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4.
Die Kinderstube.

In manche Kinderstube schaut man hinein, wenn man die Kleinen lieb hat, und überall findet man Stoff zum Lernen und zum Nachdenken.

Welche Mutter möchte nicht aus ihrem Kinde das Beste machen, seine guten Anlagen entwickeln, seine Fehler nicht aufkommen lassen und das geliebte Gottesgeschenk mit sicherer Hand auf die Höhen des Lebens führen? Ich sah aufmerksam in manche Erziehungsstätte hinein, erlebte auch die Resultate vieler gutgemeinter mütterlichen Bemühungen und muß sagen, das Erlebte war oft ganz anders als das Erstrebte. Große Strenge zeitigte zwar äußerlich manchen Erfolg, aber wenn das Elternhaus und das wachsame Auge der Mutter fehlten, so kam die Versuchung, der lang eingedämmte Trotz wucherte empor, alle schlimmen Regungen, nur unterdrückt, wallten auf und Sorge und Leid waren der Dank für die heimische Erziehung.

Oder die übergroße Liebe und Nachgiebigkeit ließen Unarten und Leidenschaften ungehemmt wachsen und zur Plage der Ungehörigen und Freunde des Hauses werden. Das Leben draußen schliff dann mit harter Hand vieles ab, aber die Unerzogenen klagten später mit bitterem Vorwurf: »Warum habt Ihr mir nicht dies und das gesagt, mich gewarnt und zurückgehalten?« –

Als Erzählerin hatte ich bei der bekannten und verwandten Kinderwelt einen Ehrenposten, der meine Phantasie oft zu gewagten Anstrengungen nötigte. Über das glückselige Aufleuchten der Kinderaugen, die lebhaft geäußerte Anteilnahme an den Schicksalen meiner Helden und Heldinnen und manches originelle Urteil dankte mir für meine Mühe. Freilich wurde ich auch schonungslos korrigiert, wenn ich bei Wiederholungen mir die geringste Abweichung zu schulden kommen ließ.

Einmal erzählte ich einem kleinen Patienten die Geschichte von Hänsel und Gretel. Er lauschte aufmerksam, sagte aber, als ich fertig war, tadelnd: »Warum haben die Kinder ihre Füße nicht in Goldwasser getaucht?« Ich begriff nicht gleich. »Nun ja,« sagte er, »ich weiß eine Geschichte von Klein-Else, die tauchte ihre Füße, wenn sie neue Wege ging, in flüssiges Gold, und überall blieb dann eine leuchtende Spur, so daß sie immer heim fand.« Ich kannte dieses Märchen nicht, aber »die leuchtende Spur« blieb mir im Gedächtnis, ich fand, daß man mit ihr ein Gleichnis für die Mutterliebe geschaffen hatte, die das Kind auf allen Wegen begleitet und es stets wieder heimwärts führt. Die Kinderstube aber ist der Ort, wo das flüssige Gold für den Lebensweg geschaffen wird, wo im traulichen Beieinander unmerklich der Samen ausgestreut werden kann, der die Seelen der Kleinen befruchten soll.

