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Der Feinmechaniker Enno Kluge saß ungeduldig wartend im Vorzimmer eines Arztes. Er saß dort mit noch andern dreißig oder vierzig Wartenden. Eine stets gereizte Sprechstundenhilfe rief eben die Nummer 18 aus, Enno aber hatte die Nummer 29. Er würde noch über eine Stunde sitzen müssen, und in der Kneipe »Ferner liefen« wartete man schon auf ihn.
Enno Kluge konnte es nicht länger beim Sitzen aushalten. Er wußte gut, er durfte nicht eher gehen, bis der Arzt da vorn ihn krank geschrieben hatte, sonst gab es Stunk in der Fabrik. Aber eigentlich konnte er gar nicht länger warten, sonst war es zu spät, noch seine Rennwetten abzuschließen.
Enno will im Wartezimmer auf und ab gehen. Aber dafür ist es viel zu voll, er wird angeschnauzt. So zieht er sich auf den Flur zurück, und als ihn die Sprechstundenhilfe dort entdeckt und sehr gereizt auffordert, ins Wartezimmer zurückzugehen, fragt er sie nach der Toilette.
Sie zeigt sie ihm widerspenstig genug, und sie will auch abwarten, bis der Mann wieder herauskommt. Aber dann geht die Flurklingel ein paarmal kurz nacheinander, und sie muß den 43., den 44., den 45. Patienten empfangen, sie hat Personalien aufzunehmen, Kartothekkarten auszufüllen, Krankenscheine zu stempeln.
So geht das vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. Sie ist halbtot, der Arzt ist halbtot, und nie verläßt sie mehr dieser unselige Zustand dauernder Gereiztheit, in dem sie nun schon Wochen und Wochen ist. In diesem Zustand hat sie einen wahren Haß auf diesen immer weiter fließenden Strom von Patienten geworfen, die sie nie mehr zur Ruhe kommen lassen, die schon morgens um acht Uhr, wenn sie kommt, geduldig an der Tür stehen, und die noch abends um zehn im Wartezimmer herumhocken, es mit ihren üblen Gerüchen erfüllend: alles Drückeberger von der Arbeit, Drückeberger von der Front, Menschen, die sich auf eine ärztliche Bescheinigung mehr Lebensmittel, bessere Lebensmittel erschleichen wollen. Alles Leute, die sich von ihren Pflichten drücken wollen, sie aber kann das nicht. Sie muß hier aushalten, darf nicht krank sein (was finge denn der Doktor ohne sie an?), sie muß noch freundlich sein zu diesen Heuchlern, die alles schmutzig machen, vollschleimen, vollkotzen! Auf der Toilette liegt immer alles voll Zigarettenasche.
Dabei fällt ihr der kleine Schleicher ein, dem sie vorhin die Toilette hat zeigen müssen. Sicher sitzt der noch immer da und qualmt Zigaretten. Sie springt auf, rennt hinaus, rüttelt an der Tür.
»Besetzt!« ruft es von drinnen.
»Wollen Sie wohl machen, daß Sie da runterkommen!« fängt sie zornig zu schelten an. »Denken Sie, Sie können da Stunden und Stunden sitzen? Andere Leute möchten auch die Toilette benutzen!«
Sie wirft dem an ihr vorbeischleichenden Kluge zornig die Worte nach: »Natürlich alles wieder vollgequalmt! Ich werde dem Herrn Doktor erzählen, wie krank Sie sind! Sie sollen mal was erleben!«
Entmutigt lehnt Enno Kluge im Sprechzimmer gegen die Wand – sein Stuhl ist unterdes auch besetzt worden. Der Arzt ist inzwischen bis Nummer 22 gekommen. Wahrscheinlich ganz sinnlos, hier noch weiter zu warten. Das Biest da draußen ist imstande, den Arzt aufzuhetzen, daß er ihn wirklich nicht krank schreibt. Und was dann? Dann funkt es draußen in der Fabrik! Er fehlt nun schon mal wieder den vierten Tag; die sind imstande und schicken ihn wirklich noch in eine Strafkompanie oder in ein KZ – imstande sind die Brüder dazu! Ja, er muß heute noch einen Krankenschein kriegen, und es ist am schlauesten, er wartet hier weiter, da er nun schon so lange gewartet hat. Bei einem andern Arzt ist es ebenso voll, er muß bis in die Nacht sitzen, und von diesem hier hat er wenigstens gehört, daß er leicht krank schreibt. Wird er heute eben mal nicht auf Pferde wetten, muß es eben heute mal ohne den Enno gehen, hilft nichts ...
Er lehnt hüstelnd gegen die Wand, ein schwächliches Etwas. Besser ein Garnichts. Von jener Abreibung durch den SS-Mann Persicke hat er sich nie ganz erholen können. Jawohl, mit der Arbeit war es nach ein paar Tagen besser geworden, obwohl seine Hände nicht wieder die alte Geschicklichkeit erlangten. Es reichte jetzt gerade zu einem Durchschnittsarbeiter. Nie wieder würde er die alte Handfertigkeit erlangen, ein angesehener Mann in seinem Fach werden.
Vielleicht war es das, was ihm die Arbeit so gleichgültig machte, vielleicht lag es aber auch daran, daß er auf die Länge überhaupt nicht gerne mehr arbeitete. Er sah den Sinn und den Zweck der Arbeit nicht so recht ein. Wozu sich so anstrengen, wenn man auch ohne Arbeit ausreichend leben konnte! Etwa für den Krieg? Die sollten ihren Scheißkrieg gut und gerne alleine führen, ihn interessierte der nicht. Vielleicht schickten die mal ihre ganzen fetten Bonzen an die Front, dann würde der Krieg schnell aus sein!
