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Jeder Mensch, und mag sein Los das bescheidenste gewesen sein, zieht einmal die Aufmerksamkeit der Mitmenschen auf sich – und dieser Augenblick ist der seines Begräbnisses. Da erklingt die Thurmglocke auch für den Aermsten; wenn er das ganze Leben über allein gestanden, um den Sarg sammeln sich die Menschen; wer wegen ewiger Hindernisse nie vorwärts konnte, dem macht bei dem Begräbnisse Alles Platz, und der Arme, der im ganzen Leben nichts sein zu nennen vermochte, erwirbt sich jetzt ein Stück Erde für ewige Zeiten, das er bis zum jüngsten Tage frei benützen kann. Den Todten umgiebt Theilnahme und Ehrfurcht – und warum? Etwa weil Der Ehrfurcht verdient, der vernünftig handelt, und die Mehrzahl der Menschen im Leben kaum etwas Vernünftigeres thun kann, als davon Abschied zu nehmen? Oder vielleicht darum, weil nach unserer Ueberzeugung der Verstorbene Das, was uns Alle gleichmäßig interessirt, aber was selbst der Glücklichste nur glaubt, endlich erfahren hat? Wahr ist es, daß der Tod der beste Erklärer ist. Wer am Werthe seines Lebens zweifelt und nicht weiß, ob Das, was er zu erreichen vermag, die Mühe darnach lohnt, kann allsobald in's Reine kommen, wenn der nächste Beste seiner Bekannten stirbt. Ein etwas größerer oder kleinerer Leichenzug, Wappen, oder der bloße Name auf dem Sarge; über dem Grabhügel ein Mausoleum oder ein hölzernes Kreuz, die beide einsam und verlassen stehen; ein kurzes Gespräch unter den Nachbarn, oder ein gedruckter Trauerbrief; oder eine Anzeige in den heimischen Blättern, oder vielleicht gar ein Nekrolog in einer ausländischen Zeitung – eine Stunde, vierzehn Tage, ein Monat, und es ist Stille und Gleichgiltigkeit – das ist der Ruhm. Ein schwarzer Flor auf dem Hute, oder vollständiges Trauerkleid; bei den Armen: Streit, wer die Begräbnißkosten zu zahlen habe; bei den Reichen: wem das Erbe zufällt? – Dies ist es, was an die einstige Liebe mahnt. Und was die Freundschaft anbelangt, wer weiß denn nicht, daß wir zwar tausendmal die Hände unserer Freunde drücken, daß es aber selten ist, daß nach einem solchen Händedruck etwas zurückbleibt, was den Freund an uns und den Händedruck nur so viel erinnert, als die Hühneraugen uns mahnen, daß wir einst enge Stiefel getragen? Wem dieser Gewinn des Lebens nicht genügt, und wer wähnt, daß sein Schicksal ungerecht war, wenn es ihm für seine Bemühungen keinen andern Lohn zuweist, der möge sich damit trösten, daß er unter die Ausnahmen gehört.
Zu diesen gehörte auch Frau von Réty, deren Hinscheiden in Porvár und im ganzen Comitat mehr Lärm verursachte, als Alles, was längs der Theiß seit Menschengedenken Merkwürdiges geschehen. Schon dies zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, daß sie gestorben. Wenn eine reiche Grundbesitzerin, die ihr fünfzigstes Lebensjahr noch nicht erreicht hat, die eine gute Küche führte und in den schönsten Kleidern einherging, plötzlich stirbt, so ist es schrecklich, selbst wenn bei ihrem Sterben alle gehörigen Formen beobachtet worden sind und die Kranke erst nach zwei medicinischen Consilien aus der Welt gegangen ist. Aber was ist das im Vergleiche mit dem Fall der Vicegespanin? Der Comitatsphysikus war erst gerufen worden, als sie schon außer sich war, und bei allem seinem Wissen wußte er doch nichts Anderes zu sagen, als daß er die gnädige Frau gerettet hätte, wenn er um fünf Minuten früher gekommen wäre. Serer, der, eben in Porvár anwesend, auf die Nachricht auch herbeigeeilt war, sprach nur die Ueberzeugung aus, daß Dasjenige, was die gnädige Frau getrunken, gewiß nicht Zuckerwasser gewesen; aber von einem Consilium oder Recepte konnte keine Rede sein, die Zeit war so kurz, daß Serer nicht einmal seine Mandelmilch anbieten konnte, die, wie er sagte, zuweilen Wunder wirkt. Die Vicegespanin war vergiftet, und was mehr, durch sich selbst, darüber blieb kein Zweifel übrig. Und so wie das ärztliche Gremium des Taksonyer Comitats sich mit Recht über diese Umgehung seiner gesetzlichen Wirksamkeit beschweren konnte, eben so verwendete die Gesellschaft von Porvár alle ihre Bemühungen darauf, die geheimen Ursachen dieses gräßlichen Ereignisses zu entdecken.
Die Familie Réty und Jene, die ihr näherstanden, wie Vándory und Kálman Kislaki, nannten das Ganze einen unglücklichen Zufall. Nach ihrer Behauptung nahm die Vicegespanin oft Magnesia ein, die sie in demselben Kasten aufbewahrte, in welchem sie vor ein paar Tagen das Arsenik gegen die Ratten eingesperrt hatte – eine unglückliche Verwechslung, die Abends im schwach beleuchteten Zimmer leicht möglich war, erklärte Alles. Die Masse, die nicht gewöhnt ist, derlei dargebotene Erklärungen anzunehmen, und nie stärker zweifelt, als wenn ihr etwas zu Einfaches mitgetheilt wird, schenkte dieser Erklärung keinen großen Glauben – und da Jeder, wenn er die Wahrheit nicht ergründen kann, am liebsten sich selbst betrügt, suchte die Menge in Vermuthungen Licht, wobei sie durch Julchen, die bei dem Tode ihrer Gebieterin zugegen war, nicht wenig unterstützt wurde. Das Stubenmädchen erzählte so viel von der Traurigkeit, die sie seit einiger Zeit an ihrer Frau bemerkt, besonders von ihrem ungewöhnlichen Benehmen, das ihr am letzten Tage aufgefallen, daß Niemand daran zweifelte, daß sich die Vicegespanin absichtlich vergiftet habe; und nachdem die verschlossene Thür eben dafür zeugte, konnte die Meinungsverschiedenheit nur über die Ursache obwalten, durch welche die Vicegespanin zu diesem Entschlusse bestimmt worden war.
