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5.
Enno Kluges Heimkehr

Um zwei Uhr nachmittags war die Briefträgerin Eva Kluge mit ihrem Bestellgang fertig geworden. Bis gegen vier Uhr hatte sie noch mit der Abrechnung von Zeitungsgeldern und Strafporti zu tun gehabt: War sie sehr müde, verwirrten sich ihr die Zahlen, und sie verrechnete sich immer wieder. Mit brennenden Füßen und einer schmerzenden Öde im Kopf machte sie sich auf den Heimweg; sie mochte gar nicht daran denken, was sie noch alles zu tun hatte, bis sie endlich ins Bett gehen konnte. Auf dem Heimweg erledigte sie noch ihre Besorgungen auf Karten; beim Fleischer mußte sie ziemlich lange anstehen, und so war es fast sechs Uhr geworden, als sie langsam die Stufen ihrer Wohnung am Friedrichshain emporstieg.

Auf der Treppenstufe vor ihrer Tür stand ein kleiner Mann in hellem Mantel und mit Sportmütze. Er hatte ein farbloses Gesicht ohne allen Ausdruck, die Lider waren ein wenig entzündet, die Augen blaß, solch ein Gesicht, das man sofort wieder vergißt.

»Du, Enno?« rief sie und nahm die Wohnungsschlüssel unwillkürlich fester in die Hand. »Was willst du denn bei mir? Ich habe kein Geld und auch kein Essen, und in die Wohnung lasse ich dich auch nicht!«

Der kleine Mann machte eine beruhigende Bewegung. »Warum denn gleich so aufgeregt, Eva? Wieso denn gleich so bösartig? Ich will dir doch bloß mal guten Tag sagen, Eva. Guten Tag, Eva!«

»Guten Tag, Enno!« sagte sie, aber nur widerwillig, denn sie kannte ihren Mann seit vielen Jahren. Sie wartete eine Weile, dann lachte sie kurz und böse auf. »Jetzt haben wir uns guten Tag gesagt, wie du wolltest, Enno, und du kannst gehen. Aber wie ich seh, gehst du nicht, was willst du also wirklich?«

»Siehste, Evchen«, sagte er. »Du bist 'ne vernünftige Frau, und mit dir kann man 'n Wort reden ...« Er fing an, ihr umständlich auseinanderzusetzen, daß die Krankenkasse nicht länger zahlte, weil er seine sechsundzwanzig Wochen Kranksein rum hatte. Er mußte wieder arbeiten gehen, sonst schickten sie ihn zurück zur Wehrmacht, die ihn seiner Fabrik zur Verfügung gestellt hatte, weil er Feinmechaniker war, und die waren knapp. »Die Sache ist nun die und der Umstand der«, schloß er seine Erklärungen, »daß ich die nächsten Tage einen festen Wohnsitz haben muß. Und da habe ich gedacht ...«

Sie schüttelte energisch den Kopf. Sie war zum Umsinken müde und sehnte sich danach, in die Wohnung zu kommen, wo so viel Arbeit auf sie wartete. Aber sie ließ ihn nicht ein, ihn nicht, und wenn sie die halbe Nacht stehen mußte.

Er sagte eilig, aber es klang immer gleich farblos: »Sag noch nicht nein, Evchen, ich bin noch nicht zu Ende mit meinen Worten. Ich schwöre dir, ich will gar nichts von dir, kein Geld, kein Essen. Laß mich bloß auf dem Kanapee schlafen. Ich brauch auch keine Bettwäsche. Du sollst nicht Arbeit von mir haben.«

Wieder schüttelte sie den Kopf. Wenn er bloß aufhören wollte mit Reden, er sollte doch wissen, daß sie ihm nicht ein Wort glaubte. Er hatte noch nie gehalten, was er versprochen hatte.

Sie fragte: »Warum machst du das nicht bei einer von deinen Freundinnen ab? Die sind dir doch sonst gut genug für so was!«

Er schüttelte den Kopf: »Mit den Weibern bin ich durch, Evchen, mit denen befaß ich mich nicht mehr, mit denen hat's mir gereicht. Wenn ich alles bedenke, du warst doch immer die Beste von allen, Evchen. Gute Jahre haben wir gehabt, damals, als die Jungen noch klein waren.«

Unwillkürlich hatte sich ihr Gesicht bei der Erinnerung an ihre ersten Ehejahre aufgehellt. Die waren wirklich gut gewesen, damals, als er noch als Feinmechaniker arbeitete und jede Woche seine sechzig Mark nach Haus brachte und von Arbeitsscheu nichts wußte.

