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Die kleine Frau Pastor konnte mit ihren sieben Kindern und all der Arbeit in Haus und Garten, wozu sich auch noch der stattliche Hühnerhof gesellte, gar nicht mehr fertig werden. Unter uns gesagt: das Sprichwort, welches die Pastorkinder im allgemeinen nicht als die artigsten rühmt, paßte vollkommen aus die muntere Schar. Es kam auch noch dazu, daß Pastors so liebe, nette Menschen waren, die nicht nur von den Amtsbrüdern und ihren Familien so oft wie möglich ausgesucht wurden, sondern auch von uns Landwirten aus der ganzen Umgebung.
Da wuchs der lieben Frau Pastor die Sache schließlich so über den Kopf, daß sie sich entschloß, nicht etwa eine Stütze zu nehmen, nein, dazu war man früher nicht so schnell bei der Hand, aber eine Näherin allwöchentlich für einen Tag ins Haus zu holen. Da war die Mine Kübler, ein stilles, braves Mädchen, die mit ihrer Mutter in einem kleinen Häuschen draußen vor dem Dorfe hauste und eines etwas schleppenden Fußes halber die »lahme Mine« hieß. Durch dieses Leiden, welches sie an kräftiger Bauernarbeit hinderte, war Mine Kübler zur Näherin eigentlich prädestiniert; Geschmack und Geschick besaß sie auch, und so war ihr Los, trotz des damals geringen Verdienstes, ein zufriedenstellendes. Das Häuschen nebst Garten und Kartoffelland gehörte der Mutter, die einst bessere Tage gesehen hatte, und die Ziege im Stall, die Hühner und einige im Giebel des Hauses nistende Tauben brachten den Frauen ihre bescheidene Notdurft und Nahrung. So war Mine, das hübsche, blonde Mädchen mit den feinen Zügen und der schmächtigen Gestalt, nicht gerade begeistert, als die Frau Pastorin mit ihrem Vorschläge herausrückte. »Ich hatt' mirs vorgenommen, ich wollte nich' mehr außer dem Hause nähen gehen,« sagte sie in ihrer ehrlichen, knappen Art. Die Pastorin ließ sich aber nicht gleich abweisen.
»Ach, versuchen Sie es nur, es wäre mir eine so große Hilfe, und wir werden uns schon miteinander einrichten.«
Mine schwieg, und die beschwörenden Blicke der Mutter, welche die Pastorin um alles in der Welt nicht verletzen wollte, halfen vorläufig gar nichts.
»Jedes Mädchen darf ich ja nicht ins Pfarrhaus bringen, mein Mann sagte mir: Die Mine Kübler ja, aber auf keinen Fall die Suse Lange mit der modernen Frisur und dem lauten Wesen. Aber wenn Sie nun einmal nicht wollen – – – –«
Da hatte die Pastorin den richtigen Trumpf ausgespielt, Mine gab ihre Zusage, allerdings in einer Form, welche die kleine Frau etwas überraschte:
»Na, meinethalben. Aus sechs Trübsalen wird er dich erretten und in der siebenten soll dich kein Unheil rühren, steht in der Bibel. Da will ich's versuchen.«
So wurden sie einig. Mine versprach alle Mittwoch von früh bis abends im Pastorhause zu nähen und bekam dafür Essen und Trinken sowie fünfzig Pfennige Honorar.
Die Pastorin nahm befriedigt Abschied von den Frauen, von Frau Kübler bis zum Pförtchen begleitet, während Mine ruhig weiter stichelte, als wäre nichts geschehen.
Nun brach eine neue Zeit im Pastorhause an. Die kleine Frau saß nicht mehr so viel am Nähtisch, sie sammelte alle größeren Flickereien für Mine auf, die dann an einem Tage in emsiger Arbeit Unglaubliches erledigte.
