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Inspektor Kuhnke.

Sein Vater ist Dorfschulmeister; sieben Geschwister wachsen mit ihm auf, von denen er der Älteste ist. Er lernt gut und Vater Kuhnke sagt manchmal mit befriedigtem Schmunzeln zu seiner Gattin: »Der Reinhard wird mal ein tüchtiger Lehrer!« Mutter schüttelt den Kopf; sie kennt ihres Jungen Vorliebe für die Landwirtschaft und ist die Vertraute seiner Zukunftsträume; aber sie haßt das Streiten um »unreife Früchte«, wie sie sich ausdrückt und denkt, »kommt Zeit, kommt Rat.«

Und der große, ungeschickte Bube mit den stets zu kurzen Ärmeln und Hosen lernt fleißig weiter, aber in den Freistunden schleicht er sich hinaus auf's Feld, hilft dem »Nachbar« das Pferd aus- und anschirren und bettelt solange, bis er ihm erlaubt, eine Furche zu fahren. Daheim in des Bauern Hof weiß er gründlich Bescheid und leistet hilfreiche Hand, wo es niemand erwartet. Als einst Schulmeisters Kuh nicht fressen will, fühlt er die Hörner und Ohren an und erklärt, daß sie Fieber habe. Er mischt einen kräftigen Glaubersalztrank und gießt ihn mit der Flasche so geschickt in den Hals der Kuh, die Vater und Mutter halten müssen, daß beide sich voller Bewunderung in die Augen blicken. Einst trifft ihn der Vater, wie er wunderliche Messungen an seinen Körpersäulen vornimmt, und auf Befragen sagt Reinhard, blutrot im Gesicht: »So hoch sind Amtmann's Stiebeln!« »Hast du sie gemessen?« »Ja, sie standen bei Schuster Jeschke, sind entzwei, da habe ich sie mal anprobiert.« Ja, der Amtmann! Wie stolz geht er einher mit dem Filzhut, auf dem eine Fasanenfeder steckt, in der dicken kurzen Joppe und in den hohen Stiefeln. In der Hand schwingt er öfters eine kurze Reitpeitsche, oder auch eine Haselnußgerte, während ein dicker Knotenstock müßig über den Arm gehängt ist. Wozu er beides braucht, ist dem Knaben nicht klar, aber es liegt in dieser Ausrüstung etwas unendlich Anziehendes für ihn; der ganze Mann ist ihm ein Inbegriff von Macht und Energie. Er kann es nicht fassen, daß seinem Helden nicht alle Leute bedingungslos gehorchen; wenn er sein lautes Schelten vom Felde herüberschallen hört, klopft ihm das Herz, er weiß nicht, ob vor Mitgefühl mit den Gestraften oder in Erwartung irgend einer furchtbaren Katastrophe.

Die Jahre vergehen, und nach manchem Kampf mit dem Vater ist Reinhard mit seinen Herzenswünschen durchgedrungen und einem tüchtigen Landwirt in die Lehre gegeben worden. Eine schwere Zeit war's; oft wollte ihm der Mut sinken, denn nicht nur in der Wirtschaft drinnen und draußen wurde an ihm herumgehobelt, nein, auch andere Begriffe von Anstand und Sitte sollte er bekommen, und rücksichtslos und hart hat man ihn angefaßt. Der Erziehung von Seiten seiner Lehrprinzipalin hat er sich oft nur mit Trotz und Widerwillen gebeugt, aber nun, in seiner Assistentenstelle, dankt er der braven Frau schon jedes Mahnwort, das sie ihm kaltblütig zurief: »Nicht die Ellbogen auf den Tisch legen, Kuhnke«, »nicht mit dem Messer essen«, »nicht so viel Sauce nehmen, Andere wollen auch was haben«, »immer tüchtig Kartoffeln zulangen, Fleisch ist bloß Zugabe« usw. Es gibt Leute, die dergleichen Verstöße nur hinter dem Rücken des Betreffenden belachen, wie viel richtiger und wohlmeinender ist eine offene Rüge; er sieht's später wohl ein. Auch andere Mängel empfindet er störend, und ein heißer Drang lebt in ihm, alles recht gründlich zu erlernen, sich keine Blößen zu geben. Gar manchen Sonntag verbringt er in seiner öden Stube, wo es nach Stiefelwichse und Tabak riecht und von Bequemlichkeit keine Spur vorhanden ist, wenn man nicht den alten Korbstuhl, der vor dem Schreibtisch steht, ausnehmen will. Er war ins Beamtenzimmer gekommen, weil der Sitz so schadhaft war, und Mutter drückte in ihren seltenen Briefen öfters ihre Verwunderung darüber aus, daß der Hosenboden immer genau an derselben Stelle böse Wunden aufwies, »als ob du auf Eggenzinken gesessen hättest«. Da vertraute Reinhard ihr die Ursache an, und ein praktisches Kissen, an dem Schwester Minchen ihre Kunst erprobt hatte, kam als Geschenk und ziert den Stuhl seitdem. Selten vergißt Reinhard sein Taschentuch darauf zu breiten, bevor er sich setzt, damit die »gute« Stickerei nicht vorzeitig abgenützt wird. Auf dem Stuhl sitzend, studiert sich's noch mal so gut! Manche Versuchung drängt sich an den Jüngling heran; an seinem redlichen, schlichten Sinn prallt sie ab, aber sein argloses Herz wird oft verwundet und – ungewandt, wie er im Aussprechen ist, – muß er alles mit sich allein durchkämpfen. Dadurch gewinnt er an innerer Selbständigkeit, aber er verschließt auch ebenso den Schatz seines weichen Gemüts vor Anderen. So steht er ziemlich allein da, besonders da auch seine Sparsamkeit und seine Lernbegier ihm selten gestatten, an den Jugendtorheiten seiner Kumpane teilzunehmen.