Réty selbst sprach über den Tod seiner Frau mit Niemand. Ob nun Wahnsinn die Ursache dieses entsetzlichen Schrittes gewesen, was Viele behaupteten, die außerordentliche Leidenschaftlichkeit immer für ein Symptom des Wahnsinns halten; oder ob sie zu diesem verzweifelten Entschluß die Ueberzeugung gebracht hatte, daß sie Akos' Verbindung mit Vilma nicht hindern könne, und sie lieber hatte sterben, als Zeuge eines Ereignisses sein wollen, welches sie für ihre Familie Schande bringend hielt, oder ob endlich – wie dies die Porvárer Frauen ihren Männern einredeten – der Vicegespan seine Frau beleidigt und sie durch die Härte, mit der er sich einem Wunsche der Unglücklichen widersetzt, getödtet hatte, wovon es in der Welt unzählige Beispiele giebt – Réty sprach mit Niemand, aber die ihn kannten, bemerkten den Eindruck, den der Tod seiner Frau auf ihn hervorgebracht hatte.
Es möge aber Niemand wähnen, daß dieser Schmerz, der, wie es schien, das in der letzten Zeit allgemein gewordene Gerücht, der Vicegespan lebe nicht in Eintracht mit seiner Frau, widerlegte, das Symptom wiedererwachender Liebe gewesen sei. Es gehört zwar nicht unter die Seltenheiten, daß von einem Ehepaar, welches die ganze Lebenszeit über schlecht zusammen gelebt, wenn Eines derselben stirbt, das Andere wie durch ein Wunder plötzlich unendliche Liebe an den Tag legt. Wie wir im täglichen Verkehr über einzelne Fehler leicht alle guten Eigenschaften vergessen, so erinnern wir uns, wenn wir von unsern Lebensgefährten auf ewig getrennt sind, meist nur ihrer guten Eigenschaften, und die Schwäche unserer menschlichen Natur bringt es mit sich, daß wir Alles, was wir besitzen, für einen Schatz halten, sobald wir es unwiederbringlich verloren haben. Dies aber war nicht die Ursache von Réty's Schmerz. Wahre Liebe hatte er für diese Frau nie empfunden, und wenn er sie auch empfunden hätte, so hatte er sie doch in neuerer Zeit von einer solchen Seite kennen gelernt, daß davon nicht mehr die Rede sein konnte; die Traurigkeit, die seit dem Tode seiner Frau Jeder an ihm bemerkte, entsprang aus den Vorwürfen, die er sich selbst machte. War nicht er selbst größtentheils die Ursache all' des Unglücks, das er um sich gewahrte? Nach dem Tode der Frau fand sich ein angefangener Brief vor, den die Unglückliche an ihn gerichtet, und worin sie unter leidenschaftlichen Vorwürfen ihm die Ursache ihres Unglückes beimaß; und war dies nicht, wenigstens zum Theil, wahr? Wenn Réty auf die Vergangenheit zurückblickte, mußte er nicht gestehen, daß alle die Ereignisse, denen seine Frau als Opfer fiel, nicht eingetreten wären, wenn er sie nicht selbst herbeigeführt hätte? Wenn er mit seiner Frau über das Verhältniß zu Vándory offen gesprochen hätte, wie dies seine Schuldigkeit war, so würde diese unglückliche Frau ihn nicht geheiratet, oder sich an den Gedanken gewöhnt haben, daß der Prediger ihres Mannes Bruder sei, und würde sich nicht zu all' Dem entschlossen haben, wodurch sie sich gegen Vándory's Ansprüche sicher zu stellen trachtete. Seine eigene übertriebene Nachgiebigkeit machte die Frau zu Dem, was sie geworden, und der unverhohlene Haß, den er in der letzten Zeit an den Tag legte, brachte die Frau zu dem verzweifelten Entschlusse, den sie nie gefaßt, wenn sie in ihrem Manne ihre Stütze gesehen hätte. Diese Gedanken erfüllten Réty's Seele mit tiefem Schmerze, und selbst Vándory's sanfte Tröstungen vermochten seine Traurigkeit nicht zu besiegen.
Das Geständniß des Juden, welches den Tod der Frau von Réty herbeigeführt und dadurch in Porvár eine so große Sensation erregt hatte, brachte nur in Bezug auf die Person, zu deren Gunsten es abgelegt worden war, nicht die gehoffte Wirkung hervor, und Tengelyi's Lage gestaltete sich nur um weniges günstiger. Noch vor dem Geständnisse des Juden hatten bereits Wenige gezweifelt, daß Macskaházy am Raube der Schriften Tengelyi's Theil gehabt habe; aber dies bestärkte nur den Argwohn, den man gegen Tengelyi hegte. Wenn die geraubten Schriften bei Macskaházy waren – was auch die Aussage des Juden bekräftigte – so war ein wichtiger Grund vorhanden, der Tengelyi zum Morde hatte vermögen können. Die Behauptung des Juden, daß Viola den Mord begangen, schien nicht rechtskräftig genug – denn es war die Aussage eines Zeugen, und was mehr, eines Zeugen von zu verdächtigem Charakter, um gegen die vielen Inzichten, in deren Folge der Notär in Proceß stand, ein freisprechendes Urtheil zu begründen. Dem Notär konnte nur geholfen werden, wenn Viola in die Hände der Gerechtigkeit fiel und den Mord Macskaházy's eingestand; dies war die Ueberzeugung der Freunde sowohl als der Gegner Tengelyi's, und dazu hatte – Vándory ausgenommen – Niemand viel Hoffnung. Mehr als zwei Wochen waren vergangen, seit der alte János mit Csavargós Porvár verlassen; man vernahm nichts von ihm, und es war nicht wahrscheinlich, daß einem alten Husaren Das gelingen werde, was Akos, Kálman, Völgyesy, mit einem Worte Alle, die an Tengelyi's Schicksal theilnahmen, fruchtlos versucht hatten, und nachdem selbst alle Behörden erfolglos aufgefordert worden waren, Viola zu entdecken.
