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26.
Angst und Furcht

Seit jener Nacht sind zwei Wochen vergangen. Frau Hete und Enno Kluge haben in dem engen Beieinanderleben eines das andere besser kennengelernt. Es war ja nun so, daß der Mann wegen der Furcht vor der Gestapo nicht aus dem Hause durfte. Sie lebten wie auf einer Insel, nur sie zwei. Sie konnten sich nicht aus dem Wege gehen, sich bei andern Menschen ein wenig frischen Wind um die Nase wehen lassen. Sie waren ganz aufeinander angewiesen.

In den ersten Tagen hatte sie es dem Enno nicht einmal erlaubt, ihr im Laden zu helfen, in diesen ersten Tagen, da sie noch nicht ganz sicher war, ob nicht doch ein Agent der Gestapo ums Haus schlich. Sie hatte ihm gesagt, daß er ganz still in der Stube bleiben müsse. Von niemandem dürfe er sich sehen lassen. Ein wenig überrascht war sie, mit welcher Gelassenheit er diese Eröffnung aufnahm; ihr wäre es schrecklich gewesen, zu solchem untätigen Sitzen in der engen Stube verurteilt zu sein. Aber er hatte nur gesagt: »Nun gut, da werde ich mich ein bißchen pflegen!«

»Und was wirst du tun, Enno?« hatte sie gefragt. »So ein Tag ist lang, und ich kann mich nicht viel um dich kümmern, und Grübeln trägt nichts ein.«

»Tun?« hatte er ganz erstaunt gefragt. »Wieso tun? Ach, du meinst arbeiten?« Er hatte es schon auf der Zunge, daß er seiner Ansicht nach genug gearbeitet hatte für eine lange Zeit, aber er war noch sehr vorsichtig bei ihr und sagte darum: »Natürlich würde ich gerne was arbeiten. Aber was kann ich denn hier im Zimmer arbeiten? Ja, wenn da 'ne Drehbank stünde!« Und er lachte.

»Aber ich weiß eine Arbeit für dich! Sieh mal her, Enno!«

Sie trug einen großen Karton herein, ganz gefüllt mit allen möglichen Sämereien. Nun stellte sie ein Brettchen vor ihn hin, eines jener hölzernen Zahlbretter mit Rand, wie sie auf vielen Ladentischen stehen. Und sie nahm einen Federhalter zur Hand, in dem die Feder verkehrt herum steckte. Diesen Halter wie eine Schaufel benutzend, fing sie an, eine Handvoll Sämereien, die sie auf das Zahlbrett geschüttet hatte, aufzuteilen in die verschiedenen Sorten. Rasch und geschickt ging die Feder hin und her, teilte, schob in eine Ecke, sonderte wieder, und dabei erklärte sie: »Das sind alles Futterreste, aus den Ecken zusammengefegt, aus zerplatzten Tüten, das habe ich alles gesammelt, seit Jahren. Jetzt da das Futter so knapp ist, kommt es mir zugute. Ich sortiere es ...«

»Aber warum sortierst du es? Das ist ja eine Riesenarbeit! Gib's den Vögeln doch so zu fressen, die sortieren es sich schon selbst!«

»Und veraasen dabei drei Viertel des Futters! Oder fressen Futter, das ihnen nicht bekommt, und gehen mir ein! Nein, die kleine Arbeit muß man sich schon machen. Ich hab's meist am Abend getan und am Sonntag, immer wenn ich ein bißchen Zeit hatte. An einem Sonntag habe ich einmal fast fünf Pfund sortiert, neben meiner Hausarbeit! Nun, wir werden ja sehen, ob du meinen Rekord schlägst. Du hast ja jetzt viel Zeit, und es denkt sich gut dabei nach. Sicher hast du viel nachzudenken. So, nun versuch du es einmal, Enno!«

Sie gab ihm eine kleine Schaufel in die Hand und sah zu, wie er zu arbeiten anfing.

»Du bist gar nicht ungeschickt!« lobte sie ihn. »Du hast kluge Hände!«

Und einen Augenblick später: »Aber du mußt besser aufpassen, Hänschen – nein, Enno meine ich. Ich muß mich erst daran gewöhnen! Sieh mal, dies spitze glänzende Korn, das ist Hirse, und das stumpfe, schwarze, das ist Raps. Das darfst du nicht durcheinanderbringen. Die Sonnenblumenkerne nimmst du am besten vorher mit den Fingern heraus, das geht schneller als mit der Feder. Warte, ich hole dir noch Schalen, in die du das fertig sortierte tun kannst!«

Sie war ganz Eifer, ihn für seine langweiligen Tage mit Arbeit zu versorgen. Dann ging die Ladenklingel zum erstenmal, und von nun an riß es nicht ab mit Kunden, sie konnte ihn immer nur für einen Augenblick besuchen. Dann traf sie ihn träumend vor seinem Zahlbrett mit den Sämereien. Oder noch schlimmer war es, wenn er sich eilig, vom Geräusch der Tür erschreckt, an seinen Arbeitsplatz schlich wie ein Kind, das beim Faulsein ertappt ist.

