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21.
Ein halbes Jahr danach: Kommissar Escherich

Ein halbes Jahr nach Empfang der ersten Karte stand der Kommissar Escherich, seinen sandfarbenen Schnurrbart streichend, vor der Karte Berlins, auf der er mit roten Fähnchen die Fundpunkte von Quangels Karten markiert hatte. Es steckten jetzt vierundvierzig solcher Fähnchen auf dem Blatt; von den achtundvierzig Karten, die Quangels in diesem halben Jahr geschrieben und ausgetragen hatten, waren nur vier bei der Gestapo nicht gelandet.

Und auch diese vier waren wohl kaum in den Betrieben von Hand zu Hand gegangen, wie es sich die Quangels erhofft, sondern sie waren, kaum gelesen, schon angstvoll zerrissen, weggespült oder verbrannt worden.

Die Tür geht, und Escherichs Vorgesetzter, der SS-Obergruppenführer Prall, kommt herein: »Heil Hitler, Escherich! Nun, warum beißen Sie so auf Ihrem Bart herum?«

»Heil Hitler, Herr Obergruppenführer! Das ist der Kartenschreiber, der Klabautermann, wie ich ihn bei mir nenne.«

»Nanu? Warum denn Klabautermann?«

»Weiß nicht. Fiel mir so ein. Vielleicht, weil er die Leute graulich machen will.«

»Und wie weit sind wir damit, Escherich?«

»Tja!« sagte der Kommissar gedehnt. Er sah wieder nachdenklich auf die Karte. »Nach der Verbreitung zu schließen, muß er irgendwo nördlich vom Alexanderplatz sitzen, da sind die meisten Vorkommen. Aber auch Osten und Zentrum sind ganz gut bepflastert. Der Süden gar nicht, im Westen, etwas südlich vom Nollendorfplatz, sind zwei Vorkommen – da muß er irgendwie gelegentlich zu tun haben.«

»Gut deutsch: Aus der Karte läßt sich noch gar nichts sagen! Damit kommen wir nicht einen Schritt weiter!«

»Abwarten! Ein halbes Jahr später, wenn mein Klabautermann bis dahin keinen andern Schwupper macht, wird die Karte schon viel mehr Aufschluß geben.«

»Halbes Jahr! Sie sind ja prächtig, Escherich! Ein halbes Jahr wollen Sie dieses Schwein noch wühlen und grunzen lassen und nichts tun, als in aller Gemütsruhe Ihre Fähnchen einpieken?«

»Bei unserer Arbeit muß man Geduld haben, Herr Obergruppenführer. Das ist, wie wenn Sie auf dem Anstand sitzen und auf den Bock warten. Sie müssen eben warten. Ehe er kommt, können Sie nicht schießen. Aber wenn er kommt, da schieß ich, verlassen Sie sich darauf!«

»Ich hör immerzu Geduld, Escherich! Glauben Sie denn, die Herren über uns haben soviel Geduld? Ich fürchte, wir kriegen bald einen reingehängt, an dem wir lange kauen werden. Bedenken Sie, in einem halben Jahr vierundvierzig Karten, das sind in jeder Woche fast zwei Karten, die bei uns eintrudeln, das sehen doch die Herren. Da fragen sie mich: Na, und? Noch nicht gefaßt? Warum noch nicht gefaßt? Was tut ihr eigentlich? Fähnchen pieken und Daumen drehen, antworte ich. Und dann kriege ich meinen reingewürgt und den Befehl, den Mann in zwei Wochen zu fassen.«

Kommissar Escherich grinste unter seinem sandfarbenen Bart. »Und dann würgen Sie mir einen rein, Herr Obergruppenführer, und geben mir den dienstlichen Befehl, den Mann in einer Woche zu fassen!«

»Grinsen Sie nicht so albern, Escherich! Über so einen Fall, wenn der zum Beispiel dem Himmler zu Ohren kommt, kann man sich die schönste Karriere verpfuschen, und vielleicht denken wir beide im KZ Sachsenhausen eines Tages noch trübselig darüber nach, wie schön doch die Zeiten waren, als wir noch rote Fähnchen einpieken durften.«