Wahrscheinlich war es, daß der Zigeuner Peti Viola's Aufenthaltsort wußte; aber Akos erschöpfte Bitten und Versprechungen vergebens, Peti antwortete immer, daß er von Viola nichts wisse und ihn seit dem Standrecht nicht gesehen habe; außer diesem und einigen Kraftschwüren, mit denen er seine Worte erhärtete, konnte man nichts aus ihm herausbringen. Es war wohl bekannt, daß der Gulyás von Kislak Viola's Weib und Kinder nach dessen Flucht zu Wagen weitergebracht habe, aber aus seinen Reden konnte man ebenfalls nicht klug werden. Er sagte, daß er Susi nur drei Meilen weit zu einer gewissen Csárda geführt habe, wo die arme Frau ihren Mann habe erwarten wollen; was weiter geschehen, wisse er nicht. Kálman fluchte und bat, versprach und drohte vergebens, der alte Gulyás hätte auf der Folter nicht mehr gestanden. Die alte Lipták, obwohl sie der Familie Tengelyi, und besonders Vilma, in Liebe ergeben war, entschuldigte sich lang und breit, daß sie nichts von Viola wisse, und endlich, des vielen Fragens müde, sagte sie Akos unumwunden, daß sie es nicht sagen würde, auch wenn sie Violas Aufenthalt wüßte. Als sie Akos wieder einmal mit Bitten bestürmte, sprach sie: »Mein lieber, gnädiger junger Herr, Sie wissen, wie ich Sie liebe, wen sollte ich auch mehr lieben? alle andern Kinder, die ich an meiner Brust genährt, sind gestorben, nur Sie sind übrig geblieben – aber das verlangen Sie nicht von mir. Wenn ich Herrn Tengelyi mit meinem Leben befreien könnte, so würde ich es thun, aber daß ich zum Judas werden soll, kann Niemand verlangen. Herr Tengelyi hat gute Freunde, er wird so auch frei, und wenn auch nicht, so wird er doch anständig verpflegt und seine Familie ist versorgt. Aber auf Viola wartet der Galgen, auf seine Familie Kummer und das höchste Elend; wenn mir auch Susi nicht nahe verwandt wäre, so würde ich mir doch eher die Zunge abbeißen, als sie verrathen.« Es schien, daß Alle, die über Viola Näheres wußten, entschlossen waren, zu schweigen, und obgleich Vándory seine Freunde mahnte, daß sie Gott vertrauen mögen, schien es doch, als ob dieses Vertrauen nicht sobald durch einen glücklichen Erfolg werde gekrönt werden. János selbst hatte nach zweiwöchentlichem Suchen noch nicht die geringste Spur gefunden und war schon selbst im Zweifel, ob er sein Versprechen werde erfüllen können.
Daß Viola nicht in den benachbarten Comitaten sei, bezweifelte weder János noch Csavargós; andererseits schien es auch wahrscheinlich, was Letzterer wiederholt behauptete, daß er das Königreich nicht verlassen habe; aber in welchem der zweiundfünfzig Comitate unseres großen Vaterlandes sollten sie ihn suchen? Das war eine Frage, auf die der alte János bei all' seinen strategischen Kenntnissen zu antworten nicht im Stande war. »Der Viola ist ein Teufelskerl,« sagte er öfter zu seinem Kameraden, »er hat so retirirt, daß ihn der Satan selbst nicht finden könnte. Ei, was für ein General hätte der werden können!«
»Was heißt das: retiriren?« fragte einmal Csavargós, der, seit er mit János herumstreifte, seinen Erzählungen mit steigender Bewunderung horchte, und seit er vom Krieg und den großen Thaten des alten Husaren hörte, blickte er wie verachtend auf seine eigene Lebensweise zurück, deren interessanteste Momente sich mit dem Soldatenleben nicht messen konnten.
»Hat die Welt so etwas gehört?« rief der Husar verwundert aus, »Du weißt nicht, was retiriren heißt? Aber es ist kein Wunder,« fuhr er nach kurzem Nachdenken fort, »Du hast nicht in Kriegszeiten gedient, wo Du das hättest lernen können. Schau! retiriren heißt, wenn sie den Menschen zurück commandiren.«
»Das versteh' ich,« sprach der Andere, der diese Erklärung mit großer Aufmerksamkeit angehört, »wenn man vom Feinde gejagt wird.«
»Du Narr!« sprach der Andere heftig, »da retirirt Keiner, der etwas nutz ist. Ich war in meinem ganzen Leben bei keinem Gefecht, wo wir nicht gesiegt haben, und wie oft haben wir doch retirirt!« Meine Leser wissen, daß János, der für seine Person immer nur mit Verdruß und auf Commando retirirte, in der Ueberzeugung lebte, daß während seiner ganzen Dienstzeit unsere Armeen nie geschlagen worden waren. »Retiriren heißt nur,« so fuhr er fort, »zurückgehen, wenn man den Feind tüchtig geschlagen hat. Verstehst Du es jetzt?«
»Das verstehe ich,« antwortete Gaszi, »aber ich weiß nur nicht, warum man zurückgeht, wenn der Feind geschlagen ist?«
»Du Narr,« sprach der Husar mitleidig lächelnd, »man geht, weil man commandirt wird, und wenn der Soldat nicht folgt, so wird er erschossen.«
»Aber warum commandiren sie denn zurück?« fragte Gaszi weiter, dessen Zweifel durch die bisherigen Antworten noch nicht gelöst waren.
»Das geht uns nichts an,« antwortete János voll übler Laune, denn gerade diese Frage hatte er sich selbst hundertmal gestellt, ohne sie beantworten zu können, »der Soldat vollzieht, was ihm befohlen wird, das Uebrige geht Andere an. Warum sie zurück commandiren?« brummte er weiter, »eine dumme Frage; vielleicht, um wieder vorrücken zu können, denn wer am meisten zurückgeht, der kann wieder am meisten vorrücken; vielleicht auch darum, damit sich der Feind wieder sammeln und man ihn wieder schlagen kann. Schau, Gaszi, wenn Du Soldat wärest, und Du brächtest eine solche Frage vor, so würdest Du gleich erschossen.«
Aus derlei Gesprächen konnte Csavargós Gaszi viel lernen, und der alte János fand dabei sehr viel Vergnügen, so daß er seit der Zeit, als Akos herangewachsen und seinen Kriegsgesprächen kein Gehör mehr schenkte, vielleicht nie innerlich so zufrieden war als jetzt, aber dem Ziele ihrer Reise nahten sie doch nicht. Der Kislaker Gulyás hatte auch ihm gesagt, daß er nichts von Viola wisse; alles Bitten, alle Kameradschaft vermochte keine andere Antwort von ihm herauszulocken, und wenn er irgend einen Anderen befragte, erhielt er dieselbe Antwort.