Sie sah bald, nie würde er ihren Rekord von fünf Pfund schlagen, er würde es nicht einmal auf zwei Pfund bringen. Und die würde sie auch noch einmal durchsehen müssen, so liederlich hatte er gearbeitet.

Sie war ein bißchen enttäuscht, aber sie gab ihm recht, als er sagte: »Nicht ganz zufrieden, Hete, was?« Er lachte verlegen. »Aber, weißt du, das ist keine richtige Arbeit für einen Mann. Gib mir 'ne richtige Arbeit für einen Mann und du sollst mal sehen, wie ich loshaue!«

Natürlich hatte er recht, und am nächsten Tag setzte sie ihm das Brett mit den Sämereien nicht mehr hin. »Du mußt eben sehen, wie du den Tag hinbringst, du Armer!« sagte sie tröstend. »Es muß schrecklich für dich sein. Aber vielleicht liest du ein bißchen? Ich habe dort im Schrank noch viele Bücher von meinem Mann. Warte, ich schließe dir gleich auf.«

Er stand hinter ihr, als sie die Reihen musterte. »Er war Funktionär bei der KPD. Da, den Marx habe ich noch grade bei einer Haussuchung gerettet. Ich hatte ihn ins Ofenloch gesteckt, und grade wollte ein SA-Mann die Ofentür aufmachen, da gab ich ihm rasch eine Zigarette, und er vergaß es.« Sie sah ihm ins Gesicht. »Aber das sind wohl keine Bücher für dich, Lieber, was? Ich muß dir gestehen, ich habe auch kaum hineingesehen, seit mein Mann tot ist. Vielleicht ist das falsch, jeder müßte sich um Politik kümmern. Hätten wir das alle rechtzeitig getan, so wäre es nicht gekommen, wie es jetzt durch die Nazis geworden ist, das hat Walter immer gesagt. Aber ich bin nur eine Frau ...«

Sie brach ab, sie merkte, er hatte gar nicht hingehört.

»Aber da unten stehen noch ein paar Romane von mir.«

»Am liebsten hätte ich einen richtigen Detektivroman, so was mit Verbrechen und Mord«, erklärte Enno.

»Ich glaube, so was ist nicht da. Aber hier habe ich ein wirklich schönes Buch, das habe ich immer wieder gelesen. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse. Das versuch mal, das wird dich freuen ...«

Aber sie sah, wenn sie in die Stube kam, er las nicht darin. Es lag aufgeschlagen auf dem Tisch, später war es beiseite geschoben.

»Es gefällt dir nicht?«

»Ach, weißt du, ich weiß nicht ... Das sind alles so schrecklich gute Menschen, so was ist doch langweilig. So ein richtig frommes Buch ist das. Kein Buch für einen Mann. Wir wollen mehr was Aufregendes, verstehst du ...«

»Schade«, sagte sie. »Schade.« Und sie stellte das Buch in den Schrank zurück.

Es irritierte sie, wenn sie jetzt in die Stube kam, den Mann da sitzen zu sehen, immer in der gleichen schlaffen Haltung, vor sich hin dösend. Oder er schlief auch, den Kopf auf den Tisch gelegt. Oder er stand am Fenster und starrte auf den Hof, immer die gleiche Melodie vor sich hin pfeifend. Es irritierte sie sehr. Sie war immer eine tätige Frau gewesen, sie war es noch, ein Leben ohne Arbeit wäre ihr sinnlos erschienen. Am liebsten hatte sie es, wenn der ganze Laden voller Kunden stand, und sie hätte sich am liebsten in zehn Stücke zerteilt.

Und da stand nun dieser Mann, stand, saß, hockte, lag, zehn Stunden, zwölf Stunden, vierzehn Stunden, und tat nichts, rein gar nichts! Er stahl dem lieben Herrgott den Tag! Was fehlte ihm denn? Er schlief genug, er aß mit Appetit, es ging ihm nichts ab, aber er arbeitete nicht! Einmal riß ihr die Geduld, und sie sagte gereizt: »Wenn du nur nicht immer dieselbe Melodie pfeifen wolltest, Enno! Seit sechs, acht Stunden pfeifst du schon: Kleine Mädchen müssen schlafen gehn ...«

Er lachte verlegen. »Stört dich meine Pfeife? Na, ich kann auch anders. Soll ich dir mal das Horst-Wessel-Lied pfeifen?« Und er fing an: Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen ...