»Geh fleißig um mit deinen Kindern,« sagt der Dichter und gibt uns damit die Grundlage für die Erziehung. Es ist rührend zu sehen und zu hören, wie gläubig die Kleinen zur Mutter aufblicken. In jeder Not flüchten sie zu ihr, jede Gefahr ist beseitigt, wenn die Mutter da ist, alle nächtlichen Schrecken weichen, wenn der kleine Liebling in Mutters Bett schlüpfen darf. Sie weiß alles am besten, sie versteht alles, und es gibt nur einen, der mehr kann, das ist der liebe Gott, aber auch bei dem kann Mutter Fürbitte tun. »Mutter,« hörte ich einst einen kleinen Jungen fragen, »gibt mir der liebe Gott alles, um was ich ihn bitte?« »O nein, mein Kind, du bist ja noch viel zu dumm und weißt nicht, was gut für dich wäre.« Tiefe Stille. Dann nach langem Nachdenken: »Mutter, dann bitte du doch den lieben Gott um ein paar hohe Stiefeln für mich, du weißt doch, daß ich sie brauche.« Auch in anderer Beziehung zeigt sich das Vertrauen auf die mütterliche Kraft. »Mütterchen, sieh mal das verlassene Nestchen, die kleinen Eier sind schon ganz kalt, nimm du sie doch unter den Arm, damit die Vögelchen auskriechen.« Ich muß mit Bedauern mein Unvermögen bekennen, stoße aber auf Unglauben. »Du kannst doch alles, du willst nur nicht, Mütterchen.« Ist es nicht etwas Köstliches um solches vertrauen? Wieviel glücklicher sind unsere Landkinder im Vergleich zu den eingepferchten Großstadtkindern. Aber wir müssen sie auch von vornherein die Vorteile des Landlebens genießen lassen, keine übertriebene Angst vor Erkältungen, keine unnötige Furcht vor den Gefahren, die der Hof mit seinen Bewohnern bieten mag, sollte uns abhalten, sie an freie, selbständige Bewegung zu gewöhnen. In den Großstadtschulen werden die Kinder, bei dem stark gesteigerten Straßenverkehr heutzutage gelehrt, ruhig Umschau zu halten, ehe sie die Straße überschreiten, man übt das schnelle besonnene verlassen geschlossener Räume auf ein Zeichen hin, um im Ernstfälle eine folgenschwere Panik zu verhindern. So sollten auch wir bei der Erziehung der Landkinder darauf bedacht sein, sie die Gefahren sehen zu lassen, ohne sie furchtsam zu machen. Auf einem Gute, wo der Hausherr die Kinder zu prächtigen, tatkräftigen Menschen erzogen hat, erlebte ich einst eine kleine Szene. Wir waren ins Feld gefahren und an einer Stelle abgestiegen, wo es etwas zu sehen gab. Die dreizehnjährige Tochter hatte uns, neben dem Vater sitzend, hinauskutschiert und blieb auf dem Bocke sitzen. Den mutigen Tieren wurde die Zeit lang, und sie begannen unruhig zu werden, von ferne sahen wir, daß sie tänzelten und Kapriolen machten. Ehe wir hinkamen, war die Kleine abgesprungen und hatte die zügellosen Pferde ihrem Schicksal überlassen, sie sausten davon und wurden erst später eingefangen, nicht ohne einigen Schaden erlitten zu haben, vielleicht hätten ängstliche Eltern das Kind in die Arme geschlossen, bedauert und beglückwünscht, hier gab es ernsten Tadel. »Du hast gelernt, wie du dich in solchen Fällen zu benehmen hast,« hieß es, »du durftest die Zügel unter keinen Umständen aus der Hand lassen, ein paar Schritte fahren, hätte die gutartigen Tiere beruhigt. Da du so furchtsam bist, darfst du vier Wochen keinen Zügel in die Hand nehmen.« Damit war die Sache abgetan. Manche Mutter glaubt außergewöhnliche Begabung an ihren Kindern zu entdecken, was ja gewiß eine Quelle großer Freude werden kann und der Beachtung wert ist. Uber diese Hoffnungen werden häufig vorzeitig laut verkündigt, in Gegenwart der Kinder wird ihr Können und ihr Fleiß gerühmt, und sehr leicht entwickelt sich dann Eitelkeit und Überhebung, Hochmut und Dünkel in dem Kinderherzen, der Reiz der kindlichen Unbefangenheit geht verloren. »In unserer Familie studieren alle Söhne,« hörte ich einst die Mutter eines frischen vierjährigen Knaben rühmen, »wir haben Verwandte in den höchsten Beamtenkreisen, auch unser Junge wird es mal weit bringen, er ist unglaublich gescheit.« Ich konnte die Laufbahn dieses begabten Kindes verfolgen und freue mich immer, wenn ich höre, daß er ein prächtiger Mensch und – tüchtiger Landwirt geworden ist. »Nur Landwirt,« pflegt seine Mutter zu sagen und entschuldigend setzt sie hinzu: »Aus Gesundheitsrücksichten.«

»Man wird bescheiden,« sagte mir eine andere Mutter, »früher habe ich mich über die Untugenden und Streiche anderer Knaben aufgeregt, jetzt, wo meine eigenen Jungen im Leben stehen, finde ich vieles entschuldbar und nenne jugendlichen Übermut, was ich früher für schlechte Charaktereigenschaften hielt. Zuletzt ist man zufrieden, wenn die Kinder gesund und gut bleiben und ihren Schulweg in der Mittelstraße gehen.«

Sie hat sehr recht gehabt, die verständige Frau!

Über das Kapitel der Strenge, des gewaltsamen Vorwärtstreibens läßt sich manches sagen.