»Als ob sie sich verabredet hätten,« brummte János verdrießlich, »Jeder antwortet: ich weiß nichts. Sie behandeln mich so, wie unser Stallmeister; wenn ich dem vom Pferdeputzen oder Füttern etwas sage, antwortet er immer: das weiß ich schon lange; und die sagen wieder: wir wissen nichts. Was man ohnedies weiß, das glauben die Anderen auch zu wissen, um was man aber fragt, das beantworten sie nicht.« Aber derlei Klagen brachten weder den Gulyás noch sonst Jemand dazu, Das zu sagen, was sie nicht sagen wollten, oder nicht konnten, und János und Csavargós zogen von Tanya zu Tanya und erhielten überall dieselbe Antwort.
So waren sie durch drei Comitate gezogen, und obgleich Csavargós sich an diese Lebensweise nach und nach gewöhnte und János täglich, durch Wald und Feld und Sümpfe reitend, sich manchmal wieder in das Soldatenleben zurück dachte, und, sich im Bügel erhebend, mit unaussprechlichem Behagen auf der Ebene umschaute, wo der Reiter nichts Höheres sieht als sich, wurde ihnen am Ende das fruchtlose Suchen doch zuwider. Wir mühen uns beinahe Alle nach solchen Zielen ab, von denen jeder Andere, ja oft die ganze Welt weiß, daß wir sie nicht erreichen werden – das thut nichts! wenn nur wir selbst die entgegengesetzte Ueberzeugung festhalten; aber wenn wir endlich auch diese verlieren und nur darum weiter fortstreben, weil es unsere Pflicht ist, oder unser Ehrgefühl, oder unsere Eitelkeit, die oft das Entgegengesetzte des Vorhergehenden ist, da – mögen wir seufzen – der alte János fluchte – und weitergehen. Nach der Philosophie des alten Husaren kommt Der immer weit, der, wenn auch langsam, vorwärts geht; ja am Ende erreicht er sogar das Ziel, das ihm unerreichbar schien, und dies erfuhren auch unsere beiden Suchenden.
Dem April wird gewöhnlich zur Last gelegt, daß er wetterwendisch ist. Ich weiß nicht, inwiefern dies dem guten Rufe des Monats schaden kann, wenigstens in unserem Vaterlande, denn wir brauchen gar nicht auf den April zu warten, um nach schauderhaftem Sturm unendliche Stille, nach Platzregen hellen Himmel, Nebel und Sonnenschein, West-, Ost-, Süd- und Nordwind in einer Stunde zu erleben; so viel ist aber gewiß, daß in dem Jahre, in welchem János und Csavargós Viola suchten, Niemand diesen Monat wechselvoll nennen konnte. Der alte Husar war von Kindesbeinen an viel Ungemach gewöhnt, aber jetzt, da er tagtäglich bis auf die Knochen durchnäßt wurde, verfluchte er oft die zur Verzweiflung bringende Beständigkeit des Aprils. Einmal aber verlor er seine Geduld ganz.
Sie ritten im dritten Comitate umher, wohl an zwanzig Meilen vom Hause weg; seit dem frühen Morgen waren sie zu Pferd, und Mittag war längst vorüber, als Csavargós dem alten Kameraden endlich gestand, daß er die Tanya, zu der er ihn führen wollte, nicht auffinden könne. Der Alte hatte bis jetzt Alles geduldig ertragen, in der Hoffnung, daß er am Ende doch etwas von Viola erfahren werde, denn Gaszi hatte versichert, daß der Gulyás, zu dem sie auf dem Wege waren, jeden Hirten auf zehn Meilen in der Runde kenne. Aber was war zu thun? sie standen in der Mitte des Waldes, hatten den Weg verloren, und obschon János hoch und theuer schwur, daß er, ein alter Mann, sich nie von einem solchen Knaben, wie Gaszi, werde führen lassen, konnte er jetzt doch nichts Anderes thun, als sich, so weit es der Sturm erlaubte, in die Bunda zu wickeln und mit dem Gedanken zu trösten, daß er morgen nach Porvár zurückkehre, und so ritt er hinter Csavargós, der indessen die Bäume betrachtete und abgebrochene und auf dem Wege über's Kreuz gelegte Zweige suchte, wodurch in waldigen Gegenden »arme Bursche« Arme Bursche heißen Pferde-, Hornvieh- u. dgl. Diebe. ihre Pfade bezeichnen. Der Abend brach schon herein, als ein aus dem Dickicht ihnen entgegenleuchtendes Hirtenfeuer die Irrenden auf die rechte Bahn brachte. In der Mitte des Waldes trafen sie endlich auf die Tanya, von der Gaszi geredet, und das Vergnügen, mit dem sich János zu dem guten Feuer legte, war kaum größer, als jenes, mit dem der hier hausende Gulyás Csavargós begrüßte. Es schien, daß der alte Gulyás mit Gaszi viel mehr Arbeit verrichtet hatte, als das Comitat erfahren.
Als der alte Gulyás sich mit dem jungen Kameraden ausgeplaudert hatte, erkundigte sich János um Viola; der Gulyás wußte nichts von ihm, wenigstens war dies seine erste Antwort, als er aber wahrnahm, wie sehr es auch Gaszi am Herzen lag, etwas von Viola zu erfahren, sagte er nach kurzem Bedenken: wenn sie heute Nacht bei ihm bleiben, wolle er sie am nächsten Morgen zu Jemand führen, der in dieser Sache mehr sagen könne. »Nicht weit von hier,« so fuhr er fort, »haust seit dem Herbste ein Gulyás, der aus Eurer Gegend gekommen ist. Er heißt nicht viel, hat mit Niemand Kameradschaft, handelt nicht mit Vieh, mit einem Worte ein unbrauchbarer Mensch Semmi ember (sprich schemmi), semmi – nichts, ember – Mensch.; weil er aber von Euch kommt, so mag es sein, daß er von Viola etwas weiß.«
»Wer kann das sein?« sprach Csavargós nachsinnend, »ich weiß keinen Hirten aus unserer Gegend, der im Herbst hieher gezogen wäre.«
»Es ist der leibliche Bruder des Kislaker Gulyás,« erwiderte der Alte, »sein Bruder ist ein ganzer Bursche, aber der heißt nichts; er spricht mit Niemandem.«
»Der Bruder des Kislaker Gulyás?« sprach Gaszi verwundert, »das ist unmöglich, der ist ja voriges Jahr im Herbst gestorben.«
»Gestorben?!« rief der Andere noch verwunderter aus, »ich hab' ihn ja mit meinen eigenen Augen gesehen; er ist ein schöner brauner Mann; er ist mit Weib und Kindern gekommen, und Du sagst, daß er todt ist.«
»Ich habe nur gesagt, daß der Bruder des Kislaker Gulyás gestorben ist,« sprach Gaszi ruhig, »Der, den Du dafür hältst, kann meinetwegen leben, so lange er will, aber der Bruder des István Gulyás wird er nicht sein.«
»Aber wenn ich Dir sage, daß er es ist,« sprach der Andere rasch, »glaubst Du, daß ich den István Gulyás nicht kenne? Seit Jahren bin ich nicht viel bei Euch gewesen, aber in früheren Zeiten sind wir, Pista und ich, gute Kameraden gewesen, auch jetzt, wie er die Frau und Kinder seines Bruders hierher brachte, hat er bei mir übernachtet; das eine Kind kränkelte, aber das andere war ein schöner Knabe, aus dem wird ein tüchtigerer Mann, als sein Vater, er heißt nicht umsonst Pista wie seines Vaters Bruder und ich. Na, was sagst Du dazu? glaubst Du jetzt, daß ich Dich zum Bruder des Kislaker Gulyás führen werde?« Während er so sprach, hatten Gaszi und der alte János sich bedeutsam angeschaut und mit den Augen zugewinkt.