Enno Kluge sah sofort seinen Vorteil. »Siehste, Evchen, ein bißchen hast du mich doch noch gerne, und darum läßt du mich auch auf dem Kanapee schlafen. Ich versprech dir, ich mach's ganz schnell ab mit dem Arbeiten, mir liegt doch auch nichts an dem Kohl. Bloß so lange, daß ich wieder Krankengeld kriege und nicht zu den Preußen muß. In zehn Tagen schaff ich's, daß sie mich wieder krank schreiben!«

Er machte eine Pause und sah sie abwartend an. Jetzt schüttelte sie nicht den Kopf, aber ihr Gesicht sah undurchdringlich aus. So fuhr er fort: »Ich will's diesmal nicht mit Magenblutungen machen, da geben sie einem nichts zu fressen in den Krankenhäusern. Ich reise diesmal auf Gallenkoliken. Da können sie einem auch nichts nachweisen, bloß mal röntgen, und man muß keine Steine haben für die Koliken. Man kann bloß. Ich habe mir alles genau erklären lassen. Das klappt schon. Bloß daß ich erst diese zehn Tage arbeiten muß.«

Sie antwortete wieder mit keinem Wort, und er fuhr fort, denn er glaubte daran, daß man den Leuten ein Loch in den Bauch reden kann, daß sie schließlich doch nachgeben, wenn man nur beharrlich genug ist. »Ich habe auch die Adresse von 'nem Arzt in der Frankfurter Allee, der schreibt jeden krank, wenn man will, bloß daß er keine Schwierigkeiten hat mit den Leuten. Mit dem schaff ich's: in zehn Tagen bin ich wieder im Krankenhaus, und du bist mich los, Evchen!«

Sie sagte, müde all dieses Geschwätzes: »Und wenn du bis Mitternacht hier stehst und redest, ich nehm dich doch nicht wieder auf, Enno. Ich tu's nie wieder, du kannst sagen, was du willst, und du kannst tun, was du willst. Ich laß mir nicht wieder alles kaputtmachen von dir und deiner Arbeitsscheu und deiner Rennwetterei und deinen gemeinen Weibern. Ich hab's dreimal erlebt und das vierte Mal und noch mal und noch mal, und nun hat's geschnappt bei mir, nun ist es alle! Ich setze mich hier auf die Treppe, ich bin nämlich müde, seit sechs bin ich auf den Beinen. Wenn du willst, setz dich dazu. Wenn du magst, rede, wenn du nicht magst, halt den Mund, mir ist alles egal. Aber in die Wohnung kommst du mir nicht!«

Sie hatte sich wirklich auf die Treppenstufe gesetzt, auf die gleiche Stufe, die vorher sein Warteplatz gewesen war. Und ihre Worte hatten so entschlossen geklungen, daß er fühlte, diesmal half auch alles Reden nichts. So rückte er denn seine Jockeimütze ein wenig schief und sagte: »Na denn, Evchen, wenn du durchaus nicht willst, wenn du mir nicht mal so 'nen kleinen Gefallen tun willst, wo du weißt, dein Mann ist in Not, mit dem du fünf Kinder gehabt hast, und drei liegen auf dem Kirchhof, und zwei Jungen kämpfen für Führer und Volk ...« Er brach ab, er hatte ganz maschinenmäßig so vor sich hin geredet, weil er das Immerweiterreden aus den Kneipen gewohnt war, obwohl er doch begriffen hatte, hier war jedes Reden zwecklos. »Also, ich geh denn jetzt, Evchen. Und daß du's weißt, ich nehm dir nichts übel, das weißt du, ich mag sein, wie ich will, übelnehmen tu ich nichts.«

»Weil dir alles gleichgültig ist bis auf deine Rennwetterei«, antwortete sie nun doch. »Weil dich sonst nichts auf der Welt interessiert, weil du nichts und keinen gern haben kannst, nicht einmal dich selbst, Enno.« Aber sie brach sofort wieder ab, es war so nutzlos, mit diesem Mann zu sprechen. Sie wartete eine Weile, dann sagte sie: »Aber ich denke, du wolltest gehen, Enno?«

»Jetzt geh ich, Evchen«, sagte er ganz überraschend. »Mach's gut. Ich nehm dir nichts übel. Heil Hitler, Evchen!«

Sie war immer noch fest davon überzeugt, daß dieses Abschiednehmen nur eine Finte von ihm war, bloß die Einleitung zu neuem, endlosem Gerede. Aber zu ihrer grenzenlosen Überraschung sagte er wirklich nichts mehr, sondern fing an, die Treppe hinabzusteigen.

