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Anna Quangel hatte es schwerer als ihr Mann: sie war eine Frau. Sie sehnte sich nach Aussprache, Sympathie, ein wenig Zärtlichkeit – und jetzt war sie immer allein, von morgens bis abends mit dem Entwirren und Aufrollen von Bindfäden beschäftigt, die sackweise in ihre Zelle gestellt wurden. So knapp sie ihr Mann auch mit Worten und Taten der Gemeinsamkeit gehalten hatte, dieses Wenig schien ihr jetzt wie ein Paradies, ja, die Anwesenheit nur eines stummen Otto wäre ihr schon ein Segen gewesen.
Sie weinte viel.
Der harte, lange Dunkelarrest hatte ihr bißchen Kraft genommen, dieses bißchen durch das Wiedersehen mit Otto wieder aufgeflammte Kraft, das sie in der Hauptverhandlung so stark und mutig gemacht hatte. Sie hatte zu sehr hungern und frieren müssen, sie mußte es ja auch jetzt in ihrer kahlen Einzelzelle. Sie konnte nicht wie ihr Mann den schmalen Küchenzettel mit rohen Erbsen aufbessern, sie hatte es nicht gelernt, wie er, ihrem Tag eine sinnvolle Einteilung zu geben, einen wechselnden Rhythmus, der immer noch etwas wie Freude erwarten ließ: nach der Arbeit eine Stunde Spaziergang oder die Zufriedenheit über einen frischgewaschenen Körper.
Auch Anna Quangel hatte es gelernt, nachts aus dem Zellenfenster zu lauschen. Aber sie stand nicht nur manchmal an ihm, sie tat es allnächtlich. Und sie flüsterte, sie sprach am Fenster, sie erzählte ihre Geschichte, sie fragte immer wieder nach Otto, nach Otto Quangel ... O Gott, wußte denn wirklich hier niemand, wo Otto war, wie es ihm ging, Otto Quangel, ja doch, ein älterer Werkmeister, aber noch rüstig, sah so und so aus, dreiundfünfzig Jahre – sie mußten es doch wissen!
Sie merkte es nicht, oder sie wollte es nicht merken, daß sie den andern lästig fiel mit ihren ewigen Fragen, ihrem hemmungslosen Erzählen. Hier hatte jede ihre eigenen Sorgen.
»Halt doch endlich mal deine Klappe, du da, Nummer 76, das wissen wir nun alles, was du quatschst!«
Oder auch: »Ach, das ist die wieder mit ihrem Otto, von hinten und von vorne Otto, was?«
Oder ganz scharf: »Wenn du nicht endlich die Klappe hältst, verpfeifen wir dich! Jetzt wollen auch mal andre drankommen!«
Kroch dann Anna Quangel endlich tief in der Nacht unter ihre Decke, schlief sie noch viel später ein, so fand sie am nächsten Morgen nicht rechtzeitig heraus. Die Aufseherin schalt mit ihr und drohte ihr einen neuen Arrest an. Spät setzte sie sich an die Arbeit, zu spät. Sie mußte sich hetzen und machte allen Erfolg ihrer Hetzerei wieder zunichte, weil sie ein Geräusch auf dem Flur gehört zu haben glaubte und nun an der Tür lauschte. Eine halbe Stunde lang, eine Stunde lang. Sie, die eine ruhige, freundliche, mütterliche Frau gewesen war, veränderte sich durch die Einzelhaft so, daß alle sich an ihr ärgerten. Da die Aufseherinnen stets Mühe mit ihr hatten und unfreundlich mit ihr waren, fing sie Streit mit ihnen an; sie behauptete, ihr gebe man am wenigsten und am schlechtesten zu essen, aber die meiste Arbeit. Schon ein paarmal hatte sie sich bei diesem Wortgefecht so erhitzt, daß sie zu schreien anfing, einfach sinnlos zu schreien.