»Ich setze meinen Kopf zum Pfand,« so sprach Gaszi zu dem alten Husaren, als nach langem Gespräch ihr Wirth sich niedergelegt hatte und eingeschlafen war, »der Mensch, von dem er spricht, ist Niemand Anderer, als Viola.«
»Ich glaube selbst,« erwiderte János leise, »aber schweige, bis er uns hinführt; sage dem Alten nicht, mit wem er es zu thun hat.«
»Der wird sich wundern,« sprach Gaszi, »wenn er hört, daß sein Nachbar, den er für gar nichts hielt, Viola ist. Na, morgen werden wir schon sehen.« Und mit diesen Worten streckte sich Gaszi neben das Feuer hin und überließ sich dem Schlafe; der alte János aber wälzte sich trotz seiner Müdigkeit unruhig und schlaflos auf seinem Lager, und überzeugt, daß er Viola auffinden könne, fing er wieder an zu zweifeln, ob es nicht etwa besser wäre, ihn ruhig zu belassen. »Der Arme ist, wie es scheint, ein ehrlicher Mann geworden,« so dachte er bei sich selbst, »warum soll ich ihn aufstören aus seiner Ruhe? Herrn Tengelyi werden sie auf keinen Fall aufhenken, und wer weiß, ob sie ihr Wort halten, wenn Viola einmal in ihren Händen ist? Und wenn dann seine Frau verzweifelt und die Kinder als Waisen herumirren, wer Anderer ist dann die Ursache, als ich, der ich ihm wie ein niedriger Spion nachgeschlichen bin?« In diesen inneren Kämpfen tröstete sich János damit, daß hieraus, daß er Viola aufgesucht, noch nicht folge, daß er ihn auch dem Comitat anzeigen werde, und daß er, wenn sie zusammen sprächen, vielleicht ein Mittel finden könne, Tengelyi zu befreien, ohne daß deshalb Viola in's Gefängniß kommen müßte. »Der Arme hat genug gelitten, und jetzt ist er gewiß glücklich; er hat so schöne Kinder, Gott behüte, daß ich sein Glück störe.« Und unter diesen beruhigenden Gedanken schloß der wohlthätige Schlaf auch seine Augenlider.
Kehren wir zu Viola zurück, den wir im Laufe unserer Erzählung schon längere Zeit aus den Augen verloren haben, und den wir jetzt, wie die Leser gewiß schon errathen, unter dem Namen des Bruders des Kislaker Gulyás in jener Tanya finden, zu welcher Gaszi's Bekannter die Suchenden zu geleiten versprochen hatte. Die Beschreibung der Tanya kann ich mir füglich ersparen, denn unter meinen Lesern wird kaum einer sein, der in seinem Leben nicht eine Gulyástanya gesehen Das gilt wohl nur für ungarische Leser., und diese Baulichkeiten sehen sich in unserem Vaterlande alle gleich. Diese Tanya nun war eine der besseren, und auf jeden Fall eine solche, in der sich ein Mann wie Viola wohl fühlen konnte. Das Haus war zwar weder so bequem, noch so groß wie jenes, das er in Tiszarét verlassen, aber das neu ausgebesserte Rohrdach schützte die Bewohner gegen den Regen, die frisch übertünchten Wände leuchteten weit hinaus in die große Ebene, und die Verlassenheit selbst, in der sie den Augen des Wanderers auftauchte, gaben der Tanya einen eigenen Anstrich von Wohnlichkeit. Neben der Tanya erhob sich eine lange Hügelreihe, auf den Höhen derselben dehnte sich ein dichter Wald meilenweit hin; tiefer unten, wo der Wald längst ausgehauen war, standen einzelne aber starke Bäume, am Fuße der Hügel aber dehnte sich die große Ebene grenzenlos, so weit das Auge reichte, und außer einzelnen Thürmen, die hie und da am Horizonte sichtbar wurden, und den Heerden, die auf der großen Ebene weideten, war nichts, wodurch der Wanderer erinnert worden wäre, daß er bewohntes Land sah. Nahe am Hause waren ein Stall, eine Heerde und einige Heuschober, vor der Thür ein paar große Schäferhunde in den wärmenden Strahlen der Frühlingssonne.
