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II.
Der Verbrecher


I.
Die Heuchlerin

Weit schwieriger ist die Arbeit des Geistlichen in einem Zuchthaus für Frauen, als in einem solchen für Männer. Hier hat er es mehr mit Rohheit, Brutalität und sittlicher Verkommenheit zu thun, dort steht er vor einem Abgrund von List und Bosheit, von Ränkesucht, Lüge und Verstellung. Der Mann giebt sich meistens wie er ist, ja er prunkt manchmal mit seiner Verdorbenheit und Schlechtigkeit, das gesunkene Weib will dagegen anders scheinen, als es ist, es spielt, seltene Fälle ausgenommen, mit großem Geschick irgend eine Rolle. Deswegen mußte ich schon oft unwillkürlich das Männerzuchthaus mit einer Menagerie, das Weibergefängnis mit einem Schauspielhaus vergleichen.

Ich war sechsundzwanzig Jahre alt, als ich meine amtliche Wirksamkeit in K. begann. Bei meinem ersten Rundgang in den Zellen des Frauenzuchthauses traf ich eine Insassin, die den Kopf auf den kleinen Tisch aufgelegt hatte und bitterlich weinte. Sie that, als ob sie meinen Eintritt überhört hätte, hob aber, als ich: »Guten Morgen« sagte, langsam das Haupt und sah mich mit sanften, thränenumflorten braunen Augen eine Zeit lang wie versteinert an. Sie mochte eine Frau von etwa fünfzig Jahren sein und trug noch Spuren von früherer großer Schönheit an sich.

»Ich bin Euer neuer Pfarrer,« sagte ich, »wie heißt Ihr?«

Sie strich sich mit der Hand über die Stirne, als ob sie einen Schleier von dem Gesichte wegziehen oder einen bösen Traum wegwischen wollte. Dann erhob sie sich mit großem Anstande und sagte: »Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer, daß ich Sie nicht bemerkt habe, ich war in meine Vergangenheit vertieft. Ich danke Ihnen, daß Sie so gütig sind, zu einer armen Sünderin zu kommen, wie ich eine bin.« Sie faßte meine Hand, die ich aber rasch zurückzog, als ich merkte, daß sie dieselbe küssen wollte.

»Ich habe eine Bitte an Sie,« fuhr sie weiter, »sagen Sie zu mir nicht »Ihr«, sondern »Du«, eine so tief gefallene Kreatur verdient es nicht anders.«

»Das geht nicht an,« erwiderte ich, »ich spreche eine Gefangene an wie die andere und mache keinen Unterschied. Auch pflege ich nur zu solchen Personen »Du« zu sagen, die mir ganz nahe stehen. Doch möchte ich jetzt Euren Namen wissen.«

»Ursula Pfeiffer, Herr Pfarrer.«

»Gut, ich werde Eure Akten ansehen und dann wollen wir am nächsten Male über Eure Vergangenheit sprechen.«

»Ich gestehe Ihnen, Herr Pfarrer, daß ich die größte Sünderin im ganzen Hause bin, aber ich freue mich, daß ich in diesen Mauern endlich Frieden gefunden habe.«

Ich entfernte mich kopfschüttelnd. Das Verhalten der Frau war scheinbar ein aufrichtiges und machte einen tiefen Eindruck. Sehr gespannt war ich deshalb auf die Akten. Da stand denn folgendes zu lesen:

Anna Ursula Pfeiffer, geboren 1813 zu Zirndorf bei Nürnberg, wegen Diebstahls im Rückfalle zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Wurde in den Jahren 1838 bis 1863 einundvierzigmal wegen Prostitution, Vagierens und Diebstahls bestraft.

»Einundvierzigmal«, wiederholte ich mechanisch, indem ich den Bündel zuschlug. »Dann wirds mit der Frömmigkeit nicht weit her sein,« dachte ich bei mir, »da heißt es die Augen aufgemacht. Indessen scheint es doch in psychologischer Hinsicht eine interessante Person zu sein. Sie muß mir später ihren Lebenslauf erzählen.«

Bei den nachfolgenden Besuchen verhielt sie sich sehr zurückhaltend, sie hatte augenscheinlich sofort erkannt, daß sie die Farben nicht zu dick auftragen dürfe. Sie bewegte sich in ihrer Rolle mit erstaunlicher Sicherheit und Gewandtheit, so daß sie mir in gewisser Hinsicht bis heute ein Rätsel geblieben ist. Nach einigen Wochen erzählte sie mir ihre Lebensgeschichte, einfach und ohne Floskeln; auch aus ihrer Darstellung ersah ich, daß ich eine Frau von außergewöhnlichen Geistesgaben vor mir hatte.