Ohne ein Wort ging sie in den Laden zurück. Diesmal hatte er sie nicht nur irritiert, diesmal war sie ernstlich verletzt.

Aber das verging wieder. Sie war nicht nachtragend, und außerdem hatte auch er gemerkt, daß er etwas falsch gemacht hatte, und hatte ihr als Überraschung eine neue Lampe über dem Bett zurechtgebastelt. Ja, so was konnte er auch; wenn er wollte, war er geschickt genug, aber meist wollte er nicht.

Übrigens gingen diese Tage seiner Verbannung in die Stube rasch vorüber. Frau Hete hatte sich bald davon überzeugt, daß wirklich kein Spitzel um das Haus herumstrich, und Enno konnte wieder im Laden helfen. Auf die Straße freilich durfte er vorläufig überhaupt nicht, immer konnte ihn ein Bekannter sehen. Aber im Laden helfen, das konnte er, und da erwies er sich nun wieder recht nützlich und geschickt. Sie sah bald, daß ihn eine längere Zeit gleichförmig hintereinander ausgeführte Arbeit rasch ermüdete, so gab sie ihm jetzt dies, dann das zu tun.

Bald ließ sie ihn auch bei der Kundenbedienung helfen. Er wurde gut mit der Kundschaft fertig, er war höflich, schlagfertig, manchmal sogar auf eine schlafmützige Art witzig.

»Mit dem Herrn haben Sie aber einen guten Griff getan, Frau Häberle«, sagten alte Kunden. »Wohl was Verwandtes?«

»Ja, ein Vetter von mir«, log Frau Hete und war glücklich über dies Enno gespendete Lob.

Eines Tages sagte sie zu ihm: »Enno, ich möchte heute nach Dahlem fahren. Du weißt doch, die Tierhandlung von Löbe macht zu, weil er zur Wehrmacht muß. Ich kann seine Bestände kaufen. Er hat sehr viel liegen, es würde eine große Hilfe für uns sein, wo die Ware immer knapper wird. Glaubst du, daß du mit dem Laden fertig wirst?«

»Aber selbstredend, Hete, selbstredend! So was erledige ich doch spielend. Wie lange willst du denn fortbleiben?«

»Na, ich würde gleich nach dem Mittagessen fahren, aber ich glaube nicht, daß ich bis Ladenschluß zurück sein werde. Ich möchte dann auch gleich bei meiner Schneiderin rangehen ...«

»Tu das, Hete. Von mir aus hast du Urlaub bis Mitternacht. Um den Laden hier mach dir keine Sorgen, den erledige ich dir prima.«

Er setzte sie noch in die U-Bahn. Es war Mittagspause, der Laden war geschlossen.

Sie lächelte vor sich hin, als der Wagen schon fuhr. Das Leben zu zweien war doch ein ander Leben! Es war schön, wenn man so gemeinsam arbeitete. Dann erst hatte man abends das richtige Gefühl von Befriedigung. Und er gab sich Mühe, entschieden gab er sich Mühe, es ihr recht zu machen. Er tat, was er konnte. Sicher war er kein energischer oder auch nur fleißiger Mensch, sie gestand es sich ein. Wenn er zu viel hatte laufen müssen, zog er sich gerne einmal in die Stube zurück, der Laden mochte noch so voll stehen, er überließ ihr die Kundschaft allein. Oder sie fand ihn nach langem vergeblichem Rufen im Keller, wie er auf dem Rand der Sandkiste saß und vor sich hin döste; das halb mit Sand gefüllte Eimerchen stand vor ihm – und sie wartete schon zehn Minuten darauf!

Er fuhr zusammen, wenn sie ihn ein wenig scharf anrief: »Enno, wo bleibst du bloß? Ich warte mir die Seele aus dem Leibe!«

Wie ein erschrockener Schuljunge sprang er auf. »Ein bißchen eingedöst«, murmelte er verlegen und fing langsam zu schippen an. »Komme gleich, Frau Chefin, soll auch nicht wieder passieren.«

Mit solchen kleinen Scherzen versuchte er dann, sie zu versöhnen.

Nein, in keiner Hinsicht ein großes Kirchenlicht, dieser Enno, soweit sah sie jetzt schon klar, aber er tat, was er konnte. Und dabei gut zu leiden, höflich, umgänglich, anschmiegsam, ohne ersichtliche Laster. Daß er ein bißchen sehr viel Zigaretten rauchte, das sah sie ihm nach. Sie rauchte selber gerne mal eine, wenn sie abgespannt war ...