Eine, zwei Minuten saß sie noch wie betäubt auf der Stufe, sie konnte noch nicht an ihren Sieg glauben. Dann sprang sie auf und lauschte ins Treppenhaus. Sie hörte deutlich seinen Schritt auf der untersten Treppe, er hatte sich nicht versteckt, er ging wirklich! Nun klappte die Haustür. Mit zitternder Hand schloß sie die Tür auf; sie war so erregt, daß sie zuerst das Schlüsselloch nicht finden konnte. Als sie drinnen war, legte sie die Kette vor und sank auf einen Küchenstuhl. Die Glieder hingen ihr runter, dieser Kampf eben hatte die letzte Kraft aus ihr gepumpt. Sie hatte keinen Mumm mehr in den Knochen, jetzt hätte sie einer nur mit einem Finger anstoßen müssen, sie wäre glatt vom Küchenstuhl gerutscht.

Aber allmählich, wie sie dort hockte, kehrten Kraft und Leben in sie zurück. So hatte sie es denn auch einmal geschafft, ihr Wille hatte seine sture Hartnäckigkeit bezwungen. Sie hatte ihr Heim für sich behalten, für sich ganz allein. Er würde da nicht wieder rumsitzen, endlos von seinen Pferden reden und ihr jede Mark und jeden Kanten Brot stehlen, den er nur erwischen konnte.

Sie sprang auf, von neuem Lebensmut erfüllt. Dieses Stückchen Leben war ihr verblieben. Nach dem endlosen Dienst auf der Post brauchte sie diese paar Stunden hier für sich allein. Der Bestellgang fiel ihr schwer, sehr schwer, immer schwerer. Sie hatte schon früher mit dem Unterleib zu tun gehabt, nicht umsonst lagen die drei Jüngsten auf dem Friedhof: alles Frühgeburten. Die Beine wollten auch nicht mehr so. Sie war eben keine Frau für das Erwerbsleben, sie war eine richtige Hausfrau. Aber sie hatte verdienen müssen, als der Mann plötzlich aufgehört hatte zu arbeiten. Damals waren die beiden Jungen noch klein gewesen. Sie hatte sie hochgebracht, sie hatte sich dieses Heim geschaffen: Wohnküche und Kammer. Und dabei hatte sie noch den Mann mit durchgeschleppt, wenn er nicht gerade bei einer seiner Geliebten untergekrochen war.

Selbstverständlich hätte sie sich längst von ihm scheiden lassen können, er machte ja gar kein Hehl aus seinen Ehebrüchen. Aber eine Scheidung hätte nichts geändert, ob geschieden oder nicht, Enno hätte sich weiter an sie geklammert. Dem war alles egal, der hatte keinen Funken Ehre im Leibe.

Daß sie ihn ganz aus der Wohnung gesetzt hatte, das war erst geschehen, als die beiden Jungen in den Krieg gezogen waren. Bis dahin hatte sie immer noch geglaubt, wenigstens den Schein eines Familienlebens aufrechterhalten zu müssen, trotzdem die großen Bengels genau Bescheid wußten. Sie hatte überhaupt eine Scheu, von diesem Zerwürfnis andere etwas merken zu lassen. Wurde sie nach ihrem Manne gefragt, so antwortete sie immer, er sei auf Montage. Sie ging sogar jetzt noch manchmal zu Ennos Eltern, brachte ihnen was zu essen oder ein paar Mark, gewissermaßen als Entschädigung für das Geld, das der Sohn sich dann und wann von der kümmerlichen Rente der Eltern erschlich.

Aber innerlich war sie ganz fertig mit dem Mann. Er hätte sich sogar ändern und wieder arbeiten und sein können wie in den ersten Jahren ihrer Ehe, sie hätte ihn nicht wieder aufgenommen. Sie haßte ihn nicht etwa, er war so ein reiner Garnichts, daß man nicht einmal Haß gegen ihn aufbringen konnte, er war ihr einfach widerlich, wie ihr Spinnen und Schlangen widerlich waren. Er sollte sie bloß in Ruhe lassen, nur nicht sehen wollte sie ihn, dann war sie schon zufrieden!