Ihre Eltern waren arme Leute gewesen, die sich ehrlich ernährten und ihre Kinder redlich großzogen. Sie hielten nicht wenig auf ihre Ursula, die in der Schule immer oben saß. Allein ihre Geistesgaben und ihre Schönheit wurden ihr Fluch. Sie kam in ein reiches Judenhaus nach Fürth, wo sie fleißig Liebesgeschichten las und sich endlich vom ältesten Sohne des Hauses verführen ließ. Als sich die Folgen dieses Verhältnisses nicht mehr verheimlichen ließen, verleugnete sie ihr Liebhaber, der ihr vorher die Heirat versprochen hatte und dessen Eltern warfen sie schmählich vor die Thür. Sie zog nun nach Nürnberg und begann dort ein flottes Leben, indem sie sich von den Söhnen vornehmer Familien unterhalten ließ. Hie und da wurde die Herrlichkeit durch die Polizei unterbrochen, welche auf Anzeige der erschrockenen Eltern nach der bestrickenden Verführerin griff. Sie hatte auch einmal ein solches Verhältnis mit einem jungen Staatsanwalt und da begegnete es ihr, daß sie dieser in öffentlicher Sitzung entsetzlich heruntermachte, ihr alle mögliche, sehr wenig schmeichelhafte Beinamen gab und schließlich ein Jahr Gefängnis für sie beantragte. Sie sei, erzählte sie, ganz starr vor Entsetzen dagesessen und bei seinem Antrage ohnmächtig von der Bank gesunken. An Geld fehlte es ihr damals nicht, sie konnte ihrer Lesewut fröhnen und ihre Putzsucht befriedigen und weiter wünschte sie nichts. Auch ihrer alten Mutter schickte sie einmal Geld; als diese aber nach Nürnberg kam und den wahren Sachverhalt durchschaute, warf sie ihr das Sündengeld vor die Füße und verließ mit einem Fluche das vornehme Gemach. Als die Schönheit aufhörte, hörten auch die schönen Tage auf. Sie kam in immer geringere Hände und sank zur Straßendirne herab. Die Betrügereien und Strafen mehrten sich, zuletzt zog sie mit einem entlassenen Sträfling umher, welcher sie jedesmal am Gefängnisthor abholte, worauf dann wieder ein gemeinschaftlicher Raubzug begann, der schließlich auch wieder am Gefängnisthor endigte.

Ich beobachtete die Büßerin aufmerksam, behandelte sie aber mit gleichmäßiger Ruhe, ohne ihr Mißtrauen zu zeigen. Einige Male benutzte ich den sonntäglichen Text, um stark gegen die Heuchelei loszuschlagen. Trotzdem bemerkte ich keine Veränderung, immer dasselbe demütige, zerknirschte, niedergeschlagene Wesen. Sie bat um die Erlaubnis, die Predigten auf ihrer Schiefertafel nachschreiben zu dürfen, wogegen ich nichts einzuwenden hatte. Ich erstaunte nicht wenig, daß sie die ganze Predigt wortwörtlich zu behalten und wiederzugeben wußte. Ich nahm einige Male ihre Tafel mit und verglich ihre Nachschrift mit dem Original, es fehlte kein Wort! Was hätte aus dieser Frau werden können, wäre sie in einer vornehmen Familie oder gar in einem Palaste geboren worden! Man hätte vielleicht Bücher über sie geschrieben und ihr segensreiches Wirken; vielleicht wäre sie auch selbst eine gepriesene Schriftstellerin geworden!