Eines Tages kommt ein Fleischer auf den Hof, der das Mastvieh besehen will. Kuhnke führt ihn in den Schweinestall. Der Händler besieht die Ware, sieht den jungen Mann listig lächelnd an und sagt: »Wenn ich die Schweine billig kaufe, soll's Ihr Schaden nicht sein. Auf ein paar Pfündchen Wurst kommt mir's nicht an«. Reinhard zuckt die Achseln. »Ich habe nur den Auftrag, Ihnen die Schweine zu zeigen, das Übrige ist nicht meine Sache«. »Na, Sie können doch auch ein Wort dazu sagen, Dem und Jenem gebe ich soviel«, hier nennt er einen niedrigen Preis, »wenn ich nachher etwas mehr biete, schlägt der Herr zu! Das hilft mir schon.« Kuhnke gibt seiner Empörung einen nicht gerade liebenswürdigen, aber kräftigen Ausdruck, und der Käufer versuchts nochmal. »Na, dann richten Sie's wenigstens beim Wiegen ein, das haben Sie ja in der Hand. Ich bin gern erkenntlich, und mögen Sie die Wurst nicht, so kann ich vielleicht mal mit Bargeld aushelfen.« Merkwürdig schnell kommt er jetzt zum Stall hinaus, in dessen Tür der junge Beamte mit hochrotem Gesicht steht, die Hand fest um den Knotenstock gelegt, so, als wollte er ihn zur Abwehr gebrauchen. Nicht lange darauf findet er auf seinem Tisch ein Dutzend Zigarren, hübsch verpackt. Die Aufwärterin erzählt auf Befragen, daß der Ölhändler da war und sie abgegeben hat. Kuhnke besieht sie, riecht daran und – raucht schließlich eine. Dann aber packt er sie eilig weg, so daß sie ihm nicht täglich lockend vor Augen liegen, ist ihm doch ein Wort seines Vaters ins Gedächtnis gekommen: »Mißtraue jedem Geschenk, daß dir von Fernstehenden geboten wird; man fordert dir bei Gelegenheit einen Lohn dafür ab, den zu zahlen dir Schaden bringen könnte.« Händereibend und dienernd steht eines Tages der Ölmann vor ihm. »Tag, Herr Inspektor, wie geht's?« fragte er und bietet Kuhnke die Hand, die dieser widerstrebend berührt. »Ich seh', Sie rauchen nicht, haben Ihnen die paar Zigarrchen nicht geschmeckt, die ich mir erlaubte« –. Reinhard wird dunkelrot und wünschte, er hätte die Probe unterlassen. »Reisen Sie jetzt für ein Zigarrengeschäft?« »Bewahre; mache nach wie vor in Öl, Herr Inspektor, wollte Ihnen bloß eine kleine Freude machen.«