Mit ihren Besorgungen aber hatte Frau Hete an diesem Tage Pech. Das Geschäft von Löbe in Dahlem war geschlossen, als sie hinkam, man konnte ihr auch nicht sagen, wann Herr Löbe zurückkam. Nein, eingezogen war er noch nicht, aber er hatte jetzt wohl viel Gänge durch seine Einberufung. Vormittags ab zehn Uhr war das Geschäft sonst immer geöffnet gewesen – vielleicht versuchte sie es morgen vormittag?

Sie dankte und fuhr zu ihrer Schneiderin. Vor dem Hause aber blieb sie erschrocken stehen. In der Nacht war eine Fliegerbombe hineingegangen, das Haus war nur noch eine Ruine. Die Leute gingen eilig daran vorüber, manche mit absichtlich abgewandten Gesichtern, die das Grauen der Zerstörung nicht sehen wollten, oder die Angst hatten, ihre Erbitterung nicht verbergen zu können, andere besonders langsam (Polizei sorgte dafür, daß niemand stehenblieb), entweder mit sorglos lächelnden, neugierigen Gesichtern oder mit einem finsteren, fast drohenden Blick die Verwüstung musternd.

Ja, Berlin wurde jetzt öfter in den Keller geschickt, und jetzt fielen auch immer häufiger Bomben und die gefürchteten Phosphorkanister. Immer öfter wurde jetzt auch das Wort Görings zitiert, er wolle Meier heißen, wenn sich ein feindliches Flugzeug über Berlin sehen ließe. In der vergangenen Nacht hatte Frau Hete auch im Keller gesessen, allein, denn sie wollte nicht, daß Enno schon jetzt als ihr offizieller Freund und Hausgenosse gesehen wurde. Sie hatte das Surren der Flieger über sich gehört, dieses nervenzerrüttende Geräusch, wie wenn immer wieder eine Mücke sirrt und surrt. Das Geräusch von Einschlägen hatte sie nicht gehört, ihre Gegend war bisher noch ganz verschont geblieben. Die Leute erzählten ja, die Engländer wollten den Arbeitern nichts tun, sie wollten nur die feinen Familien im Westen erledigen ...

Die Schneiderin war kein reicher Mensch gewesen, nun hatte sie es doch getroffen. Frau Hete Häberle suchte von einem Schutzmann zu erfahren, wo die Schneiderin geblieben, ob ihr etwas geschehen sei. Der Schutzmann bedauerte, keine Auskunft geben zu können. Vielleicht ginge die Dame mal aufs Revier, oder sie erkundigte sich auch auf der nächsten Stelle des Luftschutzbundes?

Aber dazu hatte Frau Hete jetzt keine Ruhe. So leid ihr die Schneiderin auch tat, und so gerne sie etwas über ihr Ergehen erfahren hätte, es drängte Hete jetzt nach Haus. Immer, wenn man so etwas sah, drängte es einen nach Haus. Sofort mußte man sich dort überzeugen, daß auch alles in Ordnung war. Es war töricht, man wußte es, aber man fuhr doch los. Man mußte sich erst mit eigenen Augen überführen, daß dort nichts geschehen war.

Aber leider war doch etwas geschehen mit der kleinen Tierhandlung am Königstor. Nichts Tragisches, gewiß nicht, und doch erschütterte es Frau Häberle tief, tiefer als manches Erlebnis in vielen Jahren. Frau Häberle fand den Rollladen vor dem Laden heruntergelassen, und an ihm war ein Schild festgemacht, ein Schild mit der dummen Inschrift, über die sie sich immer empört hatte: »Komme gleich wieder.« Und darunter: »Frau Hedwig Häberle.«

Daß unter diesem Zettel auch noch ihr Name stand, daß sie mit ihrem guten Namen diese Liederei und Pflichtvergessenheit decken mußte, das beleidigte sie fast ebenso tief wie der Vertrauensbruch, den Enno begangen hatte. Hinter ihrem Rücken fortgeschlichen, und hinter ihrem Rücken hätte er auch wieder aufgemacht, hätte ihr kein Wort davon gesagt, daß er sie belogen hatte. Und wie dumm dabei, wie überaus dumm, denn es war doch fast sicher, daß eine ihrer Stammkundinnen sie fragte: »Gestern nachmittag zugehabt? Unterwegs gewesen, Frau Häberle?«

Sie kommt über den Hausflur in ihre Wohnung. Dann zieht sie den Laden von ihrer Ladentür hoch, öffnet die Tür. Sie wartet, bis der erste Kunde kommt, nein, sie möchte jetzt gar nicht, daß er kommt. Solch ein Verrat hinter ihrem Rücken – in ihrer ganzen Ehe mit Walter hat es nie so etwas gegeben. Immer hatten sie volles Vertrauen zueinander, und nie hatte eines je das Vertrauen des andern getäuscht. Und nun dies! Sie hatte ihm doch nicht die geringste Veranlassung gegeben!