Nein, es war aber auch nicht die Frage nach dem Sinn seiner Arbeit, die ihm alle Tätigkeit verhaßt machte. Es war der Umstand, daß Enno zur Zeit ohne Arbeit leben konnte. Ja, er war schwach gewesen, er gestand es sich jetzt ein, er war wieder zu den Weibern gegangen, erst zu Tutti, dann zu Lotte, und die waren auch ganz bereit gewesen, diesen kleinen, anschmiegsamen Mann eine Weile durchzuschleppen. Und sobald man sich mit den Weibern einließ, war es mit jeder geregelten Arbeit aus. Schon morgens schimpften sie, wenn er um sechs Uhr seinen Kaffee und das Frühstück verlangte, was das wohl heißen sollte? Um diese Zeit schlief jeder Mensch, und ob er es denn nötig habe? Er solle doch ruhig wieder ins warme Bett kriechen!
Nun, ein- oder zweimal bestand man ein solches Gefecht siegreich, aber, wenn man ein Enno Kluge war, kein drittes Mal. Man gab nach, kroch zu der Frau in die Betten und schlief noch ein oder zwei oder sogar noch drei Stunden.
War es so spät, ging er überhaupt nicht mehr in die Fabrik, sondern machte den Tag blau. Oder war es noch früher, kam man eben ein bißchen zu spät zur Arbeit, mit irgendeiner lahmen Entschuldigung, wurde angeschnauzt (aber das war man ja schon lange gewohnt, da hörte man gar nicht mehr hin), tat ein paar Stunden was und ging heim, wieder vom Geschimpfe empfangen: Wozu man denn einen Mann im Haus hielte, wenn er den ganzen Tag fort war? Wegen der paar Mark! Die wären gewiß leichter zu verdienen! Nein, wenn es Arbeit sein mußte, wäre er besser in seinem engen Hotelzimmerchen geblieben, Weiber und Arbeit, das ließ sich nicht vereinigen. Bei einer ja, bei der Eva – und natürlich hatte Enno Kluge auch wieder einen Versuch gemacht, bei seiner Frau, der Briefbestellerin, unterzukriechen. Aber da erfuhr er von der Frau Gesch, daß die Eva verreist war. Die Gesch hatte einen Brief von ihr gekriegt, sie saß irgendwo im Ruppinschen bei Verwandten. Jawohl, sie, die Gesch, hatte jetzt die Schlüssel zu der Wohnung, aber sie dachte nicht daran, sie dem Enno Kluge auszuhändigen. Wer schickte regelmäßig die Miete: er oder seine Frau? Nun also, gehörte die Wohnung doch ihr, nicht ihm! Sie hatte sich seinetwegen schon genug Ungelegenheiten gemacht, sie dachte gar nicht daran, ihm die Wohnung freizugeben.
Übrigens, wenn er durchaus was für seine Frau tun wolle, so sollte er doch mal auf die Post gehen. Die hatten schon ein paarmal nach Frau Kluge geschickt, und vor kurzem war auch eine Vorladung vor irgendein Parteigericht gekommen; die Gesch hatte sie einfach mit dem Vermerk »Empfänger unbekannt verreist« zurückgehen lassen. Aber das auf der Post sollte er ruhig mal regeln. Seine Frau hatte da sicher noch Ansprüche.
Das mit den Ansprüchen hatte ihn gezwickt; schließlich konnte er sich als rechtlicher Ehemann ausweisen, Evas Ansprüche waren auch seine Ansprüche. Aber der Weg erwies sich als Fehlweg; auf der Post nahmen sie ihn mächtig in die Zange. Die Eva mußte irgendwas mit der Partei angestellt haben, die waren wütend auf sie! Er hatte es gar nicht mehr eilig, sich als rechtlicher Ehemann Evas auszuweisen – im Gegenteil, er gab sich die größte Mühe, nachzuweisen, daß er schon länger von der Eva getrennt lebe und keine Ahnung von ihrem Tun und Lassen hatte.
Schließlich ließen sie ihn laufen. Was war aus solchem kleinen Männchen auch herauszuholen, das immer bereit war, gleich loszuheulen, und das bei jedem Anpfiff zu zittern anfing? Also, er konnte gehen, er sollte machen, daß er fortkam, und wenn er seine Frau doch mal wiedersah, so sollte er sie sofort hierher aufs Amt schicken. Oder besser noch: Er solle denen einen Wink geben, wo sie wohnte, das Weitere würden sie von hier aus erledigen.
Auf seinem Heimweg zur Lotte grinste Enno Kluge wieder. Also die tüchtige Eva saß auch in der Klemme, war ins Ruppinsche zu ihren Verwandten ausgerissen und wagte nicht mehr, sich in Berlin sehen zu lassen! So dumm war Enno natürlich nicht gewesen, den Postleuten zu verraten, wohin die Eva gereist war; so schlau wie die Gesch war er auch. Es bliebe ein letzter Ausweg, wenn es hier in Berlin für ihn mal ganz schiefgehen sollte, so konnte er immer noch bei der Eva auftauchen, vielleicht nahm sie ihn doch auf. Sie würde sich auch vor den Verwandten genieren, allzu scharf gegen ihn aufzutreten. Eva gab noch was auf Ansehen und guten Ruf. Und schließlich hatte er sie ja durch Karlemanns Heldentaten in der Schraube; sie würde es nie leiden, daß er davon ihren Verwandten erzählte, lieber noch nahm sie ihn in Kauf.