»Danke, ich nehme keine Geschenke! Kommen Sie auf mein Zimmer und nehmen Sie Ihre Zigarren mit, die eine, die ich probiert habe, bezahle ich.« Das klingt sehr schroff, aber der Mann in Öl lächelt freundlich, »Von Geschenken ist gar keine Rede, Sie können mir einen großen Dienst leisten, wenn Sie dafür sorgen, daß Ihr Herr Prinzipal seinen Bedarf nur bei mir nimmt, der Reisende von Simon u. Comp. macht mir Konkurrenz!« Auch hier erfolgt eine energische Abwehr von seiten des Beamten, und die Zigarren gehen in des Händlers Tasche zurück. –

Auch manch' lockendes Mädchenauge schaut dem schlank emporgeschossenen, jungen Manne nach, wenn er so frisch und unverdrossen seinen Beruf ausübt. Aber die treuen mütterlichen Warnungen und die unumwundenen Ratschläge des Vaters, der alles beim rechten Namen nennt, sind ihm eine gute »Wehr und Waffen« gegen weibliche Verführungskünste. Mutter lächelt freilich, wenn ihr Alter sich rühmt, »ich hab's ihm gründlich vorgegeigt«, sie weiß allein. was sie allabendlich ihrem Herrgott vorträgt und daß ihre Gebete Macht haben, den Sohn zu schützen! So wird die Herzensreinheit des Jünglings von starken Engeln gehütet, und keine quälenden Reuegedanken verdüstern sein späteres Leben. –

Jetzt hat er eine auskömmliche Beamtenstelle beim Oberamtmann Renner in Debschütz angetreten. Sehr bald hat man seine Tüchtigkeit erkannt, und er genießt den Vorzug, zur Familie herangezogen zu werden: er fühlt sich gehoben durch, die freundliche Achtung, die ihm zuteil wird. Eine erwachsene Tochter schaltet neben der Mutter, nachdem sie ein Jahr in der Residenz in der »Benehme« war, wie die Purzeln, seine alte Aufwärterin, sehr bezeichnend sagt. Und »benehmen« kann sie sich, die niedliche, zierliche Elly. Kuhnke, der noch immer mit Schüchternheit zu kämpfen hat, blickt bewundernd zu ihr auf, er staunt über ihre glatten Manieren.

Elly bemerkt sehr bald die unausgesetzte Aufmerksamkeit, die ihr der neue Inspektor widmet, und beginnt ein wohlberechnetes Spiel mit ihm. Es ist ja sträflich langweilig auf dem Lande! Warum soll sie sich nicht ein bißchen Abwechslung verschaffen? Huberta Seibt, ihre Freundin in der Großstadt, schreibt beständig von ihren Verehrern, und wie köstlich es ist, sie ein wenig zu nasführen. Natürlich soll alles nur Scherz sein, so ein lustiger Flirt. Nun kann Elly doch auch ein Wort mitsprechen. Der schüchterne Inspektor spielt fortan eine Rolle in ihren Briefen und sie sucht auf alle Weise interessante Erlebnisse zu schaffen. Einmal gehen sie zusammen durch den Kuhstall und sie tritt dicht an den bösen Bullen heran, der, mit zwei Ketten an die Krippe geschlossen, allerdings kaum Unheil anrichten kann. Der erschrockene Ruf Kuhnkes: »Nicht so nahe, um Gotteswillen«, und der unverfälschte Herzenston seiner Stimme entlocken ihr ein befriedigtes Lächeln, und sie sagt gnädig: »Keine Angst, mir tut er nichts.« Eines Tages kutschiert sie den Einspänner aufs Feld hinaus, wo Kuhnke Rüben behacken läßt. Obgleich sie sehr wohl weiß, daß die sonst fromme Stute eine unüberwindliche Abneigung gegen Kinderwagen und dergleichen hat, hält sie doch direkt auf die Stelle zu, wo die Arbeiterfrauen ihre Kleinsten in allerhand Behältnissen untergebracht haben. Und das Erwartete geschieht: Liese drängt empört nach der anderen Seite. Die Sache sieht gefährlich aus, aber der geängstigte, liebende Jüngling springt herbei, faßt das Pferd am Zügel und führt es siegreich an dem Schrecknis vorüber. Ein strahlendes Lächeln der Dulcinea dankt ihm, wenn auch ihre Eitelkeit einen kleinen Stoß erhält, als er treuherzig meint: »Wie leicht hätten auch die Kinder zu Schaden kommen können!« – Und weiter geben die Sonntags-Kahnpartien und -Spaziergänge, trotz der Gegenwart der anderen, ganz wundervolle Gelegenheiten, das begonnene Spiel fortzusetzen. Es gelingt der kleinen Ränkespinnerin, den jungen Mann glauben zu machen, daß sie mehr in ihm sieht, als den Inspektor ihres Vaters. Kuhnkes braves, ehrliches Herz brennt lichterloh, und wilde Wünsche, Elly zu erringen, phantastische Zukunftspläne erfüllen sein Hirn. Sein Chef schüttelt manchmal den Kopf, bleibt aber immer noch freundlich, wenn der tüchtige Beamte sich Vergeßlichkeiten zu schulden kommen läßt. Seine Frau sieht mit Unruhe dem Treiben der jungen Leute zu, aber ihre Mahnworte verhallen ungehört; Elly will ihr Vergnügen haben, sie tut ja nichts Böses, meint sie.