Viola konnte an seinem neuen Wohnorte glücklich sein; er hatte die Zuflucht gefunden, die er gesucht, und war weit von aller menschlichen Gesellschaft, was auch eine Gattung Glück für Denjenigen ist, der von den Menschen viel gelitten und nur neue Verfolgungen zu erwarten hat – er hätte glücklich sein können, sage ich, wenn das Glück nur von unserer gegenwärtigen Lage abhinge – nachdem aber dies nicht so ist, täuschte sich der alte János sehr, als er Viola glücklich wähnte. Es betrübte ihn schon dies Eine, daß er gezwungen war, den Schauplatz seines früheren Lebens zu verlassen, wenn er auch in seinem neuen Wohnorte Freuden zu erwarten gehabt hätte. Wie der gebildete Mensch, wenn ihm die Natur ein Herz gegeben hat, sich nie glücklich fühlt, wenn er aus seinem Vaterlande verwiesen ist, und sich unter den Fremden immer verlassen und einsam fühlt, wenn ihn das Glück auch noch so reich bedenkt, so hält die ärmere Classe des Volkes nicht blos am Vaterlande, sondern an ihrem Geburtsorte; ihr Leben verfließt in engeren Kreisen und der Begriff des gesammten Vaterlandes liegt ihnen gewöhnlich zu fern, als daß sie ihn rein aufzufassen im Stande wären. Der letzte Bauer liebt sein Vaterland, er liebt es, wie etwas, das wir ganz zu begreifen und zu verstehen nicht vermögen, aber vor dessen Größe wir uns beugen und zum Danke verpflichtet fühlen – er liebt es ähnlich der Liebe, die der Mensch zu Gott fühlt, aber das wirkliche Vaterland des armen Menschen, das ihm Niemand ersetzen kann, wenn er es meiden muß, ist das Dorf, in dem er geboren worden, der kleine Fleck, wo er die Tage seiner Kindheit verlebte. Versetze ihn auf fünfzehn Meilen von seinem Geburtsorte, und der Gedanke, daß er noch im Gebiete der ungarischen Krone ist, wird ihm den Schmerz nicht lindern, den er empfand, als er von seinem Dorfe schied. Der Ort, wo er seine ersten Jahre verlebt, wo das bescheidene Haus der Eltern, oder vielleicht ihr Grab steht, die kleinen Felder, die er Jahre lang bearbeitet, die Bäume, unter denen er so oft geruht, und der Baum, bei dem er vielleicht seine Geliebte zum ersten Male getroffen, sind unersetzlich. Seine Erinnerungen bestehen nicht aus den Geschicken seiner Nation, sondern aus den Begebenheiten seiner Familie oder Nachbarn, und wenn diese auch in seinem Wohnorte seine Sprache reden, wird er mit ihnen von jenen Gegenständen reden können, die einzig und allein für ihn wirkliches Interesse haben? wird er nicht wie ein Fremder unter den Fremden stehen, beinahe so, als ob er das Vaterland verlassen hätte? – als ob außer dem Gesichtskreise des Dorfthurmes auf der ganzen weiten Erde für ihn kein Platz wäre, wo er sich ganz heimisch fühlen könnte? Und wenn auch dies nicht wäre, ist unser Leben nicht ein Ganzes, dessen einzelne Momente wir nicht auseinander zu reißen vermögen, dessen Freuden größtentheils in Hoffnungen, dessen Wonnen in Erinnerungen bestehen? Und was war in Viola's Vergangenheit oder Zukunft, worauf er mit Beruhigung blicken konnte? Wie der Frühlingssturm, der über die Erde hinweht, sie nicht nur der Blüthen und des Grünen beraubt, sondern zuweilen auch die Erde wegrafft und nur unfruchtbare Felsen zurückläßt, so verderben die Schläge des Schicksals oft mehr als unsere gegenwärtigen Freuden, und das Herz, das sie getroffen, bleibt dann öde; der Theil, in welchem die Freuden gewachsen, ist verloren gegangen, gute Tage können noch kommen, aber das Herz ist ewig unfruchtbar geworden, und dies waren Viola's Leiden.
Konnte er die Ungerechtigkeiten der Menschen vergessen, konnte er vergessen, daß er seine Tage wie ein wildes Thier gehetzt verlebte? vergessen, was er selbst gethan, und wovor sein ganzes Wesen schauderte, wenn er daran zurückdachte? war er nicht ein Mörder? hatte nicht zweimal Menschenblut seine Hände befleckt? und wie sollte er Glück hoffen, er, den sein Gewissen nie ruhen ließ, der im nächsten Augenblick sich von Allem beraubt sehen konnte, was er noch sein nannte? Die Zukunft stand immer drohend vor dem Unglücklichen. Seinen wahren Namen wußte noch Niemand in der Gegend, sein Herr und die Wenigen, mit denen er in Berührung kam, hielten ihn für den Bruder des Kislaker Gulyás, und so lange dieser Zustand dauerte, konnte er ruhig sein; aber hing seine Sicherheit nicht an einem Haare? Wenn einer seiner früheren Bekannten in die Gegend kommt, oder ein unvermutheter Zufall verräth, daß er unter fremdem Namen, mit einem fremden Paß gekommen ist, wird dann sein wahrer Namen nicht bekannt werden? und was erwartet ihn dann, der schon zum Tode verurtheilt ist? Viola mußte vor jedem Menschen zittern, den er der Tanya nahen sah, zittern vor seinem eigenen kleinen Sohn, der durch sein unschuldiges Geplauder die Eltern verrathen konnte, und giebt es eine größere Qual? Aber trotz dem Allen hätte am Ende Viola seine Lage vielleicht gewöhnen und sich, wenn auch nicht glücklich, doch wenigstens ruhig fühlen können. Das Geschick, welches dem Menschen so wenig Einfluß auf die Bestimmung seiner Verhältnisse gestattet, hat als Ersatz das Herz so gebildet, daß der Mensch am Ende sich an jede Lage gewöhnen kann. Wenn Viola, wie er hoffte, seine Frau glücklich sehen konnte, so hätte er in seiner Liebe für sie und die Kinder vielleicht Alles vergessen können, sogar die Gefahr, die ihn unausgesetzt bedrohte; es würde ja selbst das Schwert des Damokles, wenn es Jahre lang über unserem Haupte hinge, endlich seine Schrecken verlieren.
Aber es kam nicht so.
Susi bedurfte nicht viel, um sich glücklich zu fühlen. Sie war eines jener Wesen, denen Gott, als er sie auf die Erde sendete, den einen Beruf gab, zu lieben, und so lange sie diesem Berufe nachkommen konnte, fühlte sie sich glücklich. So lange sie ihren Mann und ihre Kinder neben sich sieht, so lange sie jeden Augenblick ihres Lebens ihnen weihen, für sie sorgen, für sie arbeiten, für sie beten kann, wünscht sie nichts weiter – sie hat nur eine verwundbare Seite – ihre Liebe; wenn das Geschick diese nicht verletzt, so treffen die übrigen Schläge des Schicksals ihr Herz nicht. Als die arme Frau ihren Mann in Freiheit wußte und mit den Kindern auf dem Wagen des Kislaker Gulyás ihrem neuen Wohnorte zueilte, schien es ihr, als gebe es nichts mehr auf der Welt, was sie noch zu wünschen hätte; die höchste Hoffnung ihres Lebens war erfüllt, und Alles, was sie gelitten, verschwand vor dem Gefühle des Glücks, welches ihre Seele erfüllte. Fern von den Menschen, fern von dem Schauplatze ihres früheren Lebens, wo Niemand ihren Mann kennt und sie ein ganz neues Leben beginnen kann – dies war seit Jahren ihr einziges Sehnen, und es war erfüllt. Sie kniete nieder, als sie die Schwelle ihrer neuen Tanya überschritten, und in dem heißen Gebete, welches sie zu Gott hinaufsandte, war nichts als Dank, als ob nach so viel Glück es nichts gebe, um was sie noch bitten könnte.
