangen wird, eine Bitte, der ebenfalls mancher nicht zu widerstehen vermochte.
Allein der Vorrat, der auf diese Weise beigeschafft wird, reicht nicht aus, es entwickelt sich unter den Sträflingen selbst ein natürlich verbotener, aber trotzdem sehr reger Tauschhandel um diesen kostbaren Artikel. Jeder Tabakschnupfer befindet sich im Besitze eines kleinen weißen Löffelchens aus Horn oder Knochen; eines ist natürlich so groß wie das andere, denn das ist ja das allgemein giltige Maß bei dem lebendigen Verkehr. Der Wert des Tabaks richtet sich selbstverständlich nach Angebot und Nachfrage. Sind viele leidenschaftliche Tabakschnupfer vorhanden, aber wenige, die Fleisch und Brot kaufen, so steigt der Tabak im Wert; ist die Zahl der Schnupfer klein, dagegen die der Fleischkäufer groß, so fällt der Tabak im Wert. Das heißt: Heute steht auf der Tabakbörse die Sache so, daß man für sechs Löffelchen Tabak eine Portion Fleisch, oder für drei Löffelchen eine Portion Brot erhandeln kann. Nun drängen sich aber plötzlich mehr Schnupfer hinzu, bieten ihr Fleisch und Brot an, dann wird der Tabak im Preise steigen, die Lebensmittel dagegen gehen im Werte herab. Man muß schon zwei Portionen Brot für drei Löffelchen Tabak bieten, und erhält nur vier Löffelchen für die Portion Fleisch.
Selbstverständlich giebt es im Zuchthaus auch Menschen, die vermöge der stärkern Leidenschaft der Habsucht die schwächere der Genußsucht unterdrücken und die Schwäche des Nächsten gehörig ausbeuten: es sind die Tabakswucherer. Es finden sich einzelne, die sich von dem Anstaltsvorstand den Schnupftabak gestatten lassen, nicht um ihn zu konsumieren, sondern nur zu dem Zwecke, um dafür die Lebensmittel der anderen zu erhandeln und die eigene Gesundheit mehr zu befestigen. Dieselben gehen ebenso raffiniert vor, wie die Geldwucherer, leihen gegen hohe Prozente, strecken vor, kurzum sie ziehen ihre Netze mit teuflischer Schlauheit um ihre Opfer. Dafür sind sie auch ebenso verhaßt, wie der Wucherer und führen mit vollem Recht im Hause den Namen » Blutsauger«.
Im Zuchthause und außer demselben, überall schwingt der Tyrann Sinnlichkeit seine Peitsche über seine Knechte, überall setzt er seine Füße gebieterisch auf den Nacken derer, die nicht »Ritter vom Geiste« sind. Draußen tanzen sie um das goldene Kalb, drinnen liegen sie anbetend vor dem Götzen Tabak auf dem Bauche. Einen seiner eifrigsten Anbeter habe ich in dem obengenannten Friedrich Rieß den Lesern vorgestellt.