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Pastor Friedrich Lorenz, der unermüdlich im Gefängnis seinen Dienst verrichtete, war ein Mann in den besten Jahren, das heißt um die Vierzig herum, sehr lang, schmalbrüstig, ewig hüstelnd, ein von der Tuberkulose Gezeichneter, der seine Krankheit ignorierte, weil die Arbeit ihm für die Pflege und Heilung seines Körpers keine Zeit ließ. Sein blasses Gesicht mit dunklen Augen hinter Brillengläsern und der schmalrückigen, feinen Nase hatte einen Backenbart, aber die Mundpartie war stets tadellos rasiert und zeigte einen schmallippigen, blassen, großen Mund und ein festes rundes Kinn.
Dies war der Mann, auf den Hunderte von Gefangenen jeden Tag warteten, der einzige Freund, den sie in diesem Hause wußten, der noch eine Brücke zur Außenwelt war, dem sie ihre Sorgen und Nöte vortrugen und der half, soviel in seiner Macht stand, jedenfalls bei weitem mehr, als ihm gestattet war. Unermüdlich ging er von Zelle zu Zelle, nie abgestumpft gegen das Leiden der andern, stets sein eigenes Leid vergessend, völlig furchtlos, was die eigene Person anging. Ein wahrer Seelsorger, der nie nach dem Bekenntnis, nach dem Glauben der Hilfesuchenden fragte, der mit ihnen betete, wenn es erbeten wurde, und der sonst nur der Bruder Mensch war.
Der Pastor Friedrich Lorenz steht vor dem Pult des Gefängnisdirektors, Schweißtropfen perlen auf seiner Stirn, zwei rote Flecke zeichnen sich auf seinen Backen ab, aber er sagt ganz ruhig: »Das ist der siebente durch Vernachlässigung hervorgerufene Todesfall in den letzten zwei Wochen.«
»Auf dem Totenschein steht Lungenentzündung«, widerspricht der Direktor, sieht aber dabei von seiner Schreiberei nicht auf.
»Der Arzt tut seine Pflicht nicht«, sagt der Pastor hartnäckig und klopft dabei sanft mit dem Knöchel auf den Schreibtisch, als begehre er Einlaß bei dem Direktor. »Es tut mir leid, sagen zu müssen, der Arzt trinkt zuviel. Seine Patienten vernachlässigt er.«
»Oh, der Doktor ist schon ganz in Ordnung«, antwortet der Direktor flüchtig und schreibt weiter. Er gewährt dem Pastor keinen Einlaß. »Ich wollte, Sie wären ebenso in Ordnung, Herr Pastor. Wie ist es, haben Sie Nummer 397 einen Kassiber zugesteckt oder nicht?«
Jetzt endlich begegnen sich die beiden Blicke, der des rotgesichtigen Direktors mit seinem Gesicht voller Schmisse und der Blick des von seinem Fieber verbrannten Geistlichen.
»Es ist der siebente Todesfall in zwei Wochen«, sagt Pastor Lorenz beharrlich. »Das Gefängnis braucht einen neuen Arzt.«
»Ich fragte Sie eben etwas, Herr Pastor. Würden Sie mir gütigst antworten?«
»Jawohl, ich habe Nummer 397 einen Brief übergeben, aber keinen Kassiber. Es war ein Brief seiner Frau, der ihm meldet, daß der dritte Sohn dieses Mannes nun doch nicht gefallen, sondern in Kriegsgefangenschaft geraten ist. Zwei Söhne hat er schon verloren, den dritten glaubte er auch tot.«
»Sie finden stets einen Grund, die Gefängnisordnung zu übertreten, Herr Pastor. Aber ich sehe mir dieses Spiel nicht lange mehr an.«
»Ich bitte um Ablösung des Arztes«, wiederholt der Pastor und klopft wieder leise auf den Schreibtisch.
