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15.
Enno Kluge arbeitet wieder

Als Otto Quangel seine Arbeit in der Tischlerwerkstatt begann, stand Enno Kluge schon seit sechs Stunden an einer Drehbank. Ja, es hat den kleinen Mann nicht mehr in seinem Bett gelitten, trotz seiner Schwäche und seiner Schmerzen ist er in die Fabrik gefahren. Der Empfang dort war freilich nicht sehr freundlich, aber das war kaum anders zu erwarten.

»Na, bist du auch mal wieder bei uns zu Besuch, Enno?« hatte ihn der Meister gefragt. »Wie lange willste denn diesmal wieder mitmachen, eine oder zwei Wochen?«

»Ich bin jetzt wieder ganz gesund, Meister«, versicherte Enno Kluge eifrig. »Ich kann wieder arbeiten, und ich werd auch arbeiten, das sollst du schon sehen!«

»Na, na!« meinte der Meister ziemlich ungläubig und wollte wieder gehen. Aber er blieb noch einmal stehen, betrachtete nachdenklich Ennos Gesicht und fragte: »Und was haste denn mit deiner Visage gemacht, Enno? Ein bißchen in die Heißmangel gekommen, was?«

Enno hat den Kopf auf sein Werkstück gesenkt, er sieht den Meister auch nicht an, als er schließlich antwortet: »Jawohl, Meister, durch die Mangel gedreht ...«

Der Meister bleibt nachdenklich vor ihm stehen und betrachtet ihn immer weiter. Schließlich glaubt er sich einen Vers auf die Sache machen zu können und sagt: »Na, vielleicht hat's wirklich geholfen, vielleicht hast du nun wirklich Trieb zur Arbeit, Enno!«

Damit ging der Meister, und Enno Kluge war froh, daß die Schläge so verstanden worden waren. Sollte der nur ruhig denken, er war wegen seiner Arbeitsscheu so abgerollt worden, um so besser! Darüber wollte er mit keinem reden. Und wenn sie hier so dachten, würden sie ihn mit allen Fragen verschonen. Sie würden höchstens hinter seinem Rücken über ihn lachen, und das sollten sie ruhig, das war ihm egal. Er wollte jetzt arbeiten, wundern sollten sich die über ihn!

Bescheiden lächelnd und doch nicht ohne Stolz ließ sich Enno Kluge für die freiwillige Sonntagsschicht aufschreiben. Ein paar ältere Arbeitskollegen, die ihn noch von früher her kannten, machten spöttische Bemerkungen. Er lachte einfach mit und sah es gerne, daß auch der Meister grinste.

Übrigens hatte ihm die irrtümliche Annahme des Meisters, er habe die Schläge wegen seiner Arbeitsscheu bezogen, sicher auch bei der Direktion genützt. Dorthin war er gleich nach der Mittagspause gerufen worden. Wie ein Angeklagter stand er dort, und daß von seinen Richtern einer in Wehrmachtsuniform, einer in SA-Uniform steckte, während nur einer Zivil trug, freilich auch mit dem Hoheitszeichen geschmückt, das erhöhte noch seine Angst.

Der Wehrmachtsoffizier blätterte in einem Aktenstück und hielt Enno Kluge mit einer ebenso gleichgültigen wie angeekelten Stimme seine Sünden vor. Den und den Tag von der Wehrmacht zur Rüstungsindustrie entlassen, dann und dann erst Meldung in dem zugewiesenen Betrieb, elf Tage gearbeitet, krank geschrieben wegen Magenblutungen, drei Ärzte, zwei Krankenhäuser in Anspruch genommen. Dann und dann arbeitsfähig gesund geschrieben, fünf Tage gearbeitet, drei Tage blau gemacht, einen Tag gearbeitet, wieder Magenblutungen usw.

Der Wehrmachtsoffizier legte das Aktenstück weg, er sah angeekelt den Kluge an, das heißt, er richtete seinen Blick etwa auf den obersten Knopf von Ennos Jackett und sagte mit erhobener Stimme: »Was denkst du dir eigentlich, du Schwein?« Plötzlich schrie er, aber man sah es ihm an, daß er ganz gewohnheitsmäßig schrie, ohne jede innere Erregung. »Denkst du, du kannst hier einen einzigen mit deinen dußligen Magenblutungen an der Nase rumführen? Ich werde dich zu einer Strafkompanie schicken, da werden sie dir deine stinkenden Gedärme aus dem Leibe reißen, da sollst du lernen, was Magenblutungen sind!«