Das geht so lange, bis die Sommerferien den früheren Kandidaten der Knaben mit diesen selbst ins Haus führen. Da wendet sich das Blatt. Nicht wie sonst zieht Elly den schüchternen Verehrer zur Unterhaltung heran, kaum daß sie ihm hier und da ein Wort gönnt; sie ist ganz Holdseligkeit in ihrem Benehmen gegen den Gast, der sich nicht nur als Predigtamts-, sondern auch als Heirats-Kandidat gibt. Seine ernsten Worte und Blicke wissen Ellys unstätes Wesen merkwürdig gut im Zaume zu halten.

Kuhnke schaut zuerst ganz ungläubig drein, dann geht er wie vor den Kopf geschlagen einher, und schließlich macht er die große Dummheit seines Lebens und erklärt seiner Flamme, daß er nicht ohne sie leben könne. Sie heuchelt zwar Erstaunen, aber ein Lächeln befriedigter Eitelkeit umspielt ihre Lippen, und ihre Antwort klingt einstudiert. Als sie Kuhnkes wortlosen Jammer erkennt, wird ihr freilich ein wenig schwül zu Mute, aber der so schmählich seiner Hoffnungen Beraubte stürmt so schnell aus dem Zimmer, daß sie nicht einmal die Phrase von »dauernder Freundschaft« anbringen kann, die zu ihrem Programm gehört. »Ritter, treue Schwesterliebe widmet dir dies Herz …«. Aber zum Toggenburg hat Reinhard keine Anlagen. Hart faßt ihn zwar der Schmerz an; aber der Stolz, der echte männliche Stolz ist in ihm erwacht, der ihm zuruft: »Nur zu, du hast den ersten Kampf gekämpft, zeig' dich als Sieger«. Er rafft sich auf, sucht einen Ersatz für seine Person und verläßt, als ihm dies gelungen, das Rennersche Haus, nicht ohne die unausgesprochenen Beweise des Bedauerns von seiten des betrübten Elternpaares herauszufühlen; aber er eilt nicht, wie ein geschlagener Bube, an das Herz der Mutter, um seinen Jammer auszusprechen, sondern er wendet sich der Großstadt zu und setzt alle Hebel in Bewegung, eine Stelle zu erlangen. Seine Zeugnisse sind sehr empfehlend, und das Glück begünstigt ihn ganz besonders. Er wird durch eine Zeitungsnotiz in das Bureau eines Rechtsanwalts geführt, der einen selbständigen Beamten für ein großes Gut sucht. Der Herr ist der Besitzer selbst, dem das Gut durch Erbschaft zugefallen ist, und der es für seinen Sohn erhalten möchte. Kuhnke gefällt ihm. Alle über ihn eingezogenen Erkundigungen fördern nur Gutes zutage, das einzige Bedenken erregt die große Jugend des Bewerbers. Indessen, man kann ihn darauf hin vielleicht ein wenig billiger haben, und in diesem Sinne tritt der Justizrat der Gehaltsfrage näher.