Ein letzter Ausweg, wenn wirklich alles schiefging. Vorläufig hatte er noch seine Lotte. Sie war wirklich ganz nett, bis auf die Schnauze, die sie nicht eine Sekunde halten konnte, und bis auf ihre verdammte Angewohnheit, ewig Männer auf die Bude zu bringen. Er mußte dann die halbe, manchmal sogar die ganze Nacht in der Küche hocken – und am nächsten Tag war es wieder nichts mit der Arbeit.
Es war nie mehr ganz das Rechte mit der Arbeit, und es würde auch nie mehr richtig werden, das wußte er. Aber vielleicht ging dieser Krieg schneller zu Ende, als man jetzt dachte, und es gelang ihm doch noch, die solange hinzuhalten. So war er wieder ganz allmählich ins Bummeln und ins Blaumachen gekommen. Der Meister kriegte schon einen wutroten Kopf, wenn er ihn nur sah. Dann hatte es einen zweiten Anpfiff von der Leitung gegeben, aber dieses Mal hatte er nicht lange vorgehalten. Enno Kluge sah doch auch, was hier gespielt wurde, die brauchten jeden Tag Arbeiter, so leicht warfen die ihn nicht raus!
Dann waren ganz rasch drei Bummeltage hintereinander gekommen. Er hatte da so eine reizende Witwe kennengelernt, nicht mehr ganz jung, ein bißchen sehr aus dem Leim gegangen, aber entschieden etwas Besseres als seine bisherigen Weiber. Hatte sie doch ein gutgehendes Tiergeschäft in der Nähe des Königstors! Sie handelte mit Vögeln und Fischen und Hunden, sie hatte Futter und Halsbänder und Sand und Hundekuchen und Mehlwürmer. Es gab Schildkröten bei ihr, Laubfrösche, Salamander, Katzen ... Ein Geschäft, das wirklich was trug, und sie war eine tüchtige Frau, eine richtige Geschäftsfrau.
Er hatte sich ihr gegenüber als Witwer ausgegeben, er hatte sie auch glauben gemacht, Enno sei sein Nachname, sie nannte ihn Hänschen. Bestimmt, er hatte Chancen bei der Frau, das hatte er während der drei Bummeltage, die er ihr im Geschäft half, gut gesehen. So ein Männlein, das nach einem bißchen Zärtlichkeit verlangte, war ihr grade recht. Sie war in den Jahren, da einer Frau angst wird, ob sie für ihre alten Tage noch einen Mann abkriegt. Natürlich würde sie ihn heiraten wollen, aber das Ding konnte er auch schon irgendwie hindrehen, daß es paßte. Schließlich gab es jetzt Kriegstrauungen, wo die Unterlagen so genau nicht geprüft wurden, und wegen der Eva brauchte er keine Bedenken zu haben. Die würde froh sein, ihn für immer loszuwerden, die würde den Mund schon halten!
Da war plötzlich brennend in ihm der Wunsch aufgetaucht, sich erst einmal ganz von der Fabrik frei zu machen. Er mußte ja sowieso krank spielen, da er schon drei Tage ohne Entschuldigung gefehlt hatte. Da wollte er auch richtig krank sein! Und während dieser Krankheit würde er die Sache mit der Witwe Hete Häberle schon richtig zum Klappen bringen. Jetzt ekelte es ihn bei der Lotte; er konnte diese Wirtschaft nicht länger ertragen, ihr Gequassel nicht, ihre Männer nicht und am wenigsten ihre Zärtlichkeit, wenn sie angetrunken war. Nein, in drei, vier Wochen wollte er verheiratet sein und eine ordentliche Wirtschaft haben! Dazu mußte ihm der Arzt verhelfen.
Erst Nummer 24, es dauert immer noch eine halbe Stunde, bis Enno drankommt. Ganz mechanisch steigt er über all die Füße weg und steht wieder auf dem Flur. Trotz der bissigen Sprechstundenhilfe wird er noch eine Zigarette auf dem Klo stoßen. Er hat Glück, er gelangt ungesehen auf die Toilette, aber kaum hat er die ersten paar Züge gemacht, so rüttelt dieses Weibsbild doch wieder an der Tür.
»Sie sind ja schon wieder auf der Toilette! Sie rauchen ja schon wieder!« schreit sie. »Ich weiß genau, daß Sie es sind! Wollen Sie wohl machen, daß Sie rauskommen, oder muß ich erst den Herrn Doktor holen?«
Wie sie schreit, wie ekelhaft sie schreit! Da gibt er lieber gleich nach, wie er stets lieber nachgibt als widersteht. Er läßt sich von ihr in den Warteraum jagen, er sagt nicht ein Wort zu seiner Entschuldigung. Und da lehnt er nun wieder gegen die Wand und wartet, daß seine Nummer drankommt. Die wird ihn schön beim Arzt verklagen, diese verdammte Kreuzotter, die!
Die Sprechstundenhilfe hat den kleinen Enno Kluge auf seinen Platz gejagt, sie geht zurück über den Flur. Dem hat sie es aber besorgt!