So schrie der Offizier noch eine ganze Weile. Enno war das vom Militär her gewohnt, es konnte ihn nicht besonders schrecken. Er hörte sich diese Strafpredigt an, die Hände vorschriftsmäßig an die Naht seiner Zivilhose gelegt, das Auge aufmerksam auf den Scheltenden geheftet. Mußte der Offizier einmal Luft holen, so sagte Enno im vorgeschriebenen Ton, klar und deutlich, aber weder demütig noch frech, sondern sachlich: »Jawohl, Herr Oberleutnant! Zu Befehl, Herr Oberleutnant!« An einer Stelle gelang es ihm sogar, freilich ohne jede sichtbare Wirkung, den Satz einzuschieben: »Melde mich gehorsamst gesund, Herr Oberleutnant! Melde gehorsamst, werde arbeiten!«

Ebenso plötzlich, wie er mit dem Schreien begonnen hatte, hörte der Offizier wieder damit auf. Er machte den Mund zu, nahm den Blick von dem obersten Rockknopf Kluges und richtete ihn auf seinen Nachbar in Braun. »Sonst noch was?« fragte er angeekelt.

Jawohl, auch dieser Herr hatte noch etwas zu sagen oder vielmehr zu schreien – alle diese Herren Vorgesetzten schienen ja nur mit ihren Leuten schreien zu können. Dieser schrie von Volksverrat und Arbeitssabotage, vom Führer, der keine Verräter in den eigenen Reihen duldete, und von den KZs, wo ihm schon sein Recht werden solle.

»Und wie kommst du zu uns?« schrie der Braune plötzlich. »Wie haste dich zugerichtet, du Schwein, du? Mit solcher Fresse kommst du zur Arbeit? Bei den Weibern haste rumgehurt, du Hurenbock! Da läßte deine Kraft, und wir dürfen dich hier bezahlen! Wo biste gewesen, wo haste dich so zugerichtet, du elender Zuhälter, du?«

»Mich haben sie durch die Rolle gedreht«, sagte Enno, verschüchtert unter dem Blick des andern.

»Wer, wer hat dich so zugerichtet, ich will's wissen!« schrie das Braunhemd. Und er fuchtelte mit der Faust unter der Nase des andern und stampfte mit dem Fuß auf.

Hier war der Augenblick gekommen, wo jeder eigene Gedanke den Schädel Enno Kluges verließ. Unter der Bedrohung mit neuen Schlägen entliefen ihm Vorsatz wie Vorsicht, er flüsterte angstvoll: »Melde gehorsamst, die SS hat mich so zugerichtet.«

In der sinnlosen Angst dieses Mannes lag etwas so Überzeugendes, daß die drei Männer am Tisch ihm sofort Glauben schenkten. Ein verständnisvolles, billigendes Lächeln trat auf ihre Gesichter. Der Braune schrie noch: »Zugerichtet nennst du das? Gezüchtigt heißt das, zu Recht bestraft! Wie heißt das?«

»Melde gehorsamst, es heißt: zu Recht bestraft!«

»Na, ich hoffe, du wirst es dir merken. Das nächste Mal kommst du nicht so billig weg! Abtreten!«

Noch eine halbe Stunde danach zitterte Enno Kluge so stark, daß er seine Arbeit an der Drehbank nicht verrichten konnte. Er drückte sich auf dem Abtritt herum, wo ihn der Meister schließlich aufstöberte und scheltend an die Arbeit jagte. Der Meister stellte sich dann daneben und sah schimpfend zu, wie Enno Kluge ein Werkstück nach dem andern verdarb. In dem Kopf des kleinen Kerls drehte sich noch alles: vom Meister beschimpft, von den Arbeitskollegen verspottet, von Konzentrationslager und Strafkompanie bedroht, vermochte er nichts mehr klar zu sehen. Die sonst so geschickten Hände verweigerten ihm den Dienst. Er konnte nicht, und doch mußte er, sonst war er ganz verloren.