»Ach was!« schreit der rotgesichtige Direktor plötzlich los. »Belästigen Sie mich nicht mehr mit Ihrem blöden Geschwätz! Der Doktor ist gut, er bleibt! Und Sie, sehen Sie zu, daß Sie die Gefängnisordnung befolgen, sonst passiert Ihnen noch was!«
»Was kann mir passieren?« fragt der Pastor. »Ich kann sterben. Und ich werde sterben. Sehr bald. Ich bitte nochmals um die Ablösung des Arztes.«
»Sie sind ein Narr, Pastor«, sagt der Direktor kalt. »Ich nehme an, Ihre Schwindsucht hat Sie ein bißchen verrückt gemacht. Wenn Sie nicht so ein harmloser Trottel wären – eben ein Narr! –, wären Sie längst gehängt. Aber ich habe Mitleid mit Ihnen.«
»Wenden Sie Ihr Mitleid lieber Ihren Gefangenen zu«, antwortet der Pastor ebenso kalt. »Und sorgen Sie für einen pflichtbewußten Arzt.«
»Sie machen die Tür jetzt am besten von außen zu, Herr Pastor.«
»Ich habe Ihr Versprechen, daß Sie für einen andern Arzt sorgen?«
»Nein, nein, zum Donnerwetter, nein! Scheren Sie sich zum Henker!«
Jetzt war der Direktor doch in Wut geraten, er war aufgesprungen hinter seinem Schreibtisch und hatte zwei Schritte auf den Pastor zu gemacht. »Soll ich Sie mit Gewalt rausschmeißen, wollen Sie das?«
»Es würde nicht gut auf die Gefangenen draußen in der Schreibstube wirken. Es würde das bißchen Ansehen, das die Staatsautorität noch bei ihnen genießt, noch mehr erschüttern. Aber immerhin, wie Sie wollen, Herr Direktor!«
»Narr!« sagte der Direktor, war aber durch den Hinweis des Pastors so weit ernüchtert, daß er sich wieder auf seinen Stuhl setzte. »Gehen Sie jetzt. Ich habe zu arbeiten.«
»Die dringendste Arbeit ist die Bestellung eines neuen Arztes.«
»Glauben Sie, durch Ihre Hartnäckigkeit etwas zu erreichen? Gerade das Gegenteil erreichen Sie! Der Doktor bleibt nun erst recht!«
»Ich erinnere mich«, sagte der Pastor, »eines Tages, da Sie selbst mit diesem Arzt nicht ganz zufrieden waren. Es war Nacht, es stürmte. Sie hatten um andere Ärzte geschickt und telefoniert, die nicht kamen. Ihr sechsjähriger Berthold hatte eine Vereiterung des Mittelohrs, er wimmerte vor Schmerzen. Es bestand Lebensgefahr. Ich holte auf Ihre Bitten den Gefängnisarzt. Er war betrunken. Beim Anblick des sterbenden Kindes verlor er den Rest seiner Besinnung; er verwies auf seine zitternden Hände, die jeden chirurgischen Eingriff unmöglich machten, und brach in Tränen aus.«
»Der betrunkene Schuft!« murmelte der Direktor, der plötzlich finster geworden war.
»Ihr Berthold ist gerettet worden damals, durch einen andern Arzt. Aber was einmal geschah, kann sich wiederholen. Sie rühmen sich, kein Christ zu sein, Herr Direktor, trotzdem sage ich Ihnen: Gott läßt seiner nicht spotten!«
Der Gefängnisdirektor sagte mit Überwindung, ohne hochzusehen: »Also gehen Sie jetzt, Herr Pastor.«
»Und der Arzt?«
»Ich will sehen, was sich tun läßt.«
»Ich danke Ihnen, Herr Direktor. Viele werden Ihnen danken.«
Der Geistliche ging durch das Gefängnis, in seinem abgetragenen, schwarzen Rock, dessen Ellbogen grau schimmerten, mit seinen ausgebeutelten schwarzen Hosen, den dicksohligen, gefetteten Schuhen und der verrutschten schwarzen Binde, eine skurrile Figur. Manche von den Wärtern grüßten ihn, andere wandten sich ostentativ bei seinem Nahen um und spähten ihm dann argwöhnisch nach, sobald er vorüber war. Aber alle auf den Gängen beschäftigten Gefangenen hatten einen Blick für ihn (da sie ihn nicht grüßen durften), einen Blick voller Dankbarkeit.
Der Geistliche geht durch viele Eisentüren, über eiserne Treppen, sich am eisernen Geländer festhaltend. Aus einer Zelle hört er Weinen, er bleibt einen Augenblick stehen, schüttelt dann aber den Kopf und geht eilig weiter. Er kommt durch einen eisernen Kellergang, rechts und links gähnen die offenen Türen der Dunkelzellen, der Strafzellen, vor ihm brennt in einem Raum Licht. Der Pastor bleibt stehen und sieht hinein.
In dem häßlichen, schmutzigen Raum sitzt an einem Tisch ein Mann, mit einem grauen, finsteren Gesicht und starrt mit fischigen Augen auf sieben Männer, die, erbärmlich vor Kälte zitternd, splitternackt vor ihm stehen, unter der Aufsicht von zwei Wachtmeistern.
»Na, ihr meine Hübschen!« grölt der Mann. »Was wackelt ihr denn so? Ein bißchen kalt, wie? Oh, nicht doch, was Kälte ist, das werdet ihr erst erleben, wenn ihr im Bunker sitzt, zwischen Eisen und Zement, bei Wasser und Brot ...«
Er unterbricht sich. Er hat die schweigende, beobachtende Gestalt in der Tür gesehen. »Hauptwachtmeister«, befiehlt er mürrisch, »führen Sie die Leute ab! Alle gesund und dunkelarrestfähig. Hier haben Sie den Wisch!«
Er hat seinen Namen unter eine Liste gesetzt und gibt sie dem Beamten.
Die Gefangenen gehen an dem Pastor vorüber, nicht ohne einen erbarmungswürdigen Blick auf ihn zu werfen, in dem doch schon eine leise Hoffnung glimmt.