Dieses Glück dauerte nicht lange. Es giebt Wesen auf der Welt, die nur grenzenlos glücklich, oder vollständig unglücklich sein können, und Susi war eines dieser Wesen. Wenn Gott ihre Liebe erhält, gab es im Himmelreich keine Freude, nach der sie sich gesehnt hätte, die eine ausgenommen, daß die Liebe, mit der sie die Ihren umfaßte, ewig dauern möge; wenn sie ihre Lieben verliert, giebt es dann etwas, was sie zu trösten vermöchte? Und dies traf die arme Frau.
Ihr kleineres Kind war immer krank und schwächlich. »Wie könnte es auch anders sein?« sprach Susi oft, wenn sie auf dem kleinen Angesichte jenen traurigen Ausdruck bemerkte, der bei kleinen Kindern das sicherste Zeichen der Krankheit ist, »seine Muttermilch war Schmerz, und mit meinen bittern Thränen habe ich sein Lächeln weggeschwemmt; seit es die sanften blauen Augen geöffnet, hat es nichts um sich gesehen als Kummer; wie sollte das arme Kind nicht traurig sein?« Die unruhige Lebensweise, zu der die Mutter in der letzten Zeit gezwungen war, und die das schwache Kind mit ihr theilte, die kalte Herbstluft, der es stundenlang ausgesetzt war, endlich die schnelle Reise, als sie Alle dem neuen Wohnorte zueilten, wirkten sichtlich auf die schwankende Gesundheit des Kindes. In ihrem aufgeregten Zustande, so lange sie um das Leben ihres Mannes bangte, bemerkte Susi die Veränderung gar nicht, die mit dem Kinde vorging; aber wenige Tage nach ihrer Ankunft in der Tanya, wo auch Viola ein paar Tage später eintraf, begann sie die Gefahr des Kindes zu ahnen, und gab gleich alle Hoffnung auf. Nach wenigen in der größten Angst verlebten Tagen starb das Kind, und ein kleines Grab neben der Tanya war Alles, was nach so vielen Sorgen der Mutter von dem Kinde übrig blieb.
Der Tod dieses Kindes schmerzte die Mutter tief, mehr als es sonst vielleicht der Fall gewesen wäre, weil dieser Streich ihr Herz unvermuthet inmitten ihres Glückes traf; als sie aber die Traurigkeit ihres Mannes bemerkte, der, nach dem letzten Ereignisse noch immer gebeugt, in dem Tode seines Kindes ein neues Zeichen des verfolgenden Schicksals sah, fühlte sie, daß ihr Mann des Trostes bedürfe, und in ihrer Liebe bezwang sie auch ihren Mutterschmerz. »Wer weiß,« sprach sie oft, »ob es dem Kinde nicht besser gewesen, eine Welt zu verlassen, auf der es noch immer gelitten hat; vielleicht hat Gott dieses neue Unglück nur darum über uns verhängt, damit wir uns in dem neuen Glücke nicht übernehmen; und bleibt uns am Ende nicht unser kleiner Pista, der täglich schöner wird und das frischeste Kind ist, das ich in meinem Leben gesehen?« Und sie hatte Recht; so lange der Mutter ein Kind bleibt, dem sie ihre ganze Liebe zu schenken vermag, wird sie wohl trauern, sie wird sich aber nie vom Schicksal ganz niederschmettern lassen; die zarte Hand, mit der sie das Kind führt, ist zugleich die verläßlichste Stütze ihres Lebens, und der kleine Pista war wirklich ein liebenswürdiges Kind, frisch und gesund, wie sich eine Mutter nur wünschen kann, und dabei so herzig und liebevoll, als ob er es geahnet hätte, daß seit dem Tode der kleinen Schwester die ganze Glückseligkeit der Mutter auf ihm beruhe.
Beiläufig in der Mitte des Winters wurde Pista von den Blattern befallen; die Sorgsamkeit, mit der die Mutter den Kranken pflegte, werde ich nicht beschreiben; die himmlische Liebe, die in einer Frauenbrust Raum hat, kann sich nur Der vorstellen, der eine Mutter in solcher Lage sah; nur Der begreift es, wie die Mutter an dem Krankenbette ihres Kindes heiter sein kann, während ihr Herz mit unendlichem Weh erfüllt ist, wie sie heiter sein und lächeln kann, nur um dem Kinde einige leichtere Augenblicke zu verschaffen; nur Der kennt jene Kraft, die nie ermüdet und die überirdisch scheint, weil die Liebe, aus der sie entspringt, das höchste Gefühl ist, welches dem Menschen zu Theil geworden. Nach drei peinlichen, zwischen Schmerz und Hoffnung verlebten Wochen starb endlich auch dieses Kind, und nachdem die arme Frau ihren Liebling neben der Schwester begraben, fühlte sie, daß es auf der Welt nichts mehr gebe, was sie glücklich zu machen vermöge.