Da blickt ihm Reinhard offen und fest ins Gesicht und sagt: »Wenn ich kein ehrlicher Mensch wäre, Herr Rat, würde ich Ihr Anerbieten ohne weiteres annehmen. Mit dem Gehalt würde ich zwar nicht auskommen, aber es wäre mir ein Leichtes, mich schadlos zu halten, ohne daß Sie mich der Untreue überführen könnten. Da ich aber anders denke, so bitte ich ergebenst, stellen Sie mich so, daß ich nicht allein ohne Schulden leben, sondern auch einen Notpfennig zurücklegen kann. Daß ich kein Durchgänger bin, bezeugen meine früheren Herren Chefs!«

Dieser Freimut imponierte dem Justizrat, und der Vertrag wird zu beiderseitiger Zufriedenheit abgeschlossen. Auf Wunsch Kuhnkes verspricht sein neuer Chef, einen der Gutsnachbarn, der ihm als besonders tüchtig und maßgebend bekannt ist, um die Gefälligkeit zu bitten, ab und zu ein Gutachten über des jungen Landwirts Wirtschaftsführung abzugeben.

Zufrieden und hoffnungsvoll scheidet Reinhard von seinem neuen Prinzipal, um die kurze Zeit bis zum Antritt seiner Stelle den Eltern und Geschwistern zu widmen. Eine große Freude gewährt es ihm, nicht mit leeren Händen zu kommen; seine Ersparnisse erlauben ihm, kleine Einkäufe zu machen. Für Schwester Minchen aber, die als Wirtschafterin auf dem Gutshofe regiert, bringt er die frohe Runde, daß sie fortan seinen Haushalt führen soll, also nicht mehr fremdes Brot zu essen braucht. So ist's eine herrliche Zeit daheim! Die Eltern blicken stolz auf den stattlichen Sohn, und der Vater grollt nicht länger, daß er sich keinen Nachfolger in ihm erzogen hat; es wimmelt ja auch so lustig von Buben um ihn, da wird schon noch ein Schulmeister darunter sein. Mutters prüfendes Auge liest manchmal recht bedenklich in Reinhards Zügen; ihr entgeht nicht der Hauch von Kummer, der sich in unbewachten Momenten über das frische Gesicht breitet und die Falte über der Nase vertieft, aber sie fragt nicht. Nur als er Abschied nimmt, von ihr ganz besonders nochmal, drückt sie seine Hand in ihrer arbeitsharten und sagt: »Wenn du statt der Minchen lieber eine junge Frau nach Waldvorwerk bringen möchtest, dann sage es nur, Reinhard. Minchen findet jederzeit eine Stelle.« Da umflort sich der Blick des jungen Mannes, er drückt seine Mutter fest ans Herz und sagt kurz: »Ich heirate nie.« Und nun weiß sie sicher, was sie bisher nur geahnt, ihr Junge hat draußen in der Fremde eine trübe Erfahrung gemacht. Wär's möglich? Konnte ein Mädchen soviel Herzensgüte und Redlichkeit zurückzuweisen? Sie streicht lind über seine Wange, küßt ihn innig und blickt tief in seine Augen. Und dann scheiden sie. Die stille Nacht allein hört den angstvollen Seufzer, der der Mutterbrust entquillt –, bis allmählich auch diese Sorge dem Lenker aller Schicksale demütig anheimgestellt ist.

Eine neue Zeit beginnt für Kuhnke. Zwar findet er die Selbständigkeit nicht leicht, er muß die Verantwortung für sein Tun allein tragen. Wo er früher nach gegebenen Dispositionen arbeitete, nun selber erwägen und handeln. Aber einmal ist es ihm ein neues und köstliches Gefühl, sich frei bewegen, seine Eigenart zur Geltung bringen zu können, und dann treibt ihn ein steter Sporn, das Beste zu leisten, der Stolz. Er ist von dem Mädchen, dem er seine warme Liebe schenkte, verschmäht worden, nicht seiner Person wegen, darüber ist er sich ganz klar, nein, weil seine Lebensstellung unter der ihrigen wurzelte, wenn er als Rittergutsbesitzer Kuhnke um ihre Hand angehalten hätte, sie würde sie ihm schwerlich verweigert haben; er will ihr zeigen, daß Fleiß und Tüchtigkeit auch heute noch einem Landwirt vorwärtshelfen können; er will, und alle Energie und Klugheit, den ganzen praktischen Sinn, den die einfachen Verhältnisse, in denen er aufwuchs, in ihm großgezogen haben, stellt er in den Dienst seiner Sache. Sehr zu statten kommt ihm jetzt, was er früher lebhaft bedauerte, daß er, eines kleinen Fehlers wegen, vom Militärdienst ganz befreit ist; seine Tätigkeit erleidet keine Unterbrechung.