Der Pastor wartet, bis der letzte von ihnen verschwunden ist, dann erst tritt er ganz in den Raum und sagt leise: »Also 352 ist nun auch tot. Und ich hatte Sie doch gebeten ...«
»Was kann ich machen, Pastor? Ich selbst habe heute zwei Stunden bei dem Mann gesessen und ihm Umschläge gemacht.«
»Dann muß ich geschlafen haben. Ich glaubte bisher, ich hätte die ganze Nacht bei 352 gesessen. Und es war auch mit seiner Lunge nichts, Herr Doktor, 357 hatte eine Lungenentzündung. Der tote Hergesell auf 352 hatte einen Schädelbruch.«
»Sie sollten an meiner Stelle hier Arzt sein«, sagt der schwammige Mann spöttisch. »Ich kann ja den Seelsorger machen.«
»Ich fürchte nur, Sie würden einen noch schlechteren Seelsorger abgeben als Arzt.«
Der Doktor lacht. »Wenn Sie frech werden, Pfäfflein, liebe ich Sie. Darf ich nicht einmal Ihre Lunge untersuchen?«
Der Pastor sagt unbeirrt: »Nein, das dürfen Sie nicht, das wollen wir lieber einem anderen Arzt überlassen.«
»Aber auch ohne Untersuchung kann ich Ihnen mitteilen, daß Sie es kein Vierteljahr mehr machen werden«, fuhr der Arzt boshaft fort. »Ich weiß, Sie werfen schon seit Mai Blut aus – nein, es wird nicht mehr lange dauern bis zum ersten Blutsturz.«
Der Pastor war bei der grausamen Eröffnung vielleicht einen Schatten blasser geworden, aber seine Stimme schwankte nicht, als er sagte: »Und wieviel Zeit werden die Leute, die Sie eben in Dunkelarrest haben abführen lassen, bis zu ihrem ersten Blutsturz noch haben, Herr Medizinalrat?«
»Die Leute sind sämtlich gesund und dunkelarrestfähig – laut ärztlichem Befund.«
»Freilich sind sie gar nicht erst untersucht worden.«
»Wollen Sie meine Amtsführung kontrollieren? Ich warne Sie! Ich weiß mehr von Ihnen, als Sie glauben!«
»Und mit meinem ersten Blutsturz wird Ihr Wissen wertlos! Übrigens habe ich ihn schon hinter mir ...«
»Was? Was haben Sie hinter sich?!«
»Meinen ersten Blutsturz – vor drei oder vier Tagen.«
Der Arzt stand schwerfällig auf. »Also kommen Sie mit mir, Pfäffchen, ich werde Sie oben in meiner Bude untersuchen. Ich werde erreichen, daß Sie sofort Urlaub bekommen. Wir werden einen Antrag machen, daß Sie in die Schweiz dürfen, und bis der bewilligt ist, schicke ich Sie nach Thüringen.«
Der Pastor, nach dessen Arm der Halbtrunkene gegriffen hatte, stand unbeweglich. »Und was wird unterdes mit den Männern im Dunkelarrest? Zwei von ihnen sind bestimmt nicht fähig, die Nässe, die Kälte und den Hunger dort zu ertragen, und allen sieben würde es dauernden Schaden tun.«
Der Arzt antwortete: »Sechzig Prozent der Leute in diesem Hause werden hingerichtet. Ich schätze, daß mindestens fünfunddreißig Prozent der übrigen zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt werden. Was kommt es also darauf an, ob sie ein Vierteljahr früher oder später sterben?«
»Da Sie so denken, haben Sie kein Recht mehr, sich hier Arzt zu nennen. Treten Sie von Ihrem Amt zurück!«
»Der nach mir kommt, wird auch nicht anders sein. Warum also ändern?« Der Medizinalrat lachte. »Kommen Sie, Pastor, lassen Sie sich untersuchen. Sie wissen doch, ich habe eine Schwäche für Sie, trotzdem Sie ständig gegen mich wühlen und hetzen. Sie sind so ein prachtvoller Don Quichotte!«
»Ich habe eben auch gegen Sie gewühlt und gehetzt. Ich habe beim Direktor Ihre Ablösung beantragt und eine Dreiviertel-Zusage bekommen.«
Der Arzt fing an zu lachen. Er klopfte dem Pastor auf die Schulter und rief: »Aber das ist ja prächtig von Ihnen, Pfäfflein, da muß ich Ihnen ja direkt dankbar sein. Denn wenn ich abgelöst werde, falle ich bestimmt die Treppe hinauf, werde Obermedizinalrat und brauche gar nichts mehr zu tun. Meinen innigsten Dank, Pfäfflein!«
»Zeigen Sie ihn dadurch, daß Sie den Kraus und den kleinen Wendt aus dem Dunkelarrest holen. Sie überstehen ihn nicht lebend. Wir haben in den letzten beiden Wochen schon sieben Todesfälle durch Ihre Nachlässigkeit gehabt.«
»Sie Schmeichler! Aber ich kann Ihnen nun mal keinen Korb geben. Ich werde die beiden heute abend rausholen. Jetzt gleich, nachdem ich eben meine Unterschrift gegeben habe, würde es doch etwas zu kompromittierend für mich aussehen, oder was meinen Sie, Pastor?«