Da sieht sie eine Karte am Boden liegen, etwas entfernt vom Briefkastenschlitz. Die Karte hat vor fünf Minuten noch nicht hier gelegen, als sie dem letzten Patienten öffnete, das weiß sie genau. Und es hat gar nicht geklingelt, jetzt ist doch überhaupt nicht die Zeit für Postzustellung.
All das hat die Hilfe flüchtig gedacht, während sie sich nach der Karte bückt, und später weiß sie es auch ganz genau, daß sie schon da, ehe sie die Karte in Händen hielt, ehe sie noch gesehen hatte, was mit ihr los war, daß sie da schon das Gefühl hatte, dieser kleine schleichende Mann habe etwas damit zu schaffen.
Sie wirft nur einen Blick auf den Text, liest ein paar Worte und stürzt aufgeregt zum Arzt in das Behandlungszimmer. »Herr Doktor! Herr Doktor! Was ich da eben auf unserm Flur gefunden habe!«
Sie unterbricht die Konsultation, sie erreicht, daß der halbausgezogene Patient in ein Nebenzimmer geschickt wird, dann gibt sie dem Arzt die Karte zu lesen. Sie kann es kaum abwarten, daß er zu Ende gelesen hat, und schon berichtet sie von ihrem Verdacht: »Es kann wirklich kein anderer gewesen sein als dieser kleine Schleicher! Gleich war er mir unsympathisch mit seinem scheuen Blick! Und das verkörperte schlechte Gewissen, nicht einen Augenblick hat er sich ruhig halten können, immer auf den Flur raus, zweimal hab ich ihn von der Toilette gejagt! Und wie ich das zum zweitenmal tat, da hat hinterher die Karte auf dem Flur gelegen! Von außen kann sie gar nicht eingeworfen sein, dafür hat sie viel zu weit ab vom Briefkastenschlitz gelegen! Herr Doktor, rufen Sie gleich die Polizei an, ehe der Kerl wegschleicht! O Gott, er kann jetzt schon weg sein, ich muß gleich einmal nachsehen ...«
Damit stürzt sie aus dem Behandlungszimmer, die Tür hinter sich weit offen lassend.
Der Arzt steht da, die Karte noch immer in der Hand. Es ist ihm äußerst peinlich, daß so was grade in seiner Sprechstunde passieren muß! Gottlob, daß die Hilfe die Karte fand und daß er nachweisen kann, daß er seit zwei Stunden sein Zimmer nicht verlassen hat, nicht einmal auf der Toilette ist er gewesen. Das Mädchen hat recht, das beste ist, gleich die Polizei anzurufen. Er fängt an, im Telefonbuch nach der Nummer seines Reviers zu suchen.
Das Mädchen sieht durch die offengebliebene Tür. »Er ist noch da, Herr Doktor!« flüstert sie. »Er denkt natürlich, so kann er den Verdacht von sich ablenken. Aber ich bin ganz sicher ...«
»Es ist gut«, unterbricht der Arzt die Aufgeregte. »Machen Sie bitte die Tür zu. Ich spreche jetzt mit der Polizei.«
Er erstattet seine Meldung, bekommt die Weisung, den Mann unbedingt festzuhalten, bis jemand vom Revier kommt, gibt diese Weisung an die Hilfe weiter, sagt ihr, sie solle ihn sofort rufen, wenn der Mann Anstalten macht zu gehen, und setzt sich wieder in seinen Schreibtischstuhl. Nein, die Behandlungen kann er jetzt nicht fortsetzen, er ist zu erregt. Daß gerade ihm so was passieren mußte, warum nur gerade ihm? Ein gewissenloser Kerl, dieser Kartenschreiber, er brachte die Leute in die größte Bedrängnis! Dachte er gar nicht an die Schwierigkeiten, die er ihnen mit seiner verdammten Karte machte?
Wahrhaftig, diese Karte hatte gerade noch zum Glück des Arztes gefehlt! Jetzt war die Polizei zu ihm unterwegs, vielleicht geriet er doch in Verdacht, man machte eine Haussuchung, und wenn sich dann auch erwies, daß der Verdacht falsch war, so fand man hinten in der Dienstbotenkammer ...
Der Arzt stand auf, er mußte ihr wenigstens Bescheid sagen ...
Und setzte sich wieder. Wie konnte er denn in Verdacht geraten? Und außerdem, selbst wenn man sie fand, so war sie eben seine Hausdame, wie es ja auch ihre Papiere aussagten. All das war ja hundertfach bedacht und besprochen worden, seit er sich vor gut einem Jahr von seiner Frau, einer Jüdin, hatte scheiden lassen müssen – unter dem Druck der Nazis. Er hatte es getan, hauptsächlich auf ihre Bitten hin, um den Kindern wenigstens eine Existenz zu sichern. Später hatte er dann, nachdem er die Wohnung gewechselt, seine ehemalige Frau mit falschen Papieren als seine Hausdame zurückgeholt. Eigentlich konnte garnichts passieren, so jüdisch sah sie gar nicht aus ...
Diese unselige Karte! Daß sie grade auf ihn treffen mußte! Aber wahrscheinlich war es so, daß sie überall, wohin sie auch kam, Schrecken und Angst erregte. Jeder hatte in diesen Zeiten etwas zu verbergen!
Vielleicht war es grade der Zweck dieser Karte, Angst und Schrecken zu erregen? Vielleicht wurde diese Karte mit teuflischem Vorbedacht unter den Verdächtigen verteilt, um festzustellen, wie sich die verhielten? Vielleicht stand er schon länger unter Beobachtung, und dies war nur eines der Mittel, um festzustellen, ob der Verdächtige sich keine Blöße gab?