Während Eva Kluge so vor sich hin dachte, hatte sie ihr Essen auf die Gasflamme gesetzt und die Wohnküche aufgeräumt – die Kammer mit ihrem Bett machte sie schon immer am frühen Morgen zurecht. Während sie nun die Brühe schön brodeln hörte und ihr Duft sich durch die ganze Küche zu verbreiten anfing, machte sie sich an den Stopfkorb – mit den Strümpfen war es ein ewiges Elend, sie zerriß am Tage oft mehr, als sie stopfen konnte. Aber sie war der Arbeit darum nicht böse, sie liebte diese stille halbe Stunde vor dem Essen, wenn sie behaglich in weichen Filzschuhen auf dem Korbstuhl sitzen konnte, die schmerzenden Füße weit von sich gestreckt und ein wenig einwärts gedreht – so ruhten sie am besten aus.

Nach dem Essen wollte sie an ihren Liebling, den Ältesten, an Karlemann wollte sie schreiben, der in Polen war. Sie war ganz und gar nicht mit ihm einverstanden, besonders nicht, seit er in die SS eingetreten war. Man hörte in der letzten Zeit sehr viel Schlechtes von der SS, besonders gegen die Juden sollte sie so gemein sein. Aber das traute sie ihm doch nicht zu, daß ihr Junge, den sie einmal unter dem Herzen getragen hatte, Judenmädchen erst schändete und dann gleich hinterher erschoß. So was tat Karlemann nicht! Woher sollte er es auch haben? Sie hatte nie hart oder gar roh sein können, und der Vater war einfach ein Waschlappen. Aber sie würde doch versuchen, im Brief eine Andeutung zu machen, daß er anständig bleiben müsse. Natürlich mußte diese Andeutung ganz vorsichtig gemacht werden, daß nur Karlemann sie verstand. Sonst bekam er Schwierigkeiten, wenn der Brief dem Zensor in die Finger geriet. Nun, sie würde schon auf irgendwas kommen, vielleicht würde sie ihn an ein Kindheitserlebnis erinnern, wie er ihr damals zwei Mark gestohlen und Bonbons dafür gekauft hatte oder, besser noch, als er sich schon mit dreizehn an die Walli rangemacht hatte, die nichts war wie eine gemeine Nutte. Was das damals für Schwierigkeiten gemacht hatte, ihn von dem Weibe wieder loszukriegen – er war solch ein Wutkopf manchmal, der Karlemann!

Aber sie lächelt, als sie an diese Schwierigkeiten denkt. Alles kommt ihr heute schön vor, was mit der Kindheit der Jungens zusammenhängt. Damals hatte sie noch Kraft in sich, sie hätte ihre Bengels gegen die ganze Welt verteidigt und gearbeitet bei Tag und gearbeitet bei Nacht, bloß um ihnen nichts abgehen zu lassen, was andere Kinder mit einem anständigen Vater bekamen. Aber in den letzten Jahren ist sie immer kraftloser geworden, ganz besonders, seit die beiden in den Krieg ziehen mußten.

Nein, dieser Krieg hätte nicht kommen dürfen; war der Führer wirklich ein so großer Mann, hätte er ihn vermeiden müssen. Das bißchen Danzig und der schmale Korridor – und darum Millionen Menschen in tägliche Lebensgefahr gebracht – so was tat kein wirklich großer Mann!

Aber freilich, die Leute erzählten ja, daß er so was wie unehelich sei. Da hatte er wohl nie eine Mutter gehabt, die sich richtig um ihn kümmerte. Und so wußte er auch nichts davon, wie Müttern zumute sein kann in dieser ewigen, nie abreißenden Angst. Nach einem Feldpostbrief war es ein, zwei Tage besser, dann rechnete man, wie lange es her war, seit er abgeschickt worden war, und die Angst begann von neuem.

Sie hatte längst den Stopfstrumpf sinken lassen und nur so vor sich hin geträumt. Nun steht sie ganz mechanisch auf, rückt die Brühe von der besser brennenden Flamme auf die schwächere und setzt den Kartoffeltopf auf die bessere auf. Sie ist noch dabei, als bei ihr die Klingel geht. Sofort steht sie wie erstarrt. Enno! denkt es in ihr, Enno!

Sie setzt den Topf leise hin und schleicht auf ihren Filzsohlen lautlos zur Tür. Ihr Herz geht wieder leichter: vor der Tür, ein bißchen ab, so daß sie gut gesehen werden kann, steht ihre Nachbarin, Frau Gesch. Sicher will sie wieder was borgen, Mehl oder ein bißchen Fett, das sie stets wiederzubringen vergißt. Aber Eva Kluge bleibt trotzdem mißtrauisch. Sie sucht, soweit es das Guckloch in der Tür erlaubt, den ganzen Treppenflur ab und lauscht auf jedes Geräusch. Aber alles ist in Ordnung, nur die Gesch scharrt manchmal ungeduldig mit den Füßen oder sieht nach dem Guckloch hin.