»Keine Bange, Herr Obergruppenführer! Ich bin ein alter Kriminalist und weiß, keiner kann was Besseres machen als wir tun: warten. Die sollen uns doch einen besseren Weg vorschlagen, die Klugscheißer, wie man an meinen Klabautermann rankommt. Aber natürlich wissen die auch keinen.«

»Escherich, bedenken Sie, wenn vierundvierzig bei uns eingetrudelt sind, so heißt es, daß mindestens ebensoviel, vielleicht aber über hundert Karten heute in Berlin umlaufen, Unzufriedenheit säen, Sabotage stiften. Das kann man doch nicht ruhig mit ansehen!«

»Hundert Karten im Umlauf!« lachte Escherich. »Haben Sie eine Ahnung vom deutschen Volk, Herr Obergruppenführer! Bitte tausendmal um Entschuldigung, Herr Obergruppenführer, so wollte ich es wirklich nicht sagen, es ist mir nur so rausgerutscht! Natürlich haben Herr Obergruppenführer viel Ahnung vom deutschen Volk, mehr als ich wahrscheinlich, aber die Leute haben jetzt doch solche Angst! Die liefern ab – mehr als zehn Karten sind bestimmt nicht im Umlauf!«

Nach einem zornigen Blick wegen des beleidigenden Ausrufes von Escherich (diese Leute, die von der Kripo kamen, waren ein bißchen reichlich dumm und taten viel zu kollegial!) und einem rügenden Vorschnellen des Armes sagte jetzt der Obergruppenführer: »Aber zehn sind auch noch zuviel! Eine ist noch zuviel! Gar keine darf mehr umlaufen! Sie müssen den Mann fassen, Escherich – und schnell!«

Der Kommissar stand stumm da. Er hob den Blick nicht von den glänzenden Stiefelspitzen des Obergruppenführers, er strich gedankenvoll den Schnurrbart und schwieg hartnäckig.

»Ja, da stehen Sie und schweigen!« rief Prall ärgerlich. »Und ich weiß auch, was Sie denken. Sie denken nämlich grade, daß ich auch so ein Klugscheißer bin, der wohl Rüffel austeilen kann, aber nichts Besseres vorzuschlagen weiß.«

Rot werden konnte der Kommissar Escherich schon lange nicht mehr. Aber er war in diesem Augenblick, da er genau über seinen heimlichen Gedanken erwischt worden war, dem Erröten so nahe wie nur möglich. Und verlegen war er auch, was ihm seit endlosen Zeiten nicht mehr passiert war.

Obergruppenführer Prall merkte das alles wohl. Heiter sagte er: »Nun, ich will Sie gewiß nicht in Verlegenheit bringen, Escherich, ich gewiß nicht! Und ich will Ihnen auch keine guten Ratschläge geben. Sie wissen, ich bin kein Kriminalist, ich bin in diesen Laden nur kommandiert worden. Aber unterrichten Sie mich mal ein bißchen. Ich werde in den nächsten Tagen bestimmt über diesen Fall berichten müssen, da wüßte ich gerne genau Bescheid. Der Mann ist nie beim Ablegen der Karten beobachtet worden?«

»Nie.«

»Und kein Verdacht geäußert in den Häusern, wo die Karten aufgefunden wurden?«

»Verdacht? Verdacht über Verdacht! Verdacht gibt's heute überall. Aber es steckt nirgends mehr dahinter als ein bißchen Wut auf den Nachbarn, Spitzeltum, Denunziantenfieber. Nein, daher kommt keine Spur!«

»Und die Auffinder selbst? Alle unverdächtig?«

»Unverdächtig?« Escherich verzog den Mund. »Ach Gott, Herr Obergruppenführer, unverdächtig ist heutzutage keiner.« Und nach einem raschen Blick auf das Gesicht seines Vorgesetzten: »Oder alle. Aber wir haben hier sämtliche Finder gesiebt und noch mal gesiebt. Mit dem Schreiber der Karten hat keiner was zu tun.«

Der Obergruppenführer seufzte. »Sie hätten Pfarrer werden sollen. Sie können so wunderbar trösten, Escherich!« sagte er. »Bleiben also noch die Karten. Und wie steht es da mit den Anhaltspunkten?«