Dann hielt sie selbst erschrocken inne. Sie bedachte den Weg, den sie gegangen war, bis in diese kahle Todeszelle hinein, sie dachte an ihr Heim in der Jablonskistraße, das sie nie wiedersehen würde, sie erinnerte sich des Sohnes Otto, wie er größer wurde, seines kindlichen Geplauders, der ersten Schulsorgen, der kleinen grauen Hand, die mit ungeschickter Zärtlichkeit ihr ins Gesicht gefaßt hatte – ach, diese Kinderhand, die sich in ihrem Leibe, aus ihrem Blut zu Fleisch gebildet hatte, sie war längst wieder zu Erde zerfallen, sie war ihr auf ewig verloren. Sie dachte an die Nächte, da die Trudel bei ihr im Bett gelegen hatte, wenn sie flüsternd, den blühenden jungen Leib nahe dem ihrigen, sich stundenlang unterhalten hatten, über den strengen Vater, der drüben im Bett schlief, über Ottochen und über ihre Zukunftsaussichten. Aber auch die Trudel war verloren.
Und dann dachte sie an die gemeinsame Arbeit mit Otto, an den Kampf, den sie beide über zwei Jahre in aller Stille geführt hatten. Die Sonntage kamen ihr in Erinnerung, wenn sie gemeinsam am Tisch in der Stube saßen, sie in der Sofaecke, Strümpfe stopfend, und er auf seinem Stuhl, sein Schreibzeug vor sich, gemeinsam Sätze formulierend, gemeinsam Träumen vom großen Erfolg nachhängend. Verloren, vorbei, alles verloren, alles vorbei! Einsam in der Zelle, nur noch den nahen, gewissen Tod vor sich, ohne Wort von Otto, vielleicht nie wieder sein Gesicht – allein zum Sterben, allein im Grabe ...
Sie geht stundenlang in der Zelle auf und ab, sie erträgt es nicht. Sie hat ihre Arbeit vergessen, die Bindfadenknäuel liegen noch immer verknotet und verwirrt auf der Erde, sie stößt sie mit dem Fuße fort, ungeduldig – und als die Wärterin die Zelle am Abend aufschließt, ist nichts getan. Es gibt harte Worte, aber sie hört gar nicht hin, mögen die doch mit ihr machen, was sie wollen, mögen die sie doch schnell hinrichten – um so besser!
»Paßt auf, was ich euch sage«, sagte die Aufseherin ihren Kolleginnen. »Die fängt bald an zu spinnen, haltet immer schon eine Tobjacke bereit. Und seht oft nach ihr rein, die ist imstande und baumelt sich am hellerlichten Tage, im Handumdrehen baumelt die sich auf, und wir haben nachher die Scherereien!«
Aber darin hatte die Aufseherin unrecht: an Aufbaumeln denkt Anna Quangel nicht. Was sie am Leben erhält, was selbst dieses niedere Dasein ihr lebenswert erscheinen läßt, das ist der Gedanke an Otto. Sie kann doch nicht so von hier fortgehen, sie muß warten, vielleicht bekommt sie eine Nachricht von ihm, vielleicht wird ihr sogar erlaubt, ihn noch einmal vor ihrem Tode wiederzusehen.
Und dann, eines Tages unter diesen trüben Tagen, scheint das Glück ihr zu lächeln. Eine Wärterin öffnet plötzlich die Zellentür: »Mitkommen, Quangel! Besuch!«
Besuch? Wer soll mich hier besuchen? Ich habe doch keinen, der mich hier besuchen kann. Es wird Otto sein! Es muß Otto sein! Ich fühle es, das ist Otto!
Sie wirft einen Blick auf die Wärterin, sie möchte ihr so gerne die Frage nach dem Besucher stellen, aber es ist gerade eine Wärterin, mit der sie ständig Streit gehabt hat, sie kann diese Frau nicht fragen. Sie folgt ihr, am ganzen Leibe zitternd, sie sieht nichts, sie weiß nicht, wohin sie gehen, sie erinnert sich nicht mehr, daß sie bald sterben muß – sie weiß nur, sie geht zu Otto, zu dem einzigen Menschen auf der ganzen Welt ...
Die Wärterin übergibt die Gefangene 76 einem Wachtmeister, sie wird in eine Stube geführt, die durch ein Gitter in zwei Hälften geteilt ist, auf der andern Seite des Gitters steht ein Mann.
Und alle Freude fällt von Anna Quangel ab, als sie diesen Mann sieht. Es ist nicht Otto, es ist nur der alte Kammergerichtsrat Fromm. Da steht das Männlein, sieht ihr entgegen mit seinen blauen Augen, die von einem Fältchenkranz umgeben sind, und sagt: »Ich wollte doch mal nach Ihnen sehen, Frau Quangel.«
Der Aufsichtsbeamte hat sich ans Gitter gestellt, er betrachtet nachdenklich die beiden. Dann wendet er sich gelangweilt ab und geht ans Fenster.