Die erste Kundin kommt, sie wird von ihr bedient; aber als Hete ihr auf einen Zwanzigmarkschein herausgeben will und die Ladenkasse aufzieht, ist die leer. Es war reichlich Wechselgeld in der Kasse, als sie fortging, an die hundert Mark. Sie bezwingt sich, sie holt aus ihrer Handtasche Geld, gibt heraus, fertig! Die Ladentür bimmelt.

Ja, jetzt möchte sie den Laden zuschließen und ganz mit sich allein sein. Ihr fällt ein – während sie immer weiter Kundschaft abfertigt –, daß es ihr in den letzten Tagen schon ein paarmal so vorgekommen war, als könne die Kasse nicht ganz stimmen, als müsse die Tageslosung höher sein. Damals hat sie solche Gedanken unmutig verjagt. Was sollte Enno auch mit dem Geld anfangen? Er kam ja gar nicht aus dem Hause, war immer unter ihren Augen!

Aber jetzt denkt sie daran, daß die Toilette auf der halben Treppe liegt, und daß er viel mehr Zigaretten geraucht hat, als er in seinem Köfferchen mitgebracht haben kann. Sicher hat er jemanden im Hause gefunden, der ihm Zigaretten holt, schwarz gekaufte, ohne Karte, hinter ihrem Rücken! Wie schmählich und gemein! Sie hätte ihn liebend gerne mit Zigaretten versorgt, er hätte nur den Mund auftun müssen!

In diesen anderthalb Stunden bis zum Wiederauftauchen Ennos kämpft Frau Häberle einen schweren Kampf mit sich. In den letzten Tagen hat sie sich daran gewöhnt, daß wieder ein Mann im Hause ist, daß sie nicht mehr allein ist, sondern für jemanden zu sorgen hat, für jemanden, den sie gerne hat. Aber wenn der Mann so ist, wie es jetzt den Anschein hat, so muß sie die Liebe ausreißen aus ihrem Herzen! Besser allein sein als in solch ewigem Mißtrauen und in solcher grauenvollen Angst leben! Sie kann ja nicht mehr um die Ecke in den Grünkram gehen, schon muß sie Angst haben, er betrügt sie wieder!

Und dann fällt Hete ein, daß es ihr auch so vorgekommen ist, als lägen die Sachen nicht ganz richtig in ihrem Wäschespind. Nein, es muß sein, sie muß ihn fortschicken, heute noch, so schwer es ihr auch fällt. Später würde es noch schwerer sein.

Aber dann denkt sie daran, daß sie eine alternde Frau ist, daß dies vielleicht ihre letzte Gelegenheit ist, einem einsamen Lebensabend zu entgehen. Nach diesem Erlebnis mit Enno Kluge wird sie sich kaum noch entschließen, mit einem andern Manne es aufs neue zu versuchen. Nach diesem erschreckenden, zerschmetternden Erlebnis mit Enno!

»Ja, Mehlwürmer sind wieder da. Wieviel darf es denn sein, meine Dame?«

Eine halbe Stunde vor Ladenschluß kommt Enno. Es ist für ihren Gefühlszustand bezeichnend, daß sie erst jetzt daran denkt, daß er sich ja gar nicht auf der Straße sehen lassen soll, in solcher Gefahr, wie er durch die Gestapo war! Bisher hat sie daran gar nicht denken können, so sehr war sie mit dem Verrat beschäftigt, den er an ihr begangen. Aber was helfen denn alle Vorsichtsmaßregeln, wenn er in ihrer Abwesenheit einfach losläuft? Und vielleicht ist all das mit der Gestapo auch Lug und Trug? Bei diesem Manne ist alles möglich!

