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50.
Escherichs Tod

Um Mitternacht sitzt Kommissar Escherich noch oder vielmehr schon wieder in seinem Dienstzimmer. Er hockt da ganz in sich zusammengesunken; aber soviel Alkohol er auch getrunken hat, die schreckliche Szene, die er hat mitmachen müssen, hat er nicht vergessen.

Diesmal hat sein hoher Vorgesetzter, der Obergruppenführer Prall, kein Kriegsverdienstkreuz für seinen so erfolgreichen, so tüchtigen, so lieben Kommissar gehabt, aber eine Einladung zu einer kleinen Siegesfeier hatte er doch. Da hatten sie zusammengesessen, sie hatten vielen scharfen Armagnac aus gar nicht kleinen Gläsern getrunken, sie hatten über den erwischten Klabautermann geprahlt, und unter allgemeinem Beifall hatte Kommissar Escherich das Protokoll mit dem Geständnis Quangels vorlesen müssen ...

Mühsame, sorgfältige kriminalistische Arbeit vor die Schweine geworfen!

Aber dann, als sie alle so richtig fett angesoffen waren, hatten sie sich einen Extraspaß gemacht. Mit Flaschen und Gläsern ausgerüstet, waren sie in Quangels Zelle hinabgestiegen, auch der Kommissar hatte mitkommen müssen. Sie wollten sich diesen seltsamen Vogel doch einmal ansehen, diesen Hirnverbrannten, der die Frechheit gehabt hatte, gegen den Führer zu kämpfen!

Sie hatten Quangel gefunden unter seiner Decke auf der Pritsche, fest schlafend. Ein seltsames Gesicht, hatte Escherich gedacht, dem auch der Schlaf keine Entspannung schenkte, das immer gleich verschlossen und sorgenvoll aussah im Wachen und im Schlaf. Aber immerhin hatte der Mann fest geschlafen ...

Natürlich hatten die ihn nicht schlafen lassen. Sie hatten ihn mit Püffen geweckt, sie hatten ihn von seiner Pritsche hochgejagt. Er hatte da vor diesen Leuten in ihren Uniformen in Schwarz und Silber in einem viel zu kurzen Hemd gestanden, einem Hemd, das nicht einmal ganz seine Blöße bedeckte, eine lächerliche Figur – wenn man den Kopf nicht ansah!

Und dann waren sie auf den Gedanken gekommen, den alten Klabautermann zu taufen, sie hatten ihm eine Flasche Schnaps über den Kopf gegossen. Der Obergruppenführer Prall hatte eine kleine, niedlich besoffene Rede über diesen Klabautermann gehalten, über dies Schwein, das bald gemetzgert würde, und am Schluß dieser Rede hatte er sein Schnapsglas auf Quangels Kopf zerschlagen.

Das war ein Signal für die andern gewesen, alle hatten sie ihre Schnapsgläser auf dem Kopf des alten Mannes zerschlagen. Armagnac und Blut waren über sein Gesicht gelaufen. Aber während alles dies geschah, war es Escherich gewesen, als sähe zwischen den Bächen aus Blut und Schnaps Quangel ihn unverwandt an, und er meinte geradezu, ihn sprechen zu hören: Das ist also die gerechte Sache, für die du mordest! Das sind deine Henkersgesellen! So seid ihr. Du weißt sehr wohl, was du tust. Ich aber werde für die Verbrechen, die ich nicht begangen habe, sterben, und du wirst leben – so gerecht ist deine Sache!

Dann hatten sie entdeckt, daß Escherichs Glas noch heil war. Sie hatten ihm befohlen, es auch auf dem Kopf Quangels zu zerschlagen. Ja, Prall hatte es ihm zweimal sehr scharf befehlen müssen – »Du weißt doch, Escherich, wie ich mit dir Schlitten fahre, wenn du nicht parierst?« –, und dann hatte also Escherich sein Glas auf Quangels Kopf zerschlagen. Viermal hatte er mit seiner zitternden Hand zuschlagen müssen, ehe das Glas zerbrach, und die ganze Zeit über hatte er den scharfen, höhnischen Blick Quangels auf sich gefühlt, der schweigend seine Entwürdigung miterlebte. Diese lächerliche Figur im zu kurzen Hemd, sie war stärker, würdevoller gewesen als all seine Quäler. Und bei jedem Schlag, den Kommissar Escherich verzweifelt und verängstigt geführt hatte, war es ihm gewesen, als schlage er gegen den Bestand seines eigenen Ichs, als rühre ihm eine Axt an die Wurzeln des Lebensbaums.

Dann war Otto Quangel plötzlich zusammengebrochen, und so hatten sie ihn da auf dem nackten Zellenboden liegengelassen, bewußtlos und blutend. Sie hatten auch der Wache verboten, sich um das Schwein zu kümmern, und waren wieder hinaufgegangen zum Weitersaufen, zum Weiterfeiern, als hätten sie wer weiß was für einen heldischen Sieg errungen.

Und nun sitzt Kommissar Escherich wieder in seinem Dienstzimmer am Schreibtisch. Ihm gegenüber an der Wand hängt noch immer die Karte mit den roten Fähnchen. Sein Körper ist völlig in sich zusammengesunken, aber er denkt noch klar.