»Dürftig. Sehr dürftig!« sagte Escherich. »Nee, lieber nicht Pfarrer, aber die Wahrheit für Sie, Herr Obergruppenführer! Nach dem ersten Schwupper, den er gemacht hat mit dem einzigen Sohn, habe ich gedacht, er würde sich mir selbst ans Messer liefern. Aber der ist schlau.«

»Sagen Sie mal, Escherich«, rief Prall plötzlich, »haben Sie je daran gedacht, daß es auch eine Frau sein könnte? Mir fiel das eben so ein, als Sie vom einzigen Sohn sprachen.«

Der Kommissar sah einen Augenblick seinen Vorgesetzten überrascht an. Er dachte nach. Dann sagte er, bekümmert den Kopf schüttelnd: »Damit ist's auch nichts, Herr Obergruppenführer. Das ist vielmehr grade einer der Punkte, die ich für absolut sicher ansehe. Mein Klabautermann ist ein Witwer oder jedenfalls ein Mann, der ganz für sich allein lebt. Wäre ein Weib in der Sache, das hätte längst inzwischen ein bißchen Geschwätz gegeben. Bedenken Sie: ein halbes Jahr, so lange hält keine Frau dicht!«

»Aber eine Mutter, die den einzigen Sohn verloren hat?«

»Auch nicht. Grade die nicht!« entschied Escherich. »Wer Kummer hat, will getröstet werden, und um Trost zu bekommen, muß man reden. Nein, bestimmt ist keine Frau in der Sache. Von der weiß nur einer, und der kann schweigen.«

»Wie gesagt: Pfarrer! Und was sonst für Anhaltspunkte?«

»Dürftig, Herr Obergruppenführer, sehr dürftig. Ziemlich sicher ist der Mann geizig oder hat irgendwann mal Krach mit dem Winterhilfswerk gehabt. Denn auf den Karten mag stehen, was da will, noch nicht einmal hat er die Mahnung vergessen: Gebt nichts für das WHW!«

»Na, wenn wir nach einem in Berlin suchen sollen, der nicht gerne fürs WHW spendet, Escherich ...«

»Sage ich auch, Herr Obergruppenführer. Zu wenig. Zu dürftig.«

»Und sonst?«

Der Kommissar zuckte die Achseln. »Wenig, nichts«, sagte er. »Wir können vielleicht noch mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß der Kartenableger keinen festen Beruf hat, denn die Karten sind zu allen Tageszeiten aufgefunden worden, zwischen morgens acht und abends neun Uhr. Und bei der Belebtheit der Treppenhäuser, die mein Klabautermann benutzt, ist wohl anzunehmen, daß jede Karte ziemlich rasch nach ihrem Ablegen gefunden ist. Sonst? Ein Handarbeiter, der wenig geschrieben hat in seinem Leben, aber mit nicht schlechter Schulbildung, macht kaum je einen Schreibfehler, drückt sich nicht ungewandt aus ...«

Escherich schwieg, beide schwiegen sie ziemlich lange, wobei sie gedankenlos auf die Karte mit den roten Fähnchen starrten.

Dann sagte der Obergruppenführer Prall: »Eine harte Nuß, Escherich. Hart für uns beide.«

Der Kommissar meinte tröstend: »Es gibt keine Nuß, die so hart ist – ein Nußknacker schafft sie doch!«

»Mancher klemmt sich auch die Finger dabei, Escherich!«

»Nur Geduld, Herr Obergruppenführer, bloß ein bißchen Geduld!«

»Wenn die andern oben sie bloß haben, an mir liegt's nicht, Escherich. Na, martern Sie Ihr Köpfchen mal ein bißchen, Escherich, vielleicht fällt Ihnen doch noch was Besseres ein als diese blöde Warterei. Heil Hitler, Escherich!«

»Heil Hitler, Herr Obergruppenführer!«

Allein geblieben, stand der Kommissar Escherich noch eine Weile vor der Karte, gedankenvoll den hellen Schnurrbart streichelnd. Es war ja nicht ganz so, wie er seinen Vorgesetzten hatte glauben machen wollen. In diesem Falle war er nicht nur der abgebrühte Kriminalist, den nichts mehr aufregen kann. Sondern er hatte Interesse gefunden an diesem stummen, ihm leider noch gänzlich unbekannten Kartenschreiber, der sich da schonungslos und doch so vorsichtig, so klug berechnend in einen fast aussichtslosen Kampf gestürzt hatte. Dieser Fall Klabautermann war zuerst nur einer von vielen gewesen. Dann hatte er ihn warm gemacht. Er mußte diesen Mann finden, der da mit ihm unter den zehntausend Dächern von Berlin saß, er mußte ihn von Angesicht zu Angesicht sehen, ihn, der dem Kommissar allwöchentlich mit der Regelmäßigkeit einer Maschine zwei, drei Postkarten am Montagabend, spätestens am Dienstagvormittag auf den Schreibtisch sandte.