Er hat natürlich schon an dem hochgezogenen Rolladen gemerkt, daß sie wieder im Laden ist. Er kommt von der Straße herein, vorsichtig und behutsam schlängelt er sich durch die Kunden, lächelt ihr zu, als sei nicht das geringste vorgefallen, und sagt, in der Stube verschwindend: »Ich komme gleich und helfe, Chefin!«

Und er kommt wirklich sehr schnell zurück, und notgedrungen, um vor der Kundschaft das Ansehen zu bewahren, muß sie mit ihm sprechen, ihm Anweisungen geben, tun, als sei nichts geschehen – und doch ist ihre Welt eingestürzt! Aber sie läßt sich nichts merken, sie geht sogar auf seine schwachen Witzchen ein, die er heute besonders reichlich bereithält, und nur, als er an die Ladenkasse will, sagt sie scharf: »Bitte, die Kasse besorge ich!«

Er ist etwas zusammengefahren, mit einem scheuen Blick sieht er sie von der Seite an – wie ein Hund, der geschlagen wird, ja, genau wie ein verprügelter Hund, denkt sie. Dann hat sich seine Hand in die Tasche getastet, ein Lächeln ist auf sein Gesicht getreten, jawohl, er hat den Schlag schon wieder verwunden.

»Zu Befehl, Chefin!« schnarrt er und knallt die Absätze zusammen.

Die Kunden lachen über den kleinen, komischen Mann, der da Soldat spielen will, aber ihr ist nicht zum Lachen zumute.

Dann ist der Laden geschlossen. Fünf Viertelstunden arbeiten sie noch eifrig miteinander, ganz mit Füttern und Tränken und Säubern beschäftigt, beide schließlich fast wortlos, nachdem sie auf seine Scherze, die er immer wieder versuchte, nicht eingegangen war.

Frau Hete steht in der Küche, sie macht das Abendessen zurecht. Sie hat Bratkartoffeln in der Pfanne, richtige, schöne Bratkartoffeln, mit Speck angebraten. Den Speck hat sie von einer Kundin im Austausch gegen einen Harzer Roller bekommen. Sie hat sich darauf gefreut, ihn mit einem so schönen Abendessen überraschen zu können, denn er ißt gerne was Gutes. Die Kartoffeln werden schön goldgelb.

Aber plötzlich löscht sie die Gasflamme unter der Pfanne. Plötzlich kann sie auf diese Aussprache nicht mehr warten. Sie geht in die Stube, lehnt sich mit dem Rücken, dunkel und massig, gegen den Ofen und fragt in einem fast drohenden Tone: »Nun?«

Er hat am Tisch gesessen, dem Abendbrottisch, den er für sie beide gedeckt hatte, vor sich hin flötend, nach seiner Gewohnheit.

Bei diesem drohenden »Nun« fährt er zusammen, er steht auf und sieht zu der dunklen Gestalt hinüber.

»Ja, Hete?« sagt er. »Gibt's bald Abendessen? Ich hab mächtigen Kohldampf.«

Sie möchte ihn vor Wut schlagen, diesen Mann, der glaubt, sie ist bereit, einen solchen Verrat totzuschweigen! Der fühlt sich ja schon sehr sicher, dieser Herr, weil er mit ihr in einem Bett geschlafen hat! Sie ist von einem ganz ungewohnten Zorn erfaßt, am liebsten würde sie den Kerl schütteln und schlagen, noch einmal und noch einmal.

Aber sie bezwingt sich und wiederholt ihr »Nun?« nur noch drohender.

»Ach so!« sagt er. »Du meinst das mit dem Geld, Hete.« Er greift in die Tasche und zieht einen Haufen Scheine hervor. »Da, Hete, das sind 210 Mark, und ich hatte 92 Mark aus der Kasse genommen.« Er lacht ein bißchen verlegen. »Damit ich doch auch etwas zur Wirtschaft beisteuere!«

»Und wie kommst du zu dem vielen Geld?«

»Heute nachmittag war das große Traberrennen in Karlshorst. Ich bin grade noch rechtzeitig gekommen, um Adebar zu setzen. Adebar, Sieg. Ich wett nämlich gerne auf Pferde. Ich verstehe ziemlich viel von Rennen, Hete.« Er sagt das mit einem bei ihm ganz ungewohnten Stolz. »Nicht die ganzen 92, nur 50 Mark habe ich gesetzt. Die Quote war ...«

»Und was hättest du getan, wenn das Pferd nicht gewonnen hätte?«

»Aber Adebar mußte gewinnen – da gab's gar nichts anderes!«

»Und wenn er doch nicht gewonnen hätte?«

Jetzt ist er es einmal, der sich der Frau überlegen fühlt. Er lächelt, als er sagt: »Sieh mal, Hete, du verstehst nichts vom Rennsport, ich verstehe aber alles davon. Und wenn ich sage: Adebar gewinnt und riskiere sogar 50 Mark darauf ...«