Er hatte sich jedenfalls korrekt benommen. Fünf Minuten nach Auffinden der Karte hatte er die Polizei verständigt. Und er konnte ihr sogar einen Verdächtigen präsentieren, vielleicht einen armen Teufel, der gar nichts mit der Sache zu tun hatte. Nun, er konnte da nicht helfen, sollte der selber sehen, wie er aus der Geschichte herauskam! Die Hauptsache war, er blieb verschont.
Und obwohl diese Erwägungen den Arzt ruhiger gemacht haben, steht er auf und macht sich rasch und sicher eine kleine Morphiumspritze. Die wird ihn instand setzen, diesen Herren, die da zu ihm im Anmarsch sind, ruhig und sogar ein bißchen gelangweilt zu begegnen. Diese kleine Spritze ist das Hilfsmittel, zu dem der Arzt seit der Schande seiner Scheidung, wie er diesen Schritt innerlich noch immer nennt, häufiger seine Zuflucht nimmt. Er ist noch kein Morphinist, weit entfernt, er kommt manchmal fünf, sechs Tage ohne Morphium aus, aber wenn Schwierigkeiten auf seinem Lebensweg auftauchen, und diese Schwierigkeiten häufen sich jetzt während des Krieges immer mehr, so nimmt er Morphium. Das allein hilft ihm noch, ohne diese künstliche Hilfe verliert er seine Nerven. Nein, noch ist er kein Morphinist! Aber er ist auf dem besten Wege, einer zu werden. Ach, wenn nur erst dieser Krieg vorbei wäre, daß man aus diesem elenden Lande hinaus könnte! Mit dem kleinsten Hilfsarztposten draußen im Ausland würde er zufrieden sein.
Einige Minuten darauf empfängt ein blasser, etwas müder Arzt die beiden Herren von der Polizeiwache. Der eine ist nur ein uniformierter Wachtmeister zur Aufsicht über die Flurtür hierher kommandiert. Er löst sofort die Sprechstundenhilfe ab.
Der andere ist ein Zivilist, Kriminalassistent Schröder – in seinem Behandlungszimmer übergibt ihm der Arzt die Karte. Was er aussagen könne? Nun er kann eigentlich nichts aussagen, er habe seit über zwei Stunden hier schon ohne Unterbrechung Patienten abgefertigt, etwa zwanzig oder fünfundzwanzig hintereinander. Aber er werde sofort die Sprechstundenhilfe holen.
Die Hilfe kommt, und sie hat viel auszusagen. Sehr viel. Sie schildert diesen Schleicher, wie sie ihn nur nennt, mit einem Haß, der zwei harmlosen Rauchereien auf der Toilette gegenüber völlig unbegreiflich ist. Der Arzt beobachtet sie genau, wie sie da erregt, mit oft versagender Stimme aussagt. Er denkt: Ich muß jetzt mal sehen, daß sie wirklich was Ernstliches gegen ihren Basedow unternimmt. Es wird immer schlimmer mit ihr. So erregt, wie sie jetzt spricht, ist sie eigentlich schon nicht mehr voll zurechnungsfähig.
Der Kriminalassistent scheint Ähnliches zu denken. Mit einem kurzen »Danke! Ich weiß jetzt vorläufig genug«, unterbricht er ihre Aussagen. »Zeigen Sie mir jetzt noch, Fräulein, wo die Karte auf dem Flur gelegen hat. Aber bitte möglichst genau!«
Das Fräulein, die Hilfe, legt die Karte auf eine Stelle, die sie vom Briefkastenschlitz, wie es scheint, unmöglich erreichen kann. Aber der Assistent probiert, vom Wachtmeister unterstützt, so lange das Einwerfen der Karte, bis sie nahezu auf dem von der Hilfe bezeichneten Platz zu liegen kommt. Nahezu, etwa zehn Zentimeter fehlen ...
»Da könnte sie doch auch gelegen haben, Fräulein?« fragt der Assistent.
Die Sprechstundenhilfe ist sichtlich entrüstet, daß dem Assistenten dies Experiment geglückt ist. Sie erklärt mit Entschiedenheit: »Nein, so nah an der Tür kann die Karte unmöglich gelegen haben! Eher noch weiter in den Flur hinein, als ich vorhin zeigte. Ich glaube jetzt, sie lag hier direkt bei dem Stuhl.« Und sie zeigt einen Fleck, der noch einen halben Meter weiter vom Einwurf entfernt liegt. »Ich bin fast sicher, daß ich gegen diesen Stuhl beim Aufheben gestoßen habe.«
»Soso«, sagt der Assistent und mustert kühl die Zornige. Im Innern macht er einen Strich durch alle ihre Aussagen. Die ist ja hysterisch, denkt er. Der fehlt natürlich ein Mann. Na ja, wo alle im Felde sind, und sehr verlockend sieht sie auch nicht aus.
Er wendet sich laut an den Arzt: »Ich möchte jetzt wie ein beliebiger Patient drei Minuten im Wartezimmer sitzen und mir den beschuldigten Herrn erst einmal so ansehen, ohne daß er weiß, wer ich bin. Das läßt sich doch machen?«
»Natürlich läßt sich das machen. Fräulein Kiesow wird Ihnen sagen, wo er sitzt.«
»Steht!« erklärt die Hilfe ärgerlich. »So einer setzt sich doch nicht! Der tritt lieber den andern auf den Füßen herum! Dem läßt sein schlechtes Gewissen doch keine Ruhe! Dieser Schleicher ...«
»Also, wo steht er?« unterbricht sie der Assistent wieder und nicht sehr höflich.