Sie war zuerst wortkarg und beinahe mürrisch, aber bald gewannen die Kinder ihr Herz, und unbeschadet ihres Fleißes nahm sie Teil an ihren Freuden und Leiden. Es machte sich dabei ganz von selber, daß sie erzieherisch wirkte, nie waren die Kinder so ruhig und artig, wie wenn Mine da war. Freilich hatte sie in ihrem stillen Leben ihren Gedanken immer freien Lauf lassen können und sich ihren Schatz von Märchen und Erzählungen in der Phantasie weitergesponnen. Da hörte man bei den bekannten Geschichten von Rotkäppchen, Schneewittchen und Dornröschen zuerst oft die tadelnden Ausrufe der Jungen: »So war's ja gar nicht, Mine,« oder gar der kleinen Else schluchzendes Stimmchen: »Verzähl 'doch richtig, Mine,« aber auch die ruhige Stimme der Gescholtenen: »Meine Geschichten erzähl ich, wie ich will, ihr könnt mir dann eure auch erzählen.«
Das war dann wohl auch der Hauptreiz für die Kinder, daß sie erzählen durften. Sie wurden sehr eifrig dabei, und eines half dem andern ein, wenn der Faden mal riß, aber es durfte immer nur eines sprechen, sonst hielt Mine sich die Ohren zu und sagte:
»Macht mich nich taub, sonst komm ich nich mehr.«
Das war ihre härteste Drohung, aber auch die wirksamste. Pastors haben manchmal gelauscht, wenn es gar so ruhig im Kinderzimmer blieb, das, neben dem Wohnzimmer liegend, an anderen Wochentagen immer einen lebhaften Tummelplatz bildete. Sie wollten sich doch überzeugen, ob Mine nicht Sachen erzählte, die den Kindern schaden könnten. Aber bald waren sie vom Gegenteil überzeugt, denn alle Unarten, welche die Kleinen ihr freimütig eingestanden, flocht sie zu Beispielen in ihre Erzählungen zusammen und verteilte Strafen und Belohnungen in einer schlichten Gerechtigkeit, die den kleinen Sündern imponierte. Oft schloß sie mitten in einer spannenden Geschichte und versprach, am nächsten Mittwoch das Ende zu erzählen, falls die Kinder den oder jenen Fehler in den kommenden Tagen unterlassen würden.
Habe ich nicht recht, wenn ich ihr ein erzieherisches Talent zuspreche? Aber Mine besaß noch eine andere Gabe, sie sah voraus, was aus den Kindern, die ihrem Herzen immer näher traten, werden würde. Der Herr Pastor, der manche Viertelstunde draußen im Witwenhäuschen verplauderte und auch Mittwochs gern mal mit der Pfeife aus seinem Studierzimmer zu den Kindern trat, erzählte mir folgendes: Er hatte der treuen Seele eines Tages von der Sorge erzählt, die ihm sein Ältester inbetreff mangelnder Wahrheitsliebe manchmal mache, da sagte die schlichte Mine, ohne den Blick von ihrer Arbeit zu heben:
»Das is nich so schlimm, Herr Pastor, der Rolf will schon die Wahrheit sagen, aber er sieht sie oft anders, als sie ist. Er wird sich mal später Geschichten ausdenken, viel schönere wie ich, und dann wird er sie drucken lassen, passen Sie mal auf.« Der geistliche Herr war ganz perplex und hat den Jungen darauf hin anders angefaßt, mit bestem Erfolg, denn »was der Verstand der Verständigen nicht sieht« usw. Mine hat recht behalten. Ihr Liebling, der Rolf, hat zwar Theologie studiert, aber er ist ein »Buchschreiber«, dessen Name weithin bekannt geworden ist. Und den kleinen Christoph, der phlegmatisch, dick und rund und lustig war, aber dabei seine Peitsche energisch führte, nannte sie stets »Herr Inspektor«, ein Titel, der ihr höher stand, wie der des Gutsherrn selber. Auch da ist ihre Ahnung richtig gewesen, der Dicke ist Landwirt, und es geht ihm recht gut mit seiner gleichfalls runden, recht vermögenden Frau. Er hat oft gesagt: »Die Mine hat mich erst auf den richtigen Beruf gebracht, wie froh bin ich, daß ich nicht zu studieren brauchte.« Und die »süße Else?« Mine liebte die Kleine zärtlich und pflegte zu sagen: »Die mit die klugen Augen wird was ganz besonderes, ich weiß bloß nicht was.« Das konnte sie freilich nicht wissen, daß das Mädel studieren würde, und es klingt ja auch wie ein Märchen, denn wo sieben Pastorskinder aufwachsen, reicht das Geld oft nicht zum Studieren für die Jungen, geschweige denn für die Mädchen. Aber da kam im richtigen Augenblicke die Patenfee und rührte mit dem Zauberstabe den pastorlichen Geldbeutel an, daß er schwoll und hergab, was gebraucht wurde. Die Mine behielt eben wieder recht, aus der süßen Else wurde die gelehrte Else und dabei eine sehr beglückte und zufriedene.