Sie unterbricht ihn. Sie sagt scharf: »Du hast mein Geld riskiert! Das will ich nicht haben! Wenn du Geld brauchst, sagst du es, du sollst bei mir nicht nur für die Kost arbeiten müssen. Aber ohne meine Erlaubnis nimmst du kein Geld aus der Kasse, verstanden?«

Bei diesem ungewohnt scharfen Ton ist er wieder völlig unsicher geworden. Er sagt klagend (und sie weiß, gleich wird er losweinen, und sie fürchtet sich schon vor diesen Tränen), er sagt also klagend: »Aber wie redest du denn mit mir, Hete? Als ob ich nur dein Arbeiter wäre! Natürlich nehme ich nicht wieder Geld aus der Kasse. Ich dachte bloß, ich würde dir eine Freude machen, wenn ich so schön Geld verdiene. Wo der Sieg doch auch ganz sicher war!«

Sie geht gar nicht auf dieses Geschwätz ein. Das Geld war ihr ja immer Nebensache, das Wichtige war das enttäuschte Vertrauen. Er denkt jetzt, sie ist bloß wegen des Geldes ärgerlich, so ein Schwachkopf! Sie sagt: »Und wegen dieser Pferdewetterei hast du also einfach den Laden zugemacht?«

»Ja«, sagt er. »Du hättest ihn doch auch zumachen müssen, wenn ich nicht dagewesen wäre!«

»Und daß du ihn zumachen wolltest, das hast du schon gewußt, als ich fortging?«

»Ja«, sagt er ganz dumm. Und verbessert sich rasch: »Nein, natürlich nicht, sonst hätte ich dich um Erlaubnis gebeten. Es ist mir erst eingefallen, als ich bei dem kleinen Laden von dem Buchmacher vorbeikam, in der Neuen Königstraße, weißt du. Da las ich im Vorbeigehen die Tips, und als ich da als Außenseiter Adebar las, da habe ich mich erst entschlossen.«

»So!« sagt sie. Sie glaubt ihm nicht. Das hat er schon vorher vorgehabt, ehe er sie in die U-Bahn setzte. Ihr ist eingefallen, daß er heute früh so lange mit der Zeitung herumgeknistert und dann lange auf einem Zettel gerechnet hat, immer noch, als schon die ersten Kunden im Laden waren. »So!« sagte sie noch einmal. »Und du gehst also einfach in der Stadt spazieren, wo wir doch ausgemacht haben, du läßt dich wegen der Gestapo möglichst nicht draußen sehen?«

»Du hast doch auch erlaubt, daß ich dich bis an die U-Bahn bringe!«

»Da waren wir zusammen. Und ich hatte ausdrücklich gesagt, es sollte ein Versuch sein! Das heißt noch nicht, daß du den halben Tag in der Stadt herumläufst. Wo bist du denn gewesen?«

»Ach, nur in so 'nem kleinen Lokal, das ich von früher kenne. Da kommt nie einer von der Gestapo hin, da verkehren nur Buchmacher und Rennwetter.«

»Die dich alle kennen! Die alle überall erzählen können: Wir haben den Enno Kluge da und dort gesehen!«

»Aber die Gestapo weiß doch auch, daß ich irgendwo sein muß. Nur wo, weiß sie nicht. Das Lokal ist sehr weit ab von hier, auf dem Wedding. Und ein Bekannter war nicht dort, der mich verpfeifen könnte!«

Er redet ganz eifrig und gutherzig; wenn man auf ihn hört, ist er vollkommen in seinem Recht. Er versteht gar nicht, wie sehr er ihr Vertrauen enttäuscht hat, was für einen Kampf sie seinetwegen mit sich kämpft. Geld genommen – um ihr eine Freude zu machen. Das Geschäft geschlossen – hätte sie ja auch getan. In ein Lokal gegangen – war ja weit weg am Wedding. Daß sie sich aber um ihre Liebe geängstigt hatte, davon verstand er gar nichts, das ging nicht in seinen Schädel hinein.

»Also, Enno«, fragt sie, »das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Oder?«

»Ja, was soll ich denn noch sagen, Hete? Ich seh ja, du bist mächtig unzufrieden mit mir, aber ich finde wirklich nicht, daß ich so viel falsch gemacht habe!« Nun kamen sie doch, die gefürchteten Tränen. »Ach, Hete, sei doch bloß wieder gut zu mir! Ich will dich auch gewiß vorher nach allem fragen! Sei bloß wieder lieb zu mir. So halte ich es nicht aus ...«

Aber diesmal verfingen weder Tränen noch Bitten. Etwas klang falsch darin. Es ekelte sie beinahe vor dem weinenden Manne.

»Das muß ich mir alles erst gut überlegen, Enno«, sagte sie voll Abwehr. »Du scheinst gar nicht zu verstehen, wie schwer du mein Vertrauen enttäuscht hast.«

Und sie ging an ihm vorbei in die Küche, die Kartoffeln weiterzubraten. Da hatte sie also diese Aussprache gehabt. Und was hatte sie gebracht? Hatte sie die Verhältnisse geklärt, eine Entscheidung erleichtert?

Nichts von alledem! Sie hatte ihr nur gezeigt, daß dieser Mann gar kein Gefühl dafür hatte, wenn er schuldig geworden war. Daß er besinnungslos log, wenn die Lage das zu erfordern schien, wobei es ihm gar nicht darauf ankam, wen er anlog.

Nein, solch ein Mann war nicht der richtige Mann für sie. Sie mußte mit ihm zum Schluß kommen. Freilich, eines war klar, heute abend konnte sie ihn nicht mehr auf die Straße setzen. Er wußte ja gar nicht, was er verbrochen hatte. Er war wie ein junger Hund, der ein Paar Schuhe zerbissen hat und keine Ahnung besitzt, warum sein Herr ihn eigentlich verprügelt.

Nein, ein oder zwei Tage mußte sie ihm schon Zeit lassen, ein neues Quartier zu suchen. Wenn er dabei der Gestapo in die Hände fällt – sie muß es darauf ankommen lassen. Er läßt es ja auch darauf ankommen – wegen einer Rennwette! Nein, sie muß sich von ihm frei machen, sie kann nie wieder Vertrauen zu ihm finden. Allein muß sie für sich leben, von nun an bis zu ihrem Tode! Und bei diesem Gedanken wird ihr angst.

Aber trotz dieser Angst sagt sie nach dem Abendessen zu ihm: »Ich habe mir alles überlegt, Enno, wir müssen uns trennen. Du bist ein netter Mann, du bist auch ein lieber Mann, aber du siehst die Welt zu sehr mit andern Augen an, auf die Dauer könnten wir uns nicht vertragen.«

Er blickt starr auf sie, die wie zur Bekräftigung ihrer Worte ihm das Bett auf dem Sofa richtet. Er will erst seinen Ohren nicht trauen, und dann wimmert er los: »O Gott, Hete, das kannst du nicht wirklich meinen! Wo wir beide uns doch so liebhaben! Das kannst du nicht wollen, mich auf die Straße und der Gestapo in die Arme zu jagen!«

»Ach!« sagt sie und will sich durch die eigenen Worte beruhigen. »Das mit der Gestapo wird auch nur halb so schlimm sein, sonst wärst du heute nicht den halben Tag in der Stadt herumgelaufen!«

Aber er bricht in die Knie. Wahrhaftig, er rutscht auf den Knien zu ihr hin. Die Furcht hat ihn ganz besinnungslos gemacht. »Hete! Hete!« schreit und schluchzt er. »Du willst mich doch nicht töten? Du mußt mich hierbehalten! Wo soll ich denn hin? Ach, Hete, hab mich doch ein bißchen lieb, ich bin ja so unglücklich ...«

Heulen und Geschrei, ein kleiner, vor Angst winselnder Hund!

Er will ihre Beine umklammern, er faßt nach ihren Händen. Sie flieht vor ihm in ihr Schlafzimmer, sie riegelt sich ein. Aber die ganze Nacht hört sie ihn immer wieder gegen die Tür stoßen, die Klinke probieren, wimmern und betteln ...

Sie liegt ganz still. Sie sammelt in sich alle Kraft, nicht nachzugeben, sich nicht weichmachen zu lassen von ihrem eigenen Herzen und dem Gebettel da draußen! Sie bleibt fest bei ihrem Entschluß, nicht weiter mit ihm zusammen zu leben.

Beim Frühstück sitzen sie einander mit bleichen, übernächtigen Gesichtern gegenüber. Sie sprechen kaum ein Wort miteinander. Sie tun, als ob die Auseinandersetzung nie gewesen wäre.

Aber er weiß jetzt Bescheid, denkt sie, und wenn er sich heute kein Zimmer sucht, morgen abend muß er mir doch aus dem Haus. Morgen mittag sage ich es ihm noch einmal. Wir müssen uns trennen!

O ja, Frau Hete Häberle ist eine ebenso mutige wie anständige Frau. Und daß sie ihren Entschluß dann doch nicht durchführt, daß sie den Enno doch nicht von sich stößt, das liegt nicht an ihr, das liegt an Menschen, die sie noch gar nicht kennt. Zum Beispiel an dem Kommissar Escherich und dem Herrn Borkhausen.


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