»Schnell!« flüstert der Rat und hält ihr durchs Gitter etwas hin.
Instinktiv faßt sie zu.
»Stecken Sie es weg!« flüstert er.
Und sie verbirgt das weiße Röllchen.
Ein Brief von Otto, denkt sie, und ihr Herz klopft wieder freier. Die Enttäuschung ist überwunden.
Der Beamte hat sich wieder umgedreht und sieht vom Fenster her auf die beiden.
Endlich findet Anna ein paar Worte. Sie begrüßt den Kammergerichtsrat nicht, sie sagt keinen Dank, sie stellt die einzige Frage, die sie noch auf der Welt interessiert: »Haben Sie Otto gesehen, Herr Kammergerichtsrat?«
Der alte Herr wiegt den klugen Kopf hin und her. »Nicht in der letzten Zeit«, antwortet er. »Aber ich habe durch Freunde gehört, daß es ihm gut geht, sehr gut. Er hält sich wunderbar.«
Er bedenkt sich und setzt nach einem kurzen Zögern hinzu:
»Ich glaube, ich darf Sie von ihm grüßen.«
»Danke«, flüstert sie. »Danke sehr.«
Viele verschiedene Empfindungen sind bei seinen Worten durch sie gelaufen. Wenn er ihn nicht gesehen hat, kann er auch keinen Brief von ihm haben. Aber nein, er spricht von Freunden; vielleicht bekam er durch die Freunde einen Brief? Und die Worte »Er hält sich wunderbar« geben ihr Glück und Stolz ... Und dieser Gruß von ihm, dieser Gruß zwischen den Eisen- und Steinzellen, dieser Frühling zwischen Mauern! O herrlich, herrlich, ein herrliches Leben!
»Sie sehen aber nicht gut aus, Frau Quangel«, sagt der alte Rat.
»Ja?« fragt sie, ein wenig verwundert, geistesabwesend. »Aber mir geht es gut. Sehr gut. Sagen Sie das Otto. Bitte, sagen Sie es ihm! Vergessen Sie nicht, ihn von mir zu grüßen. Sie werden ihn doch sehen?«
»Ich denke, ja«, antwortet er zögernd. Er ist so penibel, der kleine, ordentliche Herr. Die kleinste Unwahrheit dieser Sterbenden gegenüber widerstrebt ihm. Sie ahnt es ja nicht, welche Listen er hat aufwenden, welche Intrigen er hat anzetteln müssen, um diese Besuchserlaubnis zu erhalten! Daß er seine sämtlichen Beziehungen hat einspannen müssen! Für die Welt ist Anna Quangel ja tot – kann man denn Tote besuchen?
Aber er wagt ihr nicht zu sagen, daß er Otto Quangel in diesem Leben nie wiedersehen wird, daß er nichts von ihm gehört hat, daß er eben gelogen hat mit seinem Gruß, um dieser völlig verfallenen Frau doch ein wenig Mut zu geben. Manchmal muß man eben auch Sterbende belügen.
»Ach!« sagt sie plötzlich ganz lebhaft, und – siehe! – ihre blassen, eingefallenen Wangen röten sich. »Sagen Sie Otto doch, wenn Sie ihn sehen, daß ich jede Stunde an ihn denke und daß ich bestimmt weiß, ich werde ihn noch sehen, ehe ich sterbe ...«
Der Aufseher sieht einen Augenblick verwirrt auf die alternde Frau, die hier spricht wie ein junges, verliebtes Mädchen. Altes Stroh brennt am hellsten! denkt er und geht wieder ans Fenster.
Sie hat nichts davon gemerkt, sie fährt fieberhaft fort: »Und sagen Sie Otto doch auch, daß ich eine schöne Zelle habe für mich ganz allein. Es geht mir gut. Ich denke immer an ihn, und so bin ich glücklich. Ich weiß, daß uns nie etwas trennen kann, nicht Mauern, nicht Gitter. Ich bin bei ihm, jede Stunde bei Tag und bei Nacht. Sagen Sie ihm das!«
Sie lügt, oh, wie sie lügt, um ihrem Otto nur etwas Gutes zu sagen!
Sie will ihm Ruhe geben, die Ruhe, die sie nicht eine Stunde gehabt hat, seit sie in diesem Hause ist.