Viel wird meiner Ansicht nach damit gesündigt, der Erfolg einer harten Schule der Kindheit ist selten ein guter. Der Sonnenschein einer sorglosen Jugend, ich spreche aus dankbarer Erinnerung an mein Elternhaus, vergoldet das Leben bis ins Alter hinein, mögen die Väter Zucht und Ordnung in ernster und eindringlicher Meise anerziehen und aufrecht erhalten, Ihr Mütter, laßt Eure Herzen sprechen und sichert Euch im Gedächtnis Eurer Kinder »die leuchtende Spur«, die stets wieder heimwärts führt aus den nicht immer geraden, nicht immer sauberen Straßen des Lebensweges. Die Söhne, welche der Mutter gelegentlich einen Fehltritt eingestehen, des Verstehens und Vergebens sicher, hüten sich mehr vor der Wiederholung als jene, die ihre Fehler und Leidenschaften so lange wie möglich vor dem strengen Mutterauge zu verbergen wissen, und dann noch leugnen, was sich leugnen läßt. Die Töchter, die das Beispiel nie ermüdender Langmut und Güte schauen, nehmen die leuchtende Spur mit hinüber in das eigne Heim und pflanzen es weiter zu Nutz und Frommen ihrer Umgebung. Ich las mal ein Sprichwort, es lautete: Jeder wohlverdiente Hieb des Vaters zerstört eine sündige Regung im Kinderherzen, aber der Mutter zornige Leidenschaft vernichtet ihr holdes Bild langsam aber sicher.

So wie also die Mutter ihr gütiges Wesen den Kindern unauslöschlich einprägen soll, so soll sie auch den Frieden in der Kinderstube zu erhalten suchen, Nachsicht und Freundlichkeit unter den Geschwistern pflegen und sorgfältig darüber wachen, daß in der kleinen Schar Mißgunst, Neid und Unduldsamkeit nicht groß wachsen können,. Wie häufig sieht man, daß die Glieder einer Familie zwar zusammenhalten, solange die Eltern leben, bald nach dem Tode derselben aber gehen die Geschwister auseinander, werden sich fremd und fremder, ja sie befehden einander wohl um äußerer Güter willen. So geben sie den traurigen Beweis dafür, daß es nicht wahre Liebe war, die sie zusammenkettete, sondern nur der schwache Kitt der Gewohnheit. Wo eine liebevoll mahnende Mutter das Kinderzimmer hütet, wird echte Liebe und Treue im christlichen Sinne fürs ganze Leben gelehrt und durch gutes Beispiel erhärtet. Und aus den festgefügten, unzertrennlichen Familiengliedern, die im Elternhause die wahren sittlichen Grundlagen empfangen haben, bildet sich das Reich der Treuen, die auch dem großen Verbände des Vaterlandes ihre Anhänglichkeit in der Stunde der Not beweisen werden, die auch den Kampf nicht scheuen werden, wenn es gilt, das Höchste zu verteidigen. Treue im Kleinen zeitigt Treue im Großen.

Noch andere Wurzeln liegen im Kinderzimmer und sollen dort beachtet und entwickelt werden. Ich erwähne hier noch die frühzeitige Entwicklung der Unabhängigkeit von Hilfsleistungen, deren viele zu ihrer eignen Qual bedürfen, und die damit eng verknüpfte richtige Umgangsform mit den Untergebenen. Wenn es den Kindern gestattet wird wegen jeder Kleinigkeit in herrischer Weise die Dienste des Hausmädchens zu fordern, wenn rohes und unartiges Betragen gegen die Dienstleute nicht ebenso streng gerügt wird, wie wenn es sich gegen Gleichgestellte richtete, so erzieht man anspruchsvolle, dünkelhafte Menschen, denen trübe Erfahrungen bevorstehen. Kinder, die freundlich für die ihnen täglich erwiesenen Hilfsleistungen danken lernen, werden auch später, wenn es ihnen zusteht zu befehlen, nicht tyrannisch fordern. Sie werden auch lernen, mit teilnehmenden Blicken um sich zu schauen, den richtigen Maßstab für die Leistungsfähigkeit ihrer Mitmenschen erlangen und ihre Ansprüche danach einrichten.

Es ist schwer heutzutage mit den Arbeitenden in gutem Einvernehmen zu bleiben, auch da muß die Kinderstube schon der Ausgangspunkt für ein richtiges Verständnis dieser wichtigen menschlichen Frage werden, mancher Gegensatz kann schon von der Kindheit an verwischt, manche Brücke geschlagen werden. Möchten wir Frauen noch den einen oder andern guten Weg entdecken, der die Jugend auf die Höhen des Lebens, im besten Sinne, führt. Nicht nur inbetreff der guten äußerlichen Formen soll man die »Kinderstube« rühmen, sondern vielmehr auf Grund der wahren Herzensbildung, welche die mütterliche Erziehung dem Kinde als schönste Mitgift darzubieten vermag.


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