Susi klagte nicht, sie sprach nicht von ihrem Unglück, ja sie bot Alles auf, um ihren Schmerz ihrem Manne zu verbergen; aber das bleiche Angesicht, auf dem sie manchmal ein Lächeln erzwang, der unwillkürliche Seufzer, der manchmal ihre Brust schwellte, die zitternde Stimme, wenn sie plötzlich durch irgend etwas an das Kind erinnert wurde, während sie sich wegwandte, damit ihr Mann die Thränen nicht gewahre, die in ihren Augen schimmerten, redeten verständlicher als jede Klage, in welcher die Unglückliche ihren Schmerz hätte ergießen können, und Viola liebte seine Frau zu sehr, als daß er durch sie hätte getäuscht werden können; er sah die Spuren der verborgenen Thränen in dem geliebten Angesichte, er verstand das nie ausgesprochene Weh, und seine starke Seele war mit Leid erfüllt, das stärker war als Alles, das er sein Leben über empfunden. Ein Wesen, das wir grenzenlos lieben, leiden sehen, und fühlen, daß wir den Schmerz nicht lindern können, ist das bitterste Gefühl auf der Erde, und Viola schien es, daß ihn das Schicksal nur darum vom Tode gerettet habe, damit er den bittersten Tropfen aus dem Kelche seines Lebens leere. »Ich Unglücklicher,« so sprach er oft zu sich, wenn er auf der Haide allein war und sein Blick, auf das weidende Vieh gerichtet, auf der großen Ebene herumschweifte, »hatte ich also noch nicht genug gelitten, mußte ich auch Das noch erleben? Wenn ich die Todesstrafe ausgestanden hätte, würde sich Gott vielleicht meiner Kinder erbarmt haben, jetzt straft mich der Allmächtige in meinen Kindern für meine Sünden. Meine Hände sind mit Blut befleckt, was kann aber meine Susi, was können meine Kinder dafür? Barmherziger Gott, was haben sie gegen Dich gefehlt?«
In solche Gedanken versunken, saß Viola wieder auf dem Hügel, der sich neben seinem Hause erhob, als ungewöhnliches Bellen der Hunde, von der Tanya her schallend, seine Aufmerksamkeit erregte; er schaute hin und sah einen Fremden, der gerade auf ihn zuging. Viola lebte ganz vereinsamt, wie es seine Lage ihm gebot; der Gulyás von Kislak selbst hatte ihn, seit er auf dieser Tanya wohnte, nur ein einziges Mal besucht, und die Hirten und die armen Bursche der Umgegend sprachen selten bei dem neuen Gulyás ein, da sie nach ein paar Versuchen wußten, daß Viola mit ihnen in keine Kameradschaft treten wolle, und so mußte ein nahender Fremder schon an sich seine Aufmerksamkeit erregen. Grenzenlos aber war Viola's Erstaunen, als er in dem Nahenden, dessen Züge ihm schon von fern bekannt erschienen, endlich den Husaren des Vicegespans erkannte, und von diesem bei seinem wirklichen, schon lange nicht gehörten Namen angerufen wurde.
Sobald János die Tanya von fern erblickt, hatte er dem Gulyás, der ihn geführt, für seine Mühe gedankt und ihn sammt Csavargós wieder zurückgeschickt. Um mit Viola ungestört sprechen zu können, war János allein gekommen, und Viola traute seinen Augen kaum, als er den alten, sonst immer ordentlich gekleideten Soldaten jetzt in Bauerntracht und mit einem langen, während der Reise gewachsenen Bart vor sich sah.
»Ihr seid es, János?« fragte er verwundert, und heftete die Augen auf den Kommenden, »und in diesem Anzug?«
»Nicht wahr, es ist sonderbar,« antwortete der Andere heiter, »ja, nackt werden wir geboren, und nackt legt man uns in's Grab, oder höchstens in einer Gatye Gatye – das ungarische leinene Unterbeinkleid.. Der Soldat war Bauer und wird wieder Bauer, das ist der Lauf der Welt, und am Ende ist das Kleid, das ich jetzt trage, nicht so schlecht, nur daß einem Menschen wie ich, der so lange zugeknöpfelt herumgegangen ist, immer etwas fehlt, wenn er nicht gepreßt ist. Die ersten Tage schien es mir, als wäre ich gar nicht angezogen.«
»Aber wo kommt Ihr denn her, und was führt Euch in dieses ferne Land?« fragte der Erste wieder.
Der alte János, der nie überzeugt war, daß dieser sein Gang ganz in Ordnung sei, fühlte sich durch diese Frage verwirrt. »Ich wollte Dich nur besuchen –« sprach er nach kurzer Pause, während er sich den Kopf kratzte, »das heißt, ich wollte Dich aufsuchen,« setzte er in großer Verwirrung hinzu, »ich habe etwas Wichtiges mit Dir zu sprechen. Du mußt deshalb nicht erschrecken,« fuhr er fort, als er die Verwunderung bemerkte, mit der ihn Viola bei diesen Worten anschaute. »Daraus, daß ich versprochen habe, Dich aufzusuchen, folgt noch gar nicht, daß ich auch einem Andern sagen werde, wo er Dich finden kann. Ich rede mit Dir, und damit ist's aus – Du kannst thun, was Du für das Beste hältst. Wenn mich die gestrengen Herren auch schinden, so werden sie doch nichts von mir erfahren; ich habe noch in meinem ganzen Leben keinen Deserteur verrathen.«
Viola's Neugierde wuchs bei diesen Worten, und auf seine Bitten begann der alte János, ihm die Ursache seiner Reise zu erzählen. Es ist unnöthig, daß wir dem alten Husaren in seiner etwas langen Erzählung folgen – die Leser können sich ohnedies den Eindruck leicht vorstellen, den sie bei Viola hervorbrachte.
Als er durch János Tengelyi's Lage erfuhr, blickte er verzweifelnd gegen den Himmel und rief: »Was für ein verfluchtes Geschöpf bin ich, Jeder, dem ich mich nahe, sei es in Liebe, sei es in Haß, wird durch mich unglücklich!« Mit den Händen verhielt er sich die Augen und versank schweigend in seinen Schmerz.
Der alte Husar sprach beschwichtigend: »Schau, Du mußt nicht glauben, daß es Herrn Tengelyi gar so schlecht geht – er ist nicht einmal im Arrest, sondern in einem Zimmer; zu essen und zu trinken hat er vollauf, ich selbst bediene ihn, und Du kannst Dir wohl denken, daß ich für den künftigen Schwiegervater des jungen Herrn Akos gehörig Sorge trage – wenn nur der verdammte Criminalproceß, oder wie sie das Ding nennen, nicht wäre! Wenn seine Unschuld nicht an den Tag kommt, so weiß man nicht, zu was er verurtheilt wird – und dann –«
»Habe ich nicht sein Bestes gewollt?« so unterbrach Viola heftig den Redenden, »es giebt keinen Menschen auf der Welt, dem ich so viel Dank schuldig bin – mein Weib, meine Kinder hat er in sein Haus aufgenommen – mein Leben hätte ich für ihn hergegeben; einen Menschen habe ich erschlagen, weil ich glaubte, daß es ihm Nutzen bringt, und wozu hat meine Dankbarkeit geführt? Ich habe ihn, den rechtschaffensten Menschen auf der Welt, in's Gefängniß gebracht, und wenn Du nicht kommst und mir Alles erzählst, so kommt er vielleicht auf den Richtplatz. O, János, warum hast Du Dich bemüht, mich vom Tode zu befreien! ein Freudentag wird der Tag sein, an dem ich sterbe. Wenn der wüthende Hund seine Krankheit fühlt, so läuft er weg aus dem Hause, dessen Brot er gegessen, um