Das Gut war durch gewissenlose Beamte sehr zurückgebracht worden, und natürlich bleiben in den ersten Jahren die Erträge weit hinter den Erwartungen seines Prinzipals zurück – aber rastlos arbeitet er an den notwendigen Verbesserungen. Da zeigt sich denn der Segen seiner Vorsichtsmaßregel. Der bewährte Landwirt, an den ihn Justizrat Harder gewiesen, Oberamtmann Bräuer redet seinem Schützling das Wort, er weiß nur gutes von ihm zu berichten, und so gewährt der Besitzer immer wieder Zuschüsse für die von Kuhnke vorgeschlagenen Maßnahmen.

Ganz allmählich kommen die Erfolge, und als der Beamte das erste Mal seine erhebliche Tantième vom Reinertrage einstreicht, strahlt er vor Freuden übers ganze Gesicht.

Im Sommer wohnen Justizrats alljährlich einige Wochen in Waldvorwerk, dadurch tritt Kuhnke der Familie näher, die seine Verdienste um ihr Besitztum hoch anerkennt. Auch dieses Jahr sind Harders eingetroffen, und Minchen, die bescheidene, still sorgende Wirtin, hat alle Hände voll zu tun, besonders da diesmal noch Gäste mitgebracht wurden. Es ist Sonntag. Reinhard und Minchen sind gebeten worden, den Nachmittag mit den Herrschaften zu verleben, und während die Herren auf der Veranda eine Zigarre rauchen, sitzt Minchen bei der gnädigen Frau und berichtet über ihre Erfolge bei der diesjährigen Kückenaufzucht. Reinhard hat die anderen Hausbewohner, die erst am Abend vorher eingetroffen sind, noch nicht zu Gesicht bekommen. Noch harrt die Tafel im Gartensaal der Kaffeegäste. Minchens Napfkuchen steht stolz in der Mitte des Tisches, und die goldgeränderten feinen Tassen, die silberne Zuckerdose und die blinkenden Löffel strahlen ganz festlich und erwartungsvoll. Die Herren sprachen von der Wirtschaft. »Eins ist mir erstaunlich,« sagte der Rat, »wenn auch in angenehmem Sinne, daß Sie, lieber Kuhnke, immer noch die alten Leute hier haben; ich sah heute früh bei meinem Gange durch Hof und Ställe fast nur bekannte Gesichter. Mein Onkel klagte früher immer über Leutemangel und in den letzten Jahren mehren sich allerorten diese Kämpfe mit dem Arbeiterpersonal.« Reinhard lächelt. »Ich habe mir mit der Zeit einen Stamm tüchtiger Leute herangebildet, Herr Justizrat; sie kennen mich und ich sie, und wenn einer weggeht, so steht gewiß schon ein anderer hinter ihm, der seine Stelle haben will.« »Ja, wie machen Sie denn das? Mehr Lohn geben wir doch auch nicht, als andere, danach habe ich doch schon hier und dort gefragt.«

»Als ich herkam,« meint Reinhard und streift bedächtig die Asche von seiner Zigarre, »ging ich das erste Mal beim Deputatgeben mit dem Schaffer auf den Schüttboden. Er wollte den geringen Roggen sacken lassen und war erstaunt, daß ich das beste dazu bestimmte. Als das Holz für die Leute angefahren wurde, ergab sich, daß es grün und naß war. Ich kaufte damals einen Posten trockenes Brennholz zum Verteilen und sorgte dafür, daß der Förster ein anderes Mal besser seine Schuldigkeit tat. Die Wohnungen waren vernachlässigt; rauchende Öfen, schwarze Wände, die lange keinen Kalk gesehen hatten, schlechte Dielen, oder gar keine, – das waren alles Dinge, die den übrigen Zuständen des Gutes entsprachen. Daß ich zuerst hierin Wandel schaffte, erwarb mir das Vertrauen der Leute, und damit ist schon viel gewonnen. Und dann das bißchen Anwesen, das ich ihnen mit Ihrer freundlichen Erlaubnis allmählich herstellen durfte; der Stall für die Kuh, wo die Hühner ihr warmes Nest finden, die besonderen Schweineställe, während sie früher alles nebeneinander haben mußten, das Gärtchen am Hause, – das alles ist ihnen lieb. Sie waren damals ein wenig unzufrieden mit meinen Neuerungen, Herr Justizrat, ich merkte das wohl; aber ich wußte auch, wo die Arbeiter der Schuh drückte. Der Deputantenkuhstall war gewiß noch recht gut, – jetzt ist er längst mit unserem selbstgezogenen Vieh besetzt, – aber die Leute hatten stets Zank miteinander. Gab die Kuh nicht genug Milch, so beargwöhnte einer den andern wegen Dieberei am Futter oder Milch. Das hat bald aufgehört und der Friede wird selten getrübt.«