Als die Zeit kam, wo ihre Einzelhaft zu Ende ging und sie in den Saal versetzt werden sollte, bat sie den Anstaltsvorstand dringend, man möge sie ihre ganze Zeit in der Zelle belassen, da sie sich in der Einsamkeit wohler fühle, eine sehr seltene Bitte in einem Weiberzuchthaus. Ihr Gesuch fand Gewährung und sie setzte ihr Klosterleben länger als zwei Jahre fort. Als dann die Stelle als Krankenwärterin frei wurde, erhielt sie diese und hat, wovon ich mich oft überzeugte, die Kranken mit großer Liebe und zugleich auch der notwendigen Thatkraft behandelt. Kurzum, sie betrug sich straflos, musterhaft, gab sich nirgends eine Blöße und ging unter vielen Beteuerungen des Dankes und Versprechungen der Zukunft von dannen. Ich sprach da noch ein ernstes Wort mit ihr in der Kirche; ich sagte ihr, ich könne nicht wissen, ob es ihr mit dem Christentum Ernst sei, Gott wisse es und sie. Ich hätte mich deshalb auch jeden Urteils enthalten, aber jetzt komme die entscheidende Zeit. Wenn ich Gutes von ihr vernehme, dann würde ich sagen: Die Pfeiffer hats ernst gemeint, sie ist keine Heuchlerin gewesen!

Es dauerte keine paar Monate, da wurden von einem jenseitigen Gerichte die Akten der Anna Ursula Pfeiffer abverlangt, die wegen Betruges und Diebstahls verhaftet sei. Sie erhielt wieder einige Jahre Zuchthaus und ist schließlich auch im Zuchthaus gestorben.

Sie war also doch eine Heuchlerin, für die ich sie immer angesehen, ohne eigentlich einen Beweis in der Hand zu haben. Es giebt ja keinen wahrern Ausspruch als den: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Jeder fühlt einen gewissen Abstand zwischen seinem Wollen und seinem Können; jeder strebsame, tüchtige Mensch weiß, daß die Pläne immer besser gelingen, als ihre Ausführung und daß er stets weit hinter dem zurückbleibt, was er sich zu erreichen vorgenommen hat. Ganz genau so verhält es sich mit der sittlichen Arbeit an dem eigenen Innern; aber das ist doch etwas ganz anderes, als wenn die That in direktem Gegensatz zu dem Worte steht! So armselig darf es mit der sittlichen Kraft eines Christen nicht bestellt sein, daß er nicht in seiner inneren Entwickelung fortschreitet. Er kann schwache Stunden haben, aber daß er regelmäßig in das Zuchthaus wandern und regelmäßig bis zum Tode in das alte Treiben zurückfallen sollte, ist unmöglich. Hier haben wir es mit einer jammervollen, bedauernswerten Schwachheit des Willens zu thun, die innerhalb der Gefängnismauern, der äußeren Unfreiheit mit dem schimmernden Gewande des Christentums bedeckt werden soll. Ich glaube deshalb, daß mein Urteil, wie ich es über dieses Bild geschrieben, kein zu hartes gewesen ist.

Aber kunstreicher, natürlicher hat wohl selten ein Mensch das Christenwesen nachgeahmt und dargestellt, als diese Frau. Man kann sogar sagen, daß ihr die Heuchelei zuletzt zur zweiten Natur geworden war. Das, was man Charakter nennt, giebt es ja auf dem Gebiete des Bösen nicht, denn er ist die richtige geistige Durchbildung der gesamten menschlichen Individualität. Allein wie der Teufel der Affe Gottes genannt wird, so giebt es auch eine Art von Charakter bei besonders begabten bösen Individuen, denen es gelingt, ihr Inneres nach gewissen Grundsätzen zu organisieren und in bewußt gottwidriger Weise durchzubilden. Das sind dann die gefährlichen Menschen, in welchen die Selbstsucht und der Gotteshaß zu einem System geworden ist und welche planmäßig im Kampfe gegen das Gute vorgehen oder wenigstens demselben trotzen. Ich überlasse dem Leser, zu beurteilen, inwiefern die dargestellte Frau als planmäßige Heuchlerin der Klasse der höher entwickelten Bösen angehört habe.

Ich möchte nun nicht, daß diese Darstellung die oft gehörte Ansicht bestärkte, als ob in einem Zuchthause nur trotzige Gottlosigkeit auf der einen und widerwärtige Heuchelei auf der andern Seite zu finden sei. Ich kann getrost versichern, daß dem nicht so ist, selbst nicht in einem Weiberzuchthause.

Ich wüßte dafür so manches Beispiel anzuführen, das ich selbst erlebt habe und das mir hohe Freude bereitet hat. Welcher Hausgeistliche möchte sonst auch nur ein einziges Jahr in einer solchen Anstalt wirken? Ich schreibe aber diese Bilder nicht, um zu zeigen, welche Einwirkung das Christentum auf den Gefallenen übt, sondern um warnend nachzuweisen, welche Zerrbilder und Karikaturen die Sünde auch aus hochbegabten Menschen mit der Zeit macht.


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