»Vorhin stand er beim Spiegel am Fenster«, antwortet sie ihm gekränkt. »Aber ich kann natürlich nicht sagen, wo er jetzt steht, so unruhig, wie der ist!«
»Ich werde ihn schon finden«, meint der Assistent Schröder. »Sie haben ihn mir ja beschrieben.«
Und er geht ins Wartezimmer.
Dort herrscht einige Erregung. Seit über zwanzig Minuten ist kein Patient zum Arzt gerufen worden – wie lange sollen sie hier noch sitzen? Sie haben wahrhaftig anderes zu tun! Wahrscheinlich fertigt der Doktor vorne gut zahlende Privatpatienten ab, und die Kassenpatienten hier können sitzen, bis sie schwarz werden! Aber so machen es doch alle Ärzte, mein lieber Herr, da können Sie hingehen, wo Sie wollen! Überall hat das Geld den Vortritt!
Während die Berichte über die Käuflichkeit der Ärzte immer höhere Wellen schlagen, mustert der Assistent schweigend seinen Mann. Er hat ihn sofort erkannt. Der Mann ist weder so unruhig noch so schleicherisch, wie ihn die Hilfe geschildert hat. Er steht da ganz ruhig an seinem Spiegel, an der Unterhaltung der andern beteiligt er sich nicht. Er scheint nicht einmal auf das zu hören, was die sagen, und das tut man sonst doch gerne, eine langweilige Wartezeit sich zu verkürzen. Er schaut ein bißchen stumpfsinnig und ein bißchen ängstlich darein. Kleiner Arbeiter, entscheidet der Assistent. Nee, ein bißchen besser, die Hände sehen geschickt aus, Arbeitsspuren, aber nicht nach schwerer Arbeit ... Anzug und Mantel mit großer Sorgfalt instand gehalten, was freilich nicht über ihr Abgetragensein hinwegtäuscht. Im ganzen nichts von dem Mann, den man sich nach dem Ton der Karte vorstellt. Der schreibt doch einen ganz kräftigen Stil, und nun dieses sorgenvolle Kaninchen ...
Aber der Assistent weiß längst, daß die Menschen oft sehr anders sind, als sie aussehen. Und dieser Mann ist immerhin durch die Aussage der Zeugin so schwer belastet, daß man die Angelegenheit wenigstens nachprüfen muß. Dieser Kartenschreiber muß die Herren oben ein bißchen nervös gemacht haben, erst neulich gab's da wieder unter »Geheim! Streng geheim!« einen Befehl, daß auch der kleinsten Spur in dieser Sache unverzüglich nachzugehen sei.
Wär ganz schön, wenn ich da einen kleinen Erfolg hätte! denkt der Assistent. Es wird höchste Zeit mit einer kleinen Beförderung.
In dem allgemeinen Geschimpfe geht er fast unbeachtet an den kleinen Mann beim Spiegel heran, tippt ihn auf die Schulter und sagt: »Kommen Sie doch mal einen Augenblick auf den Flur. Ich möchte Sie mal was fragen.«
Gehorsam folgt ihm Enno Kluge, wie er jedem Befehl gehorsam folgt. Aber während er schon hinter dem unbekannten Herrn dreingeht, erfaßt ihn Angst: Was soll das? Was will der von mir? Der sieht doch wie ein Bulle aus, und er spricht auch ganz wie ein Bulle. Was habe ich mit der Kripo zu tun – ich habe doch gar nichts getan!
Im gleichen Augenblick fällt ihm der Einbruch bei der Rosenthal ein. Es ist kein Zweifel, der Borkhausen ist hochgegangen und hat ihn verpfiffen. Und die Angst wird stärker in ihm, er hat doch geschworen, er will nichts aussagen und wenn er nun doch aussagt, wird ihn dieser Kerl von der SS wieder vornehmen und vertrimmen, und diesmal noch viel schlimmer! Er darf nichts aussagen, aber wenn er nichts aussagt, nimmt ihn sich dieser Bulle vor, und dann schwatzt er doch. Hier Verderben, dort Verderben ... Oh, diese Angst!
Als er auf den Flur tritt, sehen ihn vier Gesichter erwartungsvoll an – aber er sieht sie gar nicht, er sieht nur die Uniform des Schupos und weiß, daß er mit seiner Angst recht gehabt hat, daß er nun wirklich zwischen Verderben und Verderben steht.
Und diese Angst verleiht Enno Kluge Eigenschaften, die er sonst nicht besitzt, nämlich Entschlußkraft, Stärke und Schnelligkeit. Er wirft den überraschten Assistenten, der dies nie von dem kleinen Schwächling erwartet hätte, gegen den Schupo, läuft an Arzt und Hilfe vorbei, reißt die Flurtür auf und ist schon auf der Treppe ...