Ja, die Karte ist erledigt. Morgen kann sie abgenommen werden. Und übermorgen werde ich eine neue Karte aufhängen und nach einem neuen Klabautermann jagen. Und wieder eine. Und noch eine. Was hat das alles für einen Sinn? Bin ich dazu auf dieser Welt? Es muß ja wohl so sein, aber wenn es so ist, verstehe ich nichts von dieser Welt, dann liegt in nichts Verstand. Dann ist es wirklich ganz gleich, was ich tue ...

Sein Blut wird von mir gefordert werden ... Wie er das sagte! Und sein Blut von mir! Nein, auch Enno Kluges Blut habe ich auf mir, dieser erbärmliche Schwächling, den ich geopfert habe, um diesen Mann einer besoffenen Horde auszuliefern. Der wird nicht wimmern wie der kleine Kerl auf dem Bootssteg, der wird anständig sterben ...

Und ich? Wie steht es mit mir? Ein neuer Fall, und der tüchtige Escherich hat nicht soviel Erfolg, wie der Herr Obergruppenführer Prall erwartet, und ich wandere noch einmal in den Keller. Schließlich kommt der Tag, an dem ich hinuntergeschickt werde, um nicht wieder heraufgeholt zu werden. Lebe ich dazu, um dies zu erwarten? Nein, der Quangel hat recht, wenn er den Hitler einen Mörder nennt und mich den Lieferanten eines Mörders. Es ist mir immer gleich gewesen, wer am Ruder saß, warum dieser Krieg geführt wurde, wenn ich nur meinem gewohnten Geschäft nachgehen konnte, dem Menschenfang. Dann, wenn ich sie erst hatte, war mir gleichgültig, was aus ihnen wurde ...

Aber jetzt ist es mir nicht gleichgültig. Ich bin dessen so überdrüssig, es ekelt mich an. Wie er dastand und mich ansah. Blut und Schnaps liefen über sein Gesicht, er aber sah mich an! Ach, wäre es noch möglich, ich würde zehn Enno Kluges opfern, diesen einen Quangel zu retten, ich würde dieses ganze Haus opfern, ihn frei zu machen! Wäre es noch möglich, ich würde fortgehen von hier, ich würde etwas beginnen wie Otto Quangel, etwas besser Ausgedachtes, aber ich möchte kämpfen.

Doch es ist unmöglich, sie lassen mich nicht, sie nennen so etwas Fahnenflucht. Sie würden mich holen und wieder in den Bunker werfen. Und mein Fleisch schreit, wenn es gequält wird, ja, ich bin feige. Ich bin feige wie Enno Kluge, ich bin nicht mutig wie Otto Quangel. Wenn mich der Obergruppenführer Prall anschreit, so zittere ich und tue zitternd, was er mir befiehlt. Ich zerschlage mein Schnapsglas auf dem Kopf des einzigen anständigen Mannes, aber jeder Schlag ist eine Handvoll Erde auf meinen Sarg.

Langsam stand Kommissar Escherich auf. Ein hilfloses Lächeln lag auf seinem Gesicht. Er ging zur Wand, er lauschte. Es war jetzt, in der Stunde nach Mitternacht, still in dem großen Hause in der Prinz-Albrecht-Straße. Nur der Schritt der Wache auf dem Korridor, auf und ab, auf und ab ...

Auch du weißt nicht, warum du so auf und ab rennst, dachte Escherich. Eines Tages wirst du begreifen, daß du dein Leben vertan hast ...

Er griff nach der Karte, er riß sie von der Wand. Viele Fähnchen fielen, mit ihren Stecknadeln klappernd, zu Boden. Escherich zerknüllte die Karte und warf sie dazu.

»Aus!« sagte er. »Zu Ende! Zu Ende der Fall Klabautermann!«

Er ging langsam zurück zu seinem Schreibtisch, zog eine Lade auf und nickte.

»Hier stehe ich, wahrscheinlich der einzige Mann, den Otto Quangel durch seine Karten bekehrt hat. Aber ich bin dir nichts nutze, Otto Quangel, ich kann dein Werk nicht fortsetzen. Ich bin zu feige dazu. Dein einziger Anhänger, Otto Quangel!«

Er zog rasch die Pistole hervor und schoß.

Dieses Mal hatte er nicht gezittert.

Der herbeistürzende Posten fand nur einen fast kopflosen Leichnam hinter dem Schreibtisch.

Der Obergruppenführer Prall tobte. »Fahnenflucht! Alle Zivilisten sind Schweine! Alles, was nicht Uniform trägt, gehört in den Bunker, hinter Stacheldraht! Aber warte, den Nachfolger von diesem Schwein, dem Escherich, den zwieble ich von Anfang an so, daß er keinen einzigen Gedanken im Kopf hat, nur Angst! Ich bin immer zu gutmütig gewesen, das ist mein Hauptfehler! Holt dieses Schwein, den Quangel, rauf! Er soll sich die Sauerei hier ansehen, er kann sie wegmachen!«

So verschaffte der einzige von Otto Quangel Bekehrte dem alten Werkmeister noch ein paar schwere Nachtstunden.


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