Escherich war längst weit entfernt von jener Geduld, die er dem Obergruppenführer eben noch so sehr empfohlen hatte. Escherich jagte – dieser alte Kriminalist war ein echter Jäger. Das steckte ihm im Blut. Er hetzte Menschen, wie andere Jäger Schweine hetzten. Daß die Schweine und die Menschen am Schluß der Jagd sterben mußten, das rührte ihn nicht. Es war dem Schwein bestimmt, auf diese Art zu sterben, wie es auch den Menschen, die solche Karten schrieben, bestimmt war. Er hatte sich längst den Kopf zermartert, wie er schneller an den Klabautermann herankommen könnte – so was brauchte ihm der Obergruppenführer Prall nicht erst zu empfehlen. Aber er fand keinen Weg, denn es gab hier nur Geduld. Man konnte nicht wegen einer solch unbedeutenden Sache den ganzen Polizeiapparat in Bewegung setzen, jede Wohnung in Berlin durchsuchen lassen – ganz abgesehen davon, daß er nicht solche Beunruhigung in die Stadt tragen durfte. Er mußte immer weiter Geduld haben ...

Und wenn man genug Geduld gehabt hatte, da geschah es dann plötzlich: fast immer geschah etwas. Der Verbrecher beging einen Fehler, oder der Zufall spielte ihm einen Streich. Auf eines von diesen beiden mußte man warten, auf den Zufall oder auf den Fehler. Eines geschah immer oder fast immer. Escherich hoffte, daß es in diesem Falle kein »fast immer« geben würde. Er war interessiert, oh, er war stark interessiert. Im Grunde war es ihm ganz egal, ob er hier einem Verbrecher das Handwerk legte oder nicht. Escherich, es ist schon gesagt worden, Escherich jagte. Nicht um des Bratens willen, sondern weil das Jagen eine Lust ist. Er wußte, im gleichen Augenblick, wo das Wild zur Strecke gebracht, der Verbrecher gefangen und ihm seine Verbrechen hinreichend bewiesen waren – in dem gleichen Moment würde Escherichs Interesse an diesem Fall aufhören. Das Wild war erlegt, der Mann saß in Untersuchungshaft – die Jagd war zu Ende. Auf ein Neues!

Escherich hat den farblosen Blick von der Karte gewendet. Er sitzt jetzt an seinem Schreibtisch und ißt langsam und gedankenvoll seine Frühstücksstullen. Als das Telefon klingelt, greift er nur zögernd danach. Noch ganz gleichgültig hört er die Meldung: »Hier Polizeirevier Frankfurter Allee. Kommissar Escherich?«

»Am Apparat.«

»Sie bearbeiten den Fall: Karte Unbekannt?«

»Ja. Was gibt's? Schnell ein bißchen!«

»Wir haben mit ziemlicher Sicherheit den Kartenverteiler gefaßt.«

»Bei der Verteilung?«

»Nahezu. Er leugnet natürlich.«

»Wo haben Sie ihn?«

»Noch bei uns auf dem Revier.«

»Behalten Sie ihn dort, ich bin mit meinem Wagen in zehn Minuten bei Ihnen. Und: nicht weiter vernehmen! Den Mann in Ruhe lassen! Ich will mit ihm selber sprechen. Verstanden?«

»Zu Befehl, Herr Kommissar!«

»Ich komme dann!«

Einen Augenblick stand Kommissar Escherich fast reglos über dem Telefon. Der Zufall – der gnädige, gute Zufall! Er hatte es ja gewußt, nur Geduld mußte man haben!

Er ging rasch zur ersten Vernehmung des Kartenverteilers.


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