Aber hinter ihm trillert die Pfeife des Schupos, und diesem langbeinigen jungen Mann ist er im Tempo nicht gewachsen. Auf der untersten Treppe wird er eingeholt, der Schupo versetzt ihm einen Schlag, der ihn gleich auf die Stufen niederschickt, und als er vor drehenden Sonnen und Feuerkreisen wieder sehen kann, sagt der Schupo freundlich lächelnd: »Na, streck mal deine süße Pfote her! Will dir lieber ein Armband schenken. Das nächste Mal machen wir so 'nen Spaziergang gemeinsam, was?«
Und schon hat die Stahlfessel um sein Handgelenk geklirrt, und es geht wieder treppauf, zwischen dem schweigsamen, finster blickenden Bullen und dem vergnügt lächelnden Schupo, dem dieser kleine Ausreißer nur Spaß macht.
Oben, wo die Patienten auf dem Flur stehen und gar nicht mehr böse sind über die lange Wartezeit bei ihrem Doktor, denn eine Verhaftung ist immer etwas Interessantes, und wie die Sprechstundenhilfe erzählt hat, ist dies sogar ein Politischer, ein Kommunist, und diesen Brüdern geschieht es ganz recht – oben also geht es an all diesen Gesichtern vorbei in das Behandlungszimmer des Arztes. Das Fräulein Kiesow wird gleich von dem Assistenten hinausgeschickt, der Arzt aber darf bei der Vernehmung dabeibleiben und hört, wie der Assistent sagt: »So, mein Sohn, nun setz dich erst mal hier auf den Stuhl und ruh dich von deiner Rennerei aus. Du machst ja ordentlich einen abgehetzten Eindruck! Wachtmeister, Sie können dem Herrn erst einmal die Fessel wieder abnehmen. Der rennt uns nicht noch einmal weg – oder?«
»Nein, nein!« versichert Enno Kluge verzweifelt, und schon rollen die Tränen über sein Gesicht.
»Würde ich dir auch nicht geraten haben! Das nächste Mal knallt's, und ich kann schießen, Sohn!« Der Assistent bleibt dabei, den wohl zwanzig Jahre älteren Kluge mit »Sohn« anzureden. »Na, weine man bloß nicht so! So schlimm wird's ja gar nicht gewesen sein, was du ausgefressen hast. Oder?«
»Gar nichts habe ich ausgefressen!« stößt Enno Kluge unter Tränen hervor. »Rein gar nichts!«
»Aber natürlich, Sohn!« stimmt der Assistent zu. »Darum rennst du ja auch so schnell wie ein Hase, sobald du die Uniform von einem Wachtmeister siehst! Doktor, haben Sie nicht irgendwas, womit Sie diesem Jammergestell wieder ein bißchen auf die Beine helfen können?«
Jetzt, da der Arzt fühlt, alle Gefahr ist von seinem eigenen Haupt abgewendet, sieht er mit herzlichem Mitleid auf dieses unglückselige Männlein. Auch so ein Geschlagener des Lebens ist das, den jedes Hindernis umwirft. Der Doktor ist in der Versuchung, dem Kleinen auch eine Spritze Morphium zu bewilligen, in leichtester Dosierung. Er wagt es aber nicht recht wegen des Kriminalbeamten. Lieber ein bißchen Brom ...
Aber während er das Bromsalz noch im Wasser auflöst, sagt Enno Kluge: »Ich brauch nichts. Ich will nichts einnehmen. Ich lasse mich nicht vergiften. Ich will lieber aussagen ...«
»Na also!« sagt der Kriminalbeamte. »Wußte ich doch, daß du vernünftig werden würdest, Sohn! Dann erzähle also mal ...«
Und Enno Kluge wischt sich die Tränen von den Backen und fängt an zu erzählen ...
Als er nämlich mit Weinen anfing, hat er ganz echte Tränen geweint, einfach weil ihn seine Nerven im Stich ließen. Wenn es aber auch ganz echte Tränen waren, so weiß Enno doch längst aus seinem Umgang mit den Frauen, daß man beim Weinen sehr gut nachdenken kann. Und bei diesem Nachdenken ist er darauf gekommen, daß es doch sehr unwahrscheinlich ist, daß die ihn aus dem Sprechzimmer eines Arztes heraus wegen Einbruchs verhaften. Wenn die ihn wirklich beschattet haben, dann konnten sie ihn auch auf der Straße oder im Treppenflur verhaften, da brauchten sie ihn nicht erst zwei Stunden im Wartezimmer sitzenzulassen ...
Nein, diese Sache hat wahrscheinlich nicht das geringste mit dem Einbruch bei der Frau Rosenthal zu tun. Wahrscheinlich liegt der Verhaftung ein Irrtum zugrunde, und dunkel ahnt Enno Kluge, daß sie irgendwas mit der bösartigen Sprechstundenhilfe zu tun hat.
Aber nun ist er einmal getürmt, und nie wird er so einem Bullen einreden können, daß er nur aus Nervosität weggelaufen ist, einfach, weil er jede Besinnung beim Anblick einer Uniform verliert. So was nimmt ihm solch ein Bulle nie ab. Er muß also schon was Glaubhaftes, Nachzuprüfendes gestehen, und was das sein soll, das weiß er auch gleich. Es ist zwar schlimm, darüber zu sprechen, und die Folgen sind nicht abzusehen, aber von zwei Übeln ist solch ein Geständnis gewiß das kleinere.
Als er also jetzt zum Reden aufgefordert ist, trocknet er sich die Tränen ab und beginnt mit leidlich fester Stimme von seiner Arbeit als Feinmechaniker zu sprechen, und wie er so viel krank gewesen ist, daß die Herren dort böse auf ihn geworden sind, und nun wollen sie ihn entweder ins KZ oder in eine Strafkompanie stecken. Natürlich erzählt Enno Kluge nichts von seiner Arbeitsscheu, aber er denkt, das wird der Bulle auch so kapieren.