Eines Tages traf die Mine ein harter Schlag. Die Mutter wurde krank und starb nach kurzem Leiden. Nun war das Leben der Zurückgebliebenen gänzlich verschoben. Die treue Pflegerin, die das kleine Hauswesen versorgt hatte und der fleißigen Näherin alles abnahm, fehlte. Mine suchte wohl die Dahingegangene zu ersetzen, aber sie wurde zusehends elender und freudloser dabei. Da wagten Pastors einen Vorstoß, sie boten ihr ein Asyl im Pastorhause. Sie sollte vorläufig noch weiter für ihre Kunden arbeiten, ihre andere Zeit aber Pastors widmen, schweren Herzens gab Mine nach. Aber ihr und der Familie erwuchs bald ein größerer Segen aus diesem Bündnis, als beide voraussehen konnten. Das kleine Anwesen vor dem Dorfe wurde verkauft, der Erlös kam in die Sparkasse, die schon ein nettes Sümmchen enthielt, und Mine bezog ein Dachstübchen im Pfarrhause. Allmählich gab sie ihre Kundschaft auf, denn das Feld ihrer Tätigkeit dehnte sich und streckte sich. Sie lernte von der tätigen kleinen Pastorfrau gar vieles dazu, und es war merkwürdig, sie wurde dabei frischer und gesünder. An den Krankenbetten der Familienglieder, in Liebe und Treue bei jeder Sorge, ward das Band fester und inniger, welches dieses einfache Geschöpf an die Pastorfamilie fesselte, und in vertraulicher Stunde erfuhr unsere liebe Pastorin auch einmal die Herzensgeschichte Mines, die den Schleier der leichten Schwermut über das Wesen des schlichten Mädchens gelegt hatte. Die alte Geschichte! Der Inspektor des Gutes, den sie, als sie bei der früheren Herrschaft arbeitete, manchmal sah und sprach, hatte mit dem hübschen Mädchen ein bißchen angebändelt. Für die unverdorbene Mine gab es nur eine Auslegung seiner Liebenswürdigkeit, er liebte sie und wollte sie zur Frau nehmen. Es sang und klang in dieser Zeit in ihrer Seele, daß sie frisch und fröhlich und beinahe übermütig vor Glück wurde. Bis sie ihn eines Tages ebenso mit dem Stubenmädchen verkehren sah, und er über ihr erschrockenes, tief trauriges Gesicht lachte. Da zog sie sich ganz in sich selbst zurück. Zuerst hoffte sie wohl, er würde kommen und ihre Vergebung suchen, aber vergebens blickte sie die Dorfstraße hinab, er sah nicht einmal mehr nach dem Fenster, wenn er vorüber ritt, und dann heiratete er eines Tages ein reiches Mädel und zog fort, mit ihm ihr Traum von Liebesglück. Sie hat nie wieder Gelegenheit gesucht oder gefunden, einem Manne näher zu treten, wäre es nicht das Pastorhaus gewesen, das sich ihr öffnete, Mine hätte ihr Leben lang kein Familienglück kennen gelernt, so aber hatte sie nun ihren behaglichen Platz am heimischen Feuer und konnte den Segen desselben teilen.
Eines der Kinder nach dem anderen zog hinaus, aber alle schrieben regelmäßig an Mine, alle freuten sich jubelnd des Wiedersehens mit ihr, und jedes machte später den Versuch, die Alternde für sein eigenes Heim zu gewinnen. Sie blieb aber bei den Eltern und hat sie in selbstloser Weise gepflegt, Wie ihre Mutter ist sie nach kurzem Krankenlager schnell gestorben, doch war ihr vorher vergönnt, Rolfs erstes Buch gedruckt zu sehen, sie las es mit roten Wangen und glänzenden Augen und stolz wies sie mit dem Finger auf einige Stellen: »Das hat er von mir.« Auch Else durfte sie nach dem glänzend bestandenen Oberlehrerinnenexamen noch umarmen.
Es fand sich nach ihrem Tode eine rechtsgültige Bestimmung vor, die ihre ansehnlichen Ersparnisse unter die »geliebten Kinder« verteilte. Auch für ihr Begräbnis hatte sie vorgesorgt. Selten sind wohl am Sarge einer einfachen Näherin so heiße Tränen geflossen, wie an Mines. Still und bescheiden zog sie ihre Bahn, aber leuchtend und strahlend lebt ihr Bild im Kerzen derer, die sie gekannt haben.