Schließlich sah es selbst der Meister ein, daß hier nicht übler Wille und Arbeitsscheu vorlagen. »Wenn du nicht gerade krank gewesen wärst, würde ich sagen, leg dich erst ein paar Tage ins Bett und kurier dich gesund.« Mit diesen Worten verließ ihn der Meister. Und er setzte hinzu: »Aber du weißt ja wohl, was dir dann passiert!«

Ja, er wußte es. Er machte immer weiter, versuchte, nicht an die Schmerzen, an den unerträglichen Druck in seinem Kopf zu denken. Eine Weile zog ihn das sich schimmernd drehende Eisen magisch an. Er brauchte nur den Finger dazwischen zu halten, und er hatte Ruhe, kam in ein Bett, konnte liegen, ausruhen, schlafen, vergessen! Aber gleich dachte er wieder daran, daß mit dem Tode bestraft wird, wer sich mutwillig selbst verstümmelt, und die Hand zuckte zurück ...

Und so war es: Tod in der Strafkompanie, Tod in einem KZ, Tod auf einem Gefängnishof, das waren die Dinge, die ihn täglich bedrohten, die er von sich abwenden mußte. Und er hatte so wenig Kraft ...

Irgendwie ging dieser Nachmittag hin, irgendwie war er kurz nach fünf auch im Strome der Heimkehrenden. Er hatte sich so nach Ruhe und Schlaf gesehnt; als er dann aber in seinem engen Hotelzimmerchen stand, brachte er es nicht über sich, ins Bett zu gehen. Er lief wieder los, er kaufte sich ein wenig Essen ein.

Und wieder im Zimmer, die Eßwaren auf dem Tisch vor sich, das Bett neben sich – aber er konnte hier einfach nicht bleiben. Er war wie gehetzt, es litt ihn nicht in diesem Zimmer. Er mußte sich noch ein bißchen Waschzeug kaufen, auch sehen, daß er bei einem Trödler eine blaue Bluse kaufen konnte.

Lief wieder los, und als er in einer Drogerie stand, fiel ihm ein, daß er noch einen ganz schweren Handkoffer mit all seinen Besitztümern bei der Lotte zu stehen hatte, deren auf Urlaub kommender Mann ihn so roh hinausgeworfen hatte. Er rannte aus der Drogerie, er stieg auf eine Elektrische; er riskierte es: er fuhr einfach zu ihr. Er konnte doch nicht alle seine Sachen preisgeben! Vor einer Wucht Prügel graute es ihn, aber es trieb ihn, er mußte zur Lotte.

Und er hatte Glück, er fand die Lotte zu Haus, der Mann war nicht da. »Deine Sachen, Enno?« fragte sie. »Ich habe sie gleich in den Keller gesetzt, damit er sie nicht findet. Warte, ich hole den Schlüssel!«

Aber er hielt sie umfaßt, er lehnte den Kopf gegen ihre starke Brust. Die Anstrengungen der letzten Wochen waren zuviel für ihn gewesen, er weinte einfach los.

»Ach, Lotte, Lotte, ich halt es ohne dich nicht aus! Ich hab solche Sehnsucht nach dir!«

Sein ganzer Körper bebte vor Schluchzen. Sie war ordentlich erschrocken. Sie war den Umgang mit Männern gewohnt, auch den mit flennenden, aber dann waren sie betrunken, und dieser hier war nüchtern ... Und dann dieses Gerede von Sehnsucht nach ihr und nicht ohne sie auskommen, das war Ewigkeiten her, daß jemand so was zu ihr gesagt hatte! Wenn es überhaupt je jemand zu ihr gesagt hatte!

Sie beruhigte ihn, so gut sie konnte. »Er bleibt ja nur drei Wochen auf Urlaub, dann kannste wieder bei mir, Enno! Nimm dich jetzt zusammen, hol deine Sachen, eh er kommt. Du weißt doch!«

Oh, wie er wußte, wie genau er wußte, was alles ihn bedrohte!

Sie setzte ihn noch in seine Elektrische, half ihm mit dem Handkoffer.

Enno Kluge fuhr in sein Hotel, doch ein wenig erleichtert. Nur noch drei Wochen, von denen vier Tage schon rum waren. Dann ging der wieder an die Front, und er konnte sich in sein Bett legen! Enno hatte gedacht, er hielte es ganz ohne Weiber aus, aber das ging nicht, er konnte es einfach nicht. Er würde bis dahin auch noch einmal nach der Tutti sehen; er sah doch jetzt, wenn man ihnen nur was vorweinte, dann waren sie gar nicht so schlimm. Dann halfen sie einem gleich! Er konnte vielleicht die drei Wochen bei der Tutti bleiben, das einsame Hotelzimmer war zu schlimm.

Aber trotz der Weiber würde er arbeiten, arbeiten, arbeiten! Er würde keine Zicken machen, er nicht, nie wieder! Er war geheilt!


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