Der Kammergerichtsrat schielt zu dem Aufseher hinüber, der aus dem Fenster starrt, er flüstert: »Verlieren Sie nicht, was ich Ihnen gegeben habe!«, denn Frau Quangel sieht aus, als habe sie die ganze Welt vergessen.
»Nein, ich verliere nichts, Herr Rat.« Und plötzlich leise: »Was ist es?«
Und er noch leiser: »Gift, Ihr Mann hat es auch.«
Sie nickt.
Der Beamte am Fenster dreht sich um. Er sagt mahnend: »Hier darf nur laut gesprochen werden, sonst ist gleich Schluß. Übrigens«, er befragt seine Uhr, »ist die Besuchszeit sowieso in anderthalb Minuten um.«
»Ja«, sagt sie nachdenklich. »Ja«, und plötzlich weiß sie, wie sie es sagen soll. Sie fragt: »Und glauben Sie, daß Otto bald verreisen wird – vor seiner großen Reise noch? Glauben Sie das?«
Ihr Gesicht drückt jetzt so sehr schmerzliche Unruhe aus, daß selbst der stumpfe Beamte merkt, es geht hier um ganz andere Dinge, als gesprochen wird. Einen Augenblick will er einschreiten, aber dann sieht er diese alternde Frau an und diesen Herrn mit dem weißen Spitzbart, der laut Besuchsschein Kammergerichtsrat ist – der Beamte hat eine großmütige Anwandlung und sieht wieder aus dem Fenster.
»Ja, das ist schwer zu sagen«, antwortet der Rat vorsichtig. »Mit dem Reisen ist es ja jetzt auch schwierig.« Und ganz rasch, flüsternd: »Warten Sie bis zur allerletzten Minute, vielleicht sehen Sie ihn noch vorher. Ja?«
Sie nickt, sie nickt wieder.
»Ja«, antwortet sie laut. »So ist es wohl das allerbeste.«
Und dann stehen sich die beiden stumm gegenüber, plötzlich fühlen sie, sie haben sich nichts mehr zu sagen. Zu Ende. Vorbei.
»Ja, ich glaube, ich muß dann gehen«, sagt der alte Rat.
»Ja«, flüstert sie zurück, »ich glaube, es wird Zeit.«
Und plötzlich – der Aufseher hat sich schon umgewendet und sieht, mit der Uhr in der Hand, auffordernd die beiden an – überkommt es Frau Quangel. Sie preßt den Körper gegen das Gitter, sie flüstert, den Kopf an den Gitterstäben: »Bitte, bitte – Sie sind vielleicht der letzte anständige Mensch auf der Welt, den ich zu sehen bekomme. Bitte, Herr Rat, geben Sie mir einen Kuß! Ich werde die Augen zumachen, ich werde glauben, es ist Otto ...«
Mannstoll! denkt der Aufseher. Soll hingerichtet werden und noch immer mannstoll! Und so ein oller ...
Aber der alte Rat sagt mit sanfter, freundlicher Stimme: »Nicht bange sein, Kind, nicht bange sein ...«
Und seine alten, dünnen Lippen berühren sanft ihren trockenen, rissigen Mund.
»Nicht bange sein, Kind. Sie haben den Frieden bei sich ...«
»Ich weiß«, flüstert sie. »Ich danke Ihnen sehr, Herr Rat.«
Dann ist sie wieder in ihrer Zelle, die Bindfäden liegen unordentlich am Boden, und sie geht hin und her, sie ungeduldig mit den Füßen stoßend, wie in ihren schlimmsten Tagen. Sie hat den Zettel gelesen, sie hat ihn verstanden. Sie weiß nun, Otto wie sie haben eine Waffe, sie können jederzeit dieses jammervolle Leben von sich werfen, wenn es gar zu unerträglich wird. Sie braucht sich nicht mehr quälen zu lassen, sie kann jetzt, in dieser Minute, da noch ein bißchen Glück von dem Besuch in ihr ist, ein Ende machen.
Sie wandert, sie redet mit sich, sie lacht, sie weint.
An der Tür lauschen sie. Sie sagen: »Jetzt fängt sie richtig an zu spinnen. Ist die Tobjacke bereit?«
Die Frau drinnen merkt nichts davon, sie kämpft ihren schwersten Kampf. Sie sieht den alten Rat Fromm wieder vor sich, sein Gesicht war so ernst, als er sagte, sie möge bis zur allerletzten Minute warten, vielleicht bekomme sie ihren Mann doch noch einmal zu sehen.