Eva Kluge entschließt sich. Sie macht die Tür auf, aber nur so weit es die Kette zuläßt, und fragt: »Na, was soll's denn sein, Frau Gesch?«

Sofort überstürzt Frau Gesch, eine abgemergelte, halb zu Tode gearbeitete Frau, deren Töchter auf Kosten der Mutter einen guten Tag leben, sie mit einer Flut von Klagen über die endlose Wascherei, immer anderer Leute dreckige Wäsche waschen und nie satt zu essen, und die Emmi und die Lilli tun rein gar nichts. Nach dem Abendessen gehen sie einfach weg und lassen der Mutter den ganzen Abwasch. »Ja, und Frau Kluge, was ich Sie bitten wollte, ich habe da im Rücken was, ich glaube, 'nen Furunkel. Wir haben bloß einen Spiegel, und meine Augen sind so schlecht. Wenn Sie sich das mal ansehen wollten – ich kann doch wegen so was nicht zum Doktor, wann habe ich denn Zeit für 'nen Doktor? Aber vielleicht können Sie es sogar ausdrücken, wenn's Ihnen nicht eklig ist, manche sind in so was eklig ...«

Während Frau Gesch klagend immer so weiterredet, hat Eva Kluge ganz mechanisch die Kette losgemacht, und die Frau ist in die Wohnküche hineingekommen. Eva Kluge hat die Tür wieder zuziehen wollen, da hat sich ein Fuß dazwischengedrängt, und schon ist auch Enno Kluge in ihrer Wohnung. Sein Gesicht ist ausdruckslos wie immer; daß er doch etwas erregt ist, merkt sie nur daran, daß seine fast haarlosen Lider stark zittern.

Eva Kluge steht mit hängenden Armen da, ihre Knie beben so sehr, daß sie sich, am liebsten zu Boden sinken ließe. Der Redestrom von Frau Gesch ist ganz plötzlich versiegt, schweigend sieht sie in die beiden Gesichter. Es ist ganz still in der Küche, nur der Brühtopf brodelt leise.

Schließlich sagt Frau Gesch: »Na, nun habe ich Ihnen den Gefallen getan, Herr Kluge. Aber ich sage Ihnen: Einmal und nicht wieder. Und wenn Sie Ihr Versprechen nicht halten und fangen das wieder an mit der Nichtstuerei und dem Kneipenlaufen und dem Pferdewetten ...« Sie unterbricht sich, sie hat in das Gesicht von Frau Kluge gesehen, sie sagt: »Und wenn ich Mist gemacht habe, ich helfe Ihnen auf der Stelle, das Männeken rauszuschmeißen, Frau Kluge. Wir beide schaffen das doch wie nischt!«

Eva Kluge macht eine abwehrende Bewegung. »Ach, lassen Sie schon, Frau Gesch, es ist ja doch alles egal!«

Sie geht langsam und vorsichtig zum Korbstuhl und läßt sich in ihn sinken. Sie nimmt auch wieder den Stopfstrumpf zur Hand, aber sie starrt ihn an, als wüßte sie nicht, was das ist.

Frau Gesch sagt ein wenig gekränkt: »Na, denn guten Abend oder Heil Hitler – ganz wie den Herrschaften das lieber ist!«

Hastig sagt Enno Kluge: »Heil Hitler!«

Und langsam, als erwache sie aus einem Schlaf, antwortet Eva Kluge: »Gute Nacht, Frau Gesch.« Sie besinnt sich. »Und wenn wirklich was mit Ihrem Rücken ist«, setzt sie hinzu.

»Nee, nee«, antwortet Frau Gesch, schon vor der Tür, hastig. »Mit dem Rücken ist nichts, das habe ich nur so gesagt. Aber ich misch mich gewiß nicht wieder in die Sachen von andern Leuten. Ich seh's ja doch: ich habe davon nie Dank.«

Damit hat sie sich aus der Tür geredet; sie ist froh, von diesen beiden schweigenden Gestalten fortzukommen, ihr Gewissen zwickt sie ein wenig.

Kaum ist die Tür hinter ihr zu, kommt Bewegung in den kleinen Mann. Ganz selbstverständlich öffnet er den Schrank, macht dadurch einen Bügel frei, daß er zwei Kleider seiner Frau übereinanderhängt, und hängt dafür seinen Mantel auf den Bügel. Die Sportmütze legt er oben auf den Schrank. Er geht stets sehr sorgfältig mit seinen Sachen um, er haßt es, schlecht gekleidet zu sein, und er weiß, er kann sich nichts Neues kaufen.

Nun reibt er die Hände mit einem behaglichen »Soso!« aneinander, geht zum Gasherd und schnuppert in den Töpfen. »Fein!« sagt er. »Brühkartoffeln mit Rindfleisch – feinfein!«

Er macht eine Pause, die Frau sitzt bewegungslos, dreht ihm den Rücken. Er legt wieder leise den Deckel auf den Topf, stellt sich neben sie, so daß er auf sie hinunter redet: »Nun sitz bloß nicht so da, Eva, als wenn du so 'ne Marmorfigur wärst! Was ist denn schon los? Du hast für ein paar Tage wieder 'nen Mann in der Wohnung, ich werd dir schon keine Scherereien machen. Und was ich dir versprochen habe, das halte ich. Ich will auch nichts von den Brühkartoffeln – höchstens, wenn ein kleiner Rest bleibt. Und auch den nur, wenn du ihn mir freiwillig gibst – ich bitte dich nicht darum.«

Die Frau antwortet ihm mit keinem Wort. Sie stellt den Stopfkorb in den Schrank zurück, setzt sich einen tiefen Teller auf den Tisch, füllt sich aus den Töpfen auf und fängt langsam zu essen an. Der Mann hat sich an das andere Ende des Tisches gesetzt, ein paar Sportzeitungen aus der Tasche gezogen und macht sich Notizen in ein dickes, schmieriges Notizbuch. Dabei wirft er von Zeit zu Zeit einen raschen Blick auf die essende Frau. Sie ißt sehr langsam, aber sie hat sich schon zweimal nachgefüllt, viel wird bestimmt nicht überbleiben für ihn, und er hat Hunger wie ein Wolf. Den ganzen Tag, nein, seit dem Abend vorher hat er nichts gegessen. Der Mann von der Lotte, der auf Urlaub aus dem Felde kam, hat ihn ohne jede Rücksicht auf sein Frühstück mit Schlägen aus dem Bett gejagt.

Aber er wagt es nicht, Eva von seinem Hunger zu sprechen, er hat Angst vor der schweigenden Frau. Ehe er sich hier erst richtig wieder zu Hause fühlen kann, muß noch allerlei geschehen. Daß dieser Moment kommen wird, daran zweifelt er nicht einen Augenblick: man kriegt jede Frau rum, nur beharrlich muß man sein und sich viel gefallen lassen. Schließlich, ganz plötzlich meist, geben sie nach, einfach weil ihnen das Wehren über ist.

Eva Kluge kratzt die Reste aus den Töpfen. Sie hat es geschafft, sie hat das Essen für zwei Tage an einem Abend geschafft, aber nun kann er sie doch nicht um die Reste anbetteln! Dann erledigt sie rasch das bißchen Abwasch und fängt eine große Umräumerei an. Direkt vor seinen Augen bringt sie alles, was ihr ein bißchen wert ist, in die Kammer. Die Kammer hat ein festes Schloß, in die Kammer ist er noch nie reingekommen. Sie schleppt die Eßvorräte, ihre guten Kleider und Mäntel, das Schuhwerk, die Kissen vom Kanapee, ja sogar das Bild mit den beiden Jungen in die Kammer – alles vor seinen Augen. Es ist ihr ganz egal, was er denkt oder sagt. In die Wohnung ist er mit List gekommen, aber viel soll er davon nicht haben.

Dann schließt sie die Kammertür ab und holt sich das Schreibzeug an den Tisch. Sie ist todmüde, sie läge am liebsten im Bett, aber sie hat sich nun einmal vorgenommen, heute abend an den Karlemann zu schreiben, so tut sie's. Sie kann nicht nur hart gegen ihren Mann, sie kann auch hart gegen sich sein.

Sie hat erst ein paar Sätze geschrieben, da beugt sich der Mann über den Tisch und fragt: »An wen schreibste denn, Evchen?«

Unwillkürlich antwortet sie ihm, trotzdem sie sich fest vorgenommen hat, nicht mehr mit ihm zu sprechen. »An Karlemann ...«

»So«, sagt er und legt die Zeitungen aus der Hand. »So, also an den schreibste und schickst ihm womöglich auch noch Päckchen, aber für seinen Vater haste nicht mal 'ne Kartoffel und 'n Happen Fleisch übrig, hungrig wie der ist!«

Seine Stimme hat etwas von ihrem gleichgültigen Klang verloren, sie klingt, als sei der Mann jetzt ernstlich beleidigt und in seinem Recht gekränkt, weil sie dem Sohne etwas gibt, das sie dem Vater vorenthält.

»Laß man, Enno«, sagt sie ruhig. »Das ist meine Sache, der Karlemann ist ein ganz guter Junge ...«

»So!« sagt er. »So! Und das hast du natürlich ganz vergessen, wie er zu seinen Eltern war, als sie ihn erst zum Scharführer gemacht hatten? Wie du ihm nichts mehr recht machen konntest und er uns als alte, dumme Bürger ausgelacht hat – alles vergessen, was, Evchen? Ein guter Junge, wahrhaftig, der Karlemann!«

»Mich hat er nie ausgelacht!« verteidigt sie ihn mit schwacher Stimme.

»Nee, natürlich nicht!« spottet er. »Und das hast du natürlich auch vergessen, daß er seine eigene Mutter nicht gekannt hat, wenn sie mit der schweren Posttasche die Prenzlauer Allee lang kam? Wie er da mit seinem Mädchen weggeguckt hat, der feine Knochen, der!«

»So was kann man 'nem jungen Menschen nicht übelnehmen«, sagt sie. »Die wollen alle möglichst fein vor ihren Damen dastehen, so sind sie alle. Das gibt sich später wieder, der kommt zurück zu seiner Mutter, die ihn an der Brust gehabt hat.«

Einen Augenblick sieht er sie zögernd an, ob er auch das noch sagen soll. Er ist sonst wirklich nicht nachtragend, aber diesmal hat sie ihn zu sehr gekränkt, erst, weil sie ihm kein Essen gab, dann, als sie vor seinen Augen offensichtlich alle guten Sachen in die Kammer trug. So sagt er denn: »Ich, wenn ich 'ne Mutter wäre, ich möchte so 'nen Sohn nie wieder in meine Arme nehmen, solch Schwein, wie der geworden ist!« Er sieht in ihre von der Angst vergrößerten Augen, er sagt es ihr erbarmungslos in das wächserne Gesicht hinein. »Auf dem letzten Urlaub, da hat er mir ein Foto von sich gezeigt, das hat ein Kamerad von ihm aufgenommen. Noch geprahlt hat er mit dem Bild. Da ist dein Karlemann drauf zu sehen, wie er so 'n Judenkind von vielleicht drei Jahren beim Bein hält, und mit dem Kopf haut er's gegen die Stoßstange vom Auto ...«

»Nein! Nein!« schreit sie. »Das hast du gelogen! Das hast du dir aus Rache ausgedacht, weil ich dir kein Essen gegeben habe! So was tut Karlemann nicht!«

»Wie kann ich mir das denn ausgedacht haben?« fragt der, schon wieder ruhiger, nachdem er ihr diesen Stoß versetzt hat. »Mir so was auszudenken, habe ich gar nicht den Kopf! Und übrigens, wenn du mir nicht glaubst, dann kannst du ja in die Destille von Senftenberg gehen, da hat er das Foto allen gezeigt. Der dicke Senftenberg und dem seine Olle, die haben es auch gesehen ...«

Er hört auf zu reden. Es ist sinnlos, jetzt mit dieser Frau weiterzureden. Sie sitzt da, den Kopf auf dem Tisch, und heult. Das hat sie davon, und übrigens ist sie als Postangestellte doch auch in der Partei und hat einmal auf den Führer und alles, was er tat, geschworen. Da kann sie sich doch nicht wundern, daß der Karlemann so geworden ist.

Einen Augenblick steht Enno Kluge und sieht zweifelnd nach dem Kanapee hinüber – keine Decke und keine Kissen! Das kann 'ne schöne Nacht werden! Aber vielleicht ist das grade jetzt der richtige Augenblick, was zu riskieren? Er steht zweifelnd, sieht nach der verschlossenen Kammertür hin, dann entschließt er sich. Er greift einfach in die Schürzentasche der hemmungslos weinenden Frau und holt den Schlüssel raus. Er schließt die Tür auf und fängt an, in der Kammer rumzusuchen, und das nicht einmal leise ...

Eva Kluge, die abgehetzte, übermüdete Briefbestellerin, hört das alles auch; sie weiß, daß er sie jetzt bestiehlt, aber es ist ihr gleich. Ihre Welt ist doch kaputt, ihre Welt kann nie wieder heil werden. Wozu hat man denn gelebt auf dieser Welt, wozu hat man Kindern das Leben geschenkt, sich an ihrem Lächeln, ihren Spielen erfreut, wenn dann Tiere aus ihnen werden? Ach, der Karlemann – er war solch ein süßer, blonder Junge! Wie sie damals mit ihm im Zirkus Busch war, und die Pferde mußten sich der Länge nach hinlegen im Sand, wie er da Mitleid mit den armen Hottos hatte – ob sie krank seien? Sie mußte ihn beruhigen, die Hottos schliefen nur.

Und nun ging er hin und tat den Kindern anderer Mütter dies an! Nicht einen Augenblick zweifelte Frau Eva Kluge daran, daß das mit dem Bild stimmte, Enno war wirklich nicht fähig, sich so was auszudenken. Nein, sie hatte nun auch den Sohn verloren. Es war viel schlimmer, als wenn er gestorben wäre, dann hätte sie wenigstens über ihn trauern können. Jetzt konnte sie ihn nie mehr in die Arme nehmen, auch vor ihm mußte sie ihr Heim verschlossen halten.

Der suchende Mann in der Kammer hat unterdes das gefunden, was er längst im Besitz seiner Frau vermutete: ein Postsparkassenbuch. 632 Mark drauf, 'ne tüchtige Frau, aber wozu so tüchtig? Sie kriegt doch mal eines Tages ihre Rente, und was sie sonst gespart hat ... Er wird morgen erst mal jedenfalls 20 Mark auf Adebar setzen und vielleicht 10 auf Hamilkar ... Er blättert weiter in dem Buch: nicht nur 'ne tüchtige Frau, auch 'ne ordentliche. Alles liegt beisammen: hinten im Buch ist die Kontrollmarke, und die Auszahlungszettel fehlen auch nicht ...

Er will das Buch gerade in die Tasche stecken, da ist die Frau bei ihm. Sie nimmt ihm das Buch einfach aus der Hand und legt es aufs Bett. »Raus!« sagt sie nur. »Raus!«

Und er, der eben noch den Sieg fest in seinen Händen glaubte, geht vor ihren bösen Augen aus der Kammer. Mit zitternden Händen, ohne auch nur ein Wort zu wagen, holte er Mantel und Mütze aus dem Schrank, ohne ein Wort ging er durch die geöffnete Tür an ihr vorbei ins dunkle Treppenhaus. Die Tür wurde ins Schloß gezogen, er knipste die Treppenbeleuchtung an und stieg die Stufen hinab. Gottlob hatte jemand die Haustür offengelassen. Er wird in seine Stammkneipe gehen; zur Not, wenn er niemanden findet, läßt ihn der Budiker auf dem Sofa dort schlafen. Er marschiert los, in sein Schicksal ergeben, gewohnt, Schläge einzustecken. Die Frau oben hat er schon wieder halb vergessen.

Sie aber steht am Fenster und starrt in das abendliche Dunkel hinaus. Schön. Schlimm. Auch Karlemann ist verloren. Sie wird es noch mit Max versuchen, dem jüngeren Sohn. Max war immer farbloser, mehr der Vater als sein glänzender Bruder. Vielleicht kann sie sich in Max einen Sohn gewinnen. Und wenn nicht, nun gut, dann wird sie für sich allein leben. Aber sie wird anständig bleiben. Dann hat sie eben das im Leben erreicht, daß sie anständig geblieben ist. Gleich morgen wird sie horchen, wie man es anfängt, aus der Partei herauszukommen, ohne daß die sie ins KZ stecken. Es wird schwerhalten, aber vielleicht schafft sie es. Und wenn es eben gar nicht anders sein kann, geht sie ins KZ. Das ist dann gewissermaßen ein klein bißchen Sühne für das, was Karlemann getan hat.

Sie zerknüllt den angefangenen, verweinten Brief an den Älteren. Sie legt ein neues Briefblatt hin und beginnt zu schreiben:

Lieber Sohn Max! Ich will Dir mal wieder ein Brieflein schreiben. Mir geht es noch gut, was ich auch von Dir hoffe. Vater war eben hier, aber ich habe ihm die Tür gewiesen, er wollte doch nur von mir ziehen. Auch von Deinem Bruder Karl habe ich mich losgesagt, wegen der Scheußlichkeiten, die er begangen hat. Jetzt bist Du mein einziger Sohn. Ich bitte Dich, bleibe immer anständig. Ich will auch alles tun, was ich für Dich kann. Schreibe mir bald auch einmal ein Brieflein. Es grüßt und küßt Dich

Deine Mutter.


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