»Vergessen Sie aber auch nicht Ihr eigenes Beispiel in Anschlag zu bringen, lieber Freund! Ich meine, wo die Leute ihren Vorgesetzten stets auf dem Posten sehen, wo sie neben größter Pflichterfüllung eine so außerordentliche Anspruchslosigkeit finden, wie dies bei Ihnen der Fall ist, da werden keine verbitternden Vergleiche gezogen und die Unzufriedenheit bleibt fern!« Reinhard sieht beglückt aus, ein Lob aus diesem Munde wird ihm selten ausgesprochen, wenn er auch genau weiß, daß er sich des vollsten Vertrauens seines Chefs erfreut. »Es gibt noch einen viel wirksameren Hebel, Herr Justizrat; das ist strenge, unablässige Zucht. Selbst der beste unter meinen Arbeitern verträgt keine lockeren Zügel. Ich habe zuerst viel Wechsel gehabt, unbarmherzig wurde jeder Trinker entlassen, jeder Diebstahl zur Anzeige gebracht. Damals – es sind ja nun zehn Jahre, seit ich herkam, verflossen – damals konnte ich noch so rücksichtslos vorgehen, heute sind die Zeiten andere geworden. Aber ich fürchte nicht, daß wir je mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben werden; es ist, wie gesagt, hier schon ein tüchtiger Menschenschlag herangebildet.« Der Justizrat nickt leise mit dem Kopfe, während seine Finger auf dem Tische einen Marsch trommeln. »So lange Sie hier sind, Kuhnke. Ja, wenn ich Sie fesseln könnte, ich habe immer Angst, Sie machen sich eines Tages selbständig, und so sehr ich Ihnen diesen Fortschritt gönne, mir persönlich sind Sie gar nicht zu ersetzen.« Reinhard blickte nachdenklich vor sich hin, dann faßt er tief aufatmend einen Entschluß.

»Daß ich mit diesem Gedanken umgegangen bin, seit ich ein kleines Kapitälchen ansammeln konnte, will ich nicht leugnen, Herr Justizrat. Wenn es so weit ist, werde ich aber jedenfalls für einen passenden Ersatz sorgen. Ich verhehle mir keineswegs, daß ich auf einer eigenen Scholle, gleichviel, ob kleines Eigentum oder größere Pachtung mit noch größeren Sorgen zu kämpfen haben werde, als jetzt. Es wird mir auch unsäglich schwer werden, mich von Waldvorwerk zu trennen; aber, wenn Ihr Herr Sohn seine Studien beendet hat, wird er seine Entscheidung betreffs der Übernahme von Waldvorwerk doch gewiß in bejahendem Sinne treffen. So ist mein Bleiben jedenfalls nur eine Frage der Zeit.« »Diese Entscheidung ist schon gefallen und zwar ist sie eine andere, als Sie annehmen. Erwin will Theoretiker bleiben. Seit er »den Doktor« gemacht hat, denkt er nur noch an die Professur und so bin ich mit der Absicht hergekommen, Sie zu fragen« – – – Hier unterbricht der Schall von Tritten und Stimmen den Rat. Seine Frau ist, gefolgt von Minchen und einer lebhaften jungen Schar, in den Gartensaal getreten, und die Gesellschaft kommt auf die Veranda heraus. Die Herren erheben sich, Reinhard wird vorgestellt, aber wie wird ihm, als er sich unvermutet einer Bekannten gegenüber sieht. »Inspektor Kuhnke – Fräulein Elly Renner.« Die Rätin sieht erstaunt von einem zum andren – Kuhnke zeigt seine fassungslose Verwirrung gar zu deutlich, er ist eben nicht an gesellschaftliche Beherrschung gewöhnt. Elly, an der die Zeit zwar nicht spurlos vorübergegangen war, die sich aber ganz vorteilhaft entwickelt hat, wird dunkelrot und streckt ihm geziert die Rechte entgegen: »Wie freue ich mich, Sie wiederzusehen.« Kuhnke murmelt etwas Undeutliches und dann wendet er sich mit Hast an Dorothea Harder, die älteste Tochter des Hauses. Man geht zum Kaffeetisch. Kuhnke bekommt den Platz zwischen den beiden Freundinnen angewiesen, verhält sich aber gegen Elly so steif und frostig, daß die Rätin nachdenklich hinüber blickt und beschließt, durch Dora zu erforschen, was es mit der alten Bekanntschaft auf sich hat.

Und Elly versucht in der Folge das alte Spiel. Daß sie nicht längst verheiratet ist, erscheint Kuhnke, der sie stets als Pastorsfrau vermutete, höchst wunderbar, und doch ist's ganz einfach zugegangen. Der ernste, junge Geistliche hatte eben sehr bald herausgefunden, daß in dem jungen Mädchen kein fester Grund zu finden war, weder in treuer Pflichterfüllung noch im wahren Suchen nach den höchsten Gütern des Lebens. So hat er die Frage nicht gestellt, die alle von ihm erwarteten, und auch kein anderer Bewerber hat Debschütz aufgesucht.

Es will Reinhard sehr bald bedünken, daß Ellys Augen ungemein freundlich auf ihm ruhen, ja sie hat eines Tages, als er ihr, vom Felde heimkehrend, im Wäldchen begegnet, seine Verzeihung erfleht. Seine kühle Frage, »was er ihr zu verzeihen habe,« hat sie in Verlegenheit gesetzt und sie bewogen, ihm zu erklären, daß sie damals noch zu jung gewesen sei, sich nicht selbst gekannt habe und so weiter. Sein Gesicht ist immer undurchdringlicher geworden, und schließlich hat er nur die Worte gesagt: »Oh, mein gnädiges Fräulein, anders habe ichs auch gar nicht aufgefaßt.« Dann hat er eilige Geschäfte vorgeschützt und ist davon gegangen.

Und seit einigen Tagen konferiert er beständig mit dem Rat. Minchen ist schon ganz unruhig, sie wird nicht klug aus dem geheimnisvollen Treiben. Es ist ja gerade, als solle eine Taxe aufgenommen werden, so eifrig gehen die Herren durch Ställe und Felder, schreiben zusammen in Reinhards Arbeitszimmer und sehen alle Bücher emsig durch. Traurig sinnt sie darüber nach, obs wohl nun Ernst mit der Übergabe des Gutes an den jungen Herrn wird, und ob sie werden Abschied nehmen müssen von allem, was sie geschaffen und lieb gewonnen haben! Aber Reinhard sieht doch recht frohgemut aus; ein eigener Glanz strahlt aus seinen Augen.

Wieder kommt der Sonntag, und heut sind sie zum Mittagessen zu den Herrschaften gebeten. Alles sieht gar festlich aus; das Pastorpaar und einige Bekannte aus der Nachbarschaft, darunter natürlich Oberamtsmann Bräuer, sind zugegen. Und mit einem Male schlägt der Justizrat an sein Glas und hält eine Rede, die den Zweck hat, seinen lieben Freunden mitzuteilen, daß er sich entschlossen habe, sein Gut zu verpachten. Und zwar gebe er es in diejenigen Hände, die es mit eisernem Fleiße und größter Sachkenntnis auf die Höhe gebracht, die es zu einem Mustergute für die ganze Gegend herausgebildet haben. »So fordere ich denn Sie alle, meine lieben und verehrten Gäste, auf, mit mir anzustoßen auf das Wohl meines Pächters, des Herrn Reinhard Kuhnke. Er lebe hoch.« »Hoch, hoch,« schallt es im Kreise, und wahre Freude und inniges Glück malen sich auf den Gesichtern der Beteiligten. Elly allein kann nicht den unbefangenen Ton echter Freundlichkeit finden. Sie ist im höchsten Grade überrascht und verwirrt. Dennoch sucht auch sie ihre Glückwünsche zu stammeln, und – das Glück macht weichherzig – Reinhard dankt ihr mit offener Herzlichkeit.

Als Elly aber nach einigen Wochen abreist, Bitterkeit und Reue im Herzen, da ist ihr die Gewißheit geworden, daß nicht sie in Waldvorwerk an Kuhnkes Seite herrschen, sondern daß Dorothea die Stelle einnehmen wird, die sie einst verschmähte. Und trotz der großen Verschiedenheit der Lebenssphären, in denen Beide aufwuchsen, sehen die Eltern dem Kommenden frohen Herzens entgegen.


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