Und sie hat ihm zugestimmt. Natürlich ist es das richtige, sie muß warten, Geduld üben, vielleicht dauert es noch Monate. Aber seien es auch nur noch Wochen, es ist so schwer, jetzt noch zu warten. Sie kennt sich doch, wieder wird sie verzweifeln, lange weinen, in Trübsinn verfallen, alle sind so hart mit ihr, nie ein gutes Wort, nie ein Lächeln. Die Zeit wird kaum zu ertragen sein. Sie braucht nur ein bißchen zu spielen, mit der Zunge und mit den Zähnen, es braucht ja noch gar nicht Ernst zu sein, nur so ein bißchen probieren, und schon ist es geschehen. Es ist ihr jetzt so leicht gemacht – es ist ihr zu leicht gemacht!
Das ist es. In irgendeiner Stunde wird sie schwach sein, sie wird es tun, und in dem Augenblick, da sie es getan hat, in dem ganz kleinen Augenblick zwischen Tat und Tod wird sie es bereuen, wie sie nie etwas im Leben bereut hat: sie hat sich der Aussicht beraubt, ihn noch einmal wiederzusehen, weil sie feige und schwach war. Man wird ihm die Nachricht von ihrem Tode bringen, und er wird erfahren, daß sie ihn verlassen hat, daß sie ihn verraten hat, daß sie feige war. Und er wird sie verachten, er, dessen Achtung ihr allein auf der Welt etwas gilt.
Nein, sie muß diese unselige Glasröhre auf der Stelle zerstören. Morgen früh kann es vielleicht zu spät sein, wer weiß, in welcher Stimmung sie morgen früh aufwacht.
Aber auf dem Wege zum Kübel hält sie inne ...
Und wieder nimmt sie ihre Wanderung auf. Plötzlich hat sie sich erinnert, daß sie sterben muß und wie sie sterben muß. Sie hat es ja gehört in diesem Gefängnis, bei ihren Fenstergesprächen, daß es nicht der Galgen sein wird, der sie erwartet, sondern das Fallbeil. Sie haben es ihr gerne geschildert, wie man sie auf den Tisch schnallen wird, auf dem Bauche liegend wird sie in einen mit Sägemehl halbgefüllten Korb starren, und auf dieses Sägemehl fällt in wenigen Sekunden ihr Kopf. Man wird ihren Nacken entblößen, und über diesem Nacken wird sie die Kälte des Fallbeils spüren, noch ehe es zu stürzen beginnt. Dann wird das Sausen immer lauter werden, es wird in ihren Ohren dröhnen wie eine Trompete des Jüngsten Gerichts, und dann wird ihr Körper nur ein zuckendes Etwas sein, dessen Halsstumpf dicke Strahlen Blut ausspeit, während der Kopf im Korbe vielleicht nach dem blutspeienden Halse glotzt und noch sehen kann, fühlen kann, leiden kann ...
So haben sie es ihr erzählt, und so hat sie es sich viele hundert Male vorstellen müssen, und davon hat sie geträumt manches Mal, und von all diesen Schrecknissen kann ein einziger Biß auf das Glasröhrchen sie befreien! Und das soll sie von sich tun, diese Erlösung soll sie aufgeben? Sie hat die Wahl zwischen einem leichten Tod und einem schweren Tod – und sie soll den schweren Tod wählen, bloß weil sie Furcht hat, schwach zu werden, vor Otto zu sterben? Sie schüttelt den Kopf, nein, sie wird nicht schwach werden. Sie kann das doch, warten bis zur letzten Minute. Sie will Otto wiedersehen.
Sie hat die Angst ausgehalten, die sie immer ergriff, wenn Otto die Karten ablegte, sie hat den Schreck der Verhaftung ausgehalten, sie hat die Quälereien des Kommissars Laub überstanden, sie hat Trudels Tod verwunden – sie wird doch noch warten können, ein paar Wochen, ein paar Monate! Sie hat alles ertragen – auch dies wird sie ertragen! Natürlich muß sie das Gift aufbewahren bis zur letzten Minute.
Sie wandert auf und ab, auf und ab.