Und damit hat er sogar recht, der Bulle kapiert das ganz gut, was für ein windiges Früchtchen dieser Enno Kluge ist. »Ja, Herr Kommissar, und wie ich Sie da sah und die Uniform von dem Herrn Wachtmeister, und ich saß doch gerade beim Doktor, um mich krank schreiben zu lassen, da habe ich gedacht, nun ist es soweit, nun holen sie dich ins KZ, und da bin ich denn losgelaufen ...«
»Soso«, sagt der Assistent. »Soso!« Er überlegt eine Weile und sagt dann: »Aber es scheint mir, Sohn, daß du gar nicht mehr so recht glaubst, daß wir deswegen hier sind.«
»Nein, eigentlich nicht«, gibt Kluge zu.
»Und warum glaubst du das nicht mehr, Sohn?«
»Weil Sie mich da doch viel einfacher in der Fabrik oder in meiner Wohnung festnehmen könnten.«
»Also, 'ne Wohnung hast du auch, Sohn?«
»Aber natürlich, Herr Kommissar. Meine Frau ist doch bei der Post, ich bin richtig verheiratet. Meine beiden Jungen stehen im Felde, der eine ist bei der SS in Polen. Ich habe auch Papiere hier, ich kann Ihnen alles beweisen, was ich gesagt habe, wegen der Wohnung und wegen meiner Arbeitsstelle.«
Und Enno Kluge zieht sein schäbiges, abgegriffenes Brieftäschchen hervor und fängt an, Papiere vorzusuchen.
»Deine Papiere laß mal jetzt stecken, Sohn«, sagt der Assistent abweisend. »Das hat später auch noch Zeit ...«
Er versinkt in Nachdenken, und alles schweigt nun.
Der Arzt aber hinter seinem Schreibtisch fängt eilig an zu schreiben. Vielleicht hat er doch Gelegenheit, diesem kleinen Männlein da, das von einer Angst in die andere gejagt wird, einen Krankenschein zuzustecken. Gallenleiden hat er gesagt, nun also. Das sind doch Zeiten, wo man dem andern helfen muß, wenn's nur irgend geht!
»Was schreiben Sie denn da, Doktor?« fragt der Assistent, plötzlich aus seinem Nachdenken hochfahrend.
»Krankengeschichten«, erklärt der Arzt. »Ich will die Zeit ein bißchen nutzbringend verwenden, ein Haufen Menschen sitzt da noch in meinem Sprechzimmer.«
»Richtig, Doktor«, sagt der Assistent und steht auf. Er hat seinen Entschluß gefaßt. »Da wollen wir Sie auch nicht länger aufhalten.«
Die Geschichte dieses Enno Kluge kann wahr sein, sie ist sogar höchstwahrscheinlich wahr, aber der Assistent wird das Gefühl nicht los, daß da noch irgend etwas anderes dahintersteckt, daß er nicht die ganze Geschichte zu hören bekommen hat. »Na, denn komm, mein Sohn! Du begleitest uns doch noch ein paar Schritte? O nein, nicht bis zum Alex, nur hierher auf unser Revier. Ich will mich doch gerne noch ein bißchen mit dir unterhalten, mein Sohn, so ein munterer Knabe wie du bist, und den Onkel Doktor dürfen wir hier auch nicht länger aufhalten.« Er sagt zum Wachtmeister: »Nein, keine Fessel. Er geht schon so fein brav mit, ist ja ein kluges Kind. Heil Hitler, Herr Doktor, und schönen Dank!«
Sie sind schon an der Tür, es sieht alles genauso aus, als wollten sie wirklich gehen. Aber da zieht der Assistent plötzlich die Karte, die Quangelsche Karte, aus der Tasche, hält sie dem Enno Kluge unter die Nase und sagt zu dem Überraschten scharf: »Da, lies uns das mal vor, Sohn! Aber ganz schnell, ohne zu zucken und zu stottern!«
So sagt er ganz bullenmäßig.
Aber schon, als der Assistent sieht, wie der Kluge die Karte anfaßt, wie sein glotzendes Auge immer verständnisloser wird, wie Kluge dann zu stammeln anfängt: »Deutscher, vergiß es nicht! Mit dem Anschluß von Österreich fing es an. Es folgte Sudetenland und die Tschechoslowakei. Polen wurde überfallen, Belgien, Holland« – schon da weiß der Assistent mit ziemlicher Gewißheit: Dieser Mann hat die Karte noch nie in Händen gehabt, hat nie ihren Inhalt gelesen, geschweige denn ihn schreiben können – der ist ja viel zu blöd für so was!
Und ärgerlich reißt er dem Enno Kluge die Karte wieder aus der Hand, sagt kurz: »Heil Hitler!« und verläßt mit dem Schupo und seinem Festgenommenen das Behandlungszimmer.
Langsam zerreißt der Arzt wieder den für Enno Kluge vorbereiteten Behandlungsschein. Es war keine Gelegenheit, ihm den zuzustecken. Schade! Aber wahrscheinlich hätte er ihm doch nichts geholfen, vielleicht war dieser Mann, der den Schwierigkeiten der heutigen Zeit so wenig gewachsen schien, doch bereits zum Untergang verurteilt. Vielleicht konnte ihm keine Hilfe von außen wirklich helfen, weil nichts Festes in ihm war.
Schade ...