Aber der eben gefaßte Entschluß erleichtert sie nicht. Von neuem beginnt der Zweifel, und von neuem schlägt sie sich mit ihm herum, und wieder beschließt sie, das Gift jetzt, sofort, auf der Stelle zu vernichten, und wieder tut sie es nicht.
Darüber ist es Abend geworden und Nacht. Man hat die ungetane Arbeit aus der Zelle geholt, und es ist ihr eröffnet worden, daß ihr wegen Faulheit für eine Woche die Matratze entzogen und daß sie für eine Woche auf Wasser und Brot gesetzt worden ist. Aber sie hat kaum hingehört. Was geht das sie an, was sie reden?
Ihre Abendsuppe steht unangerührt auf dem Tisch, und noch immer läuft sie auf und ab, todmüde, keines klaren Gedankens mehr fähig, eine Beute des Zweifels: Soll ich – soll ich nicht?
Jetzt spielt ihre Zunge mit dem Giftröhrchen im Munde, ohne daß sie es recht weiß, ohne daß sie es recht will, setzt sie ihre Zähne sanft, sanft auf das Glas auf, ganz vorsichtig beißen die Zähne ein wenig ...
Und hastig holt sie das Glas aus der Mundhöhle. Sie wandert und probiert, sie weiß nicht mehr, was sie tut – und draußen liegt die Tobjacke für sie bereit ...
Dann plötzlich, schon tief in der Nacht, entdeckt sie, daß sie auf ihrer Holzpritsche liegt, auf den harten Brettern, mit der dünnen Decke zugedeckt. Sie zittert vor Kälte am ganzen Leibe. Hat sie geschlafen? Ist das Röhrchen noch da? Hat sie es etwa verschluckt? Sie hat es nicht mehr im Munde!
Sie fährt in ihrer Angst hoch, setzt sich auf – und lächelt. Da ist es – in ihrer Hand. Sie hat es in der hohlen Hand gehalten während des Schlafs. Sie lächelt, noch einmal ist sie gerettet. Nicht den andern, fürchterlichen Tod muß sie sterben ...
Und während sie da so frierend sitzt, denkt sie daran, daß sie von heut an jeden Tag, der werden wird, diesen schrecklichen Kampf kämpfen muß zwischen Willen und Schwäche, Feigheit und Mut. Und wie ungewiß der Ausgang dieses Kampfes ist ...
Und durch Zweifel und Verzweiflung hört sie eine sanfte gütige Stimme: Nicht bange sein, Kind, bloß nicht bange sein ...
Plötzlich weiß Frau Anna Quangel: Jetzt werde ich mich entschließen! Jetzt habe ich die Kraft!
Sie schleicht zur Tür, sie lauscht hinaus auf den Gang. Der Schritt der Aufseherin nähert sich. Sie stellt sich an die Wand gegenüber, beginnt dann, als sie merkt, sie wird durch den Spion beobachtet, langsam auf und ab zu gehen. Nicht bange sein, Kind ...
Erst als sie ganz sicher ist, die Aufseherin ist weitergegangen, klettert sie am Fenster hoch. Eine Stimme fragt: »Bist du das, Sechsundsiebzig? Hast du heute Besuch gehabt?«
Sie antwortet nicht. Sie wird nie mehr antworten. Mit der einen Hand hält sie sich an der Fensterblende, die andere streckt sie hinaus, zwischen den Fingern das Röhrchen. Sie drückt es gegen die Steinwand, sie fühlt, der dünne Hals bricht ab. Sie läßt das Gift in die Tiefe des Hofes fallen.
Als sie wieder in der Zelle ist, riecht sie an ihren Fingern: sie riechen stark nach bitteren Mandeln. Sie wäscht sich die Hände, sie legt sich auf das Bett. Sie ist todmüde, ihr ist, als sei sie einer schweren Gefahr entronnen. Sie schläft rasch ein. Sie schläft sehr tief und traumlos. Sie wacht erfrischt auf.
Von dieser Nacht an gab Sechsundsiebzig keinen Anlaß mehr zu Tadel. Sie war ruhig, heiter, fleißig, freundlich.
Sie dachte kaum noch an ihren schweren Tod, sie dachte nur noch daran, daß sie Otto Ehre machen mußte. Und manchmal, in trüben Stunden, hörte sie wieder die Stimme des alten Kammergerichtsrats Fromm: Nicht bange sein, Kind, bloß nicht bange sein.
Sie war es nicht. Nie mehr.
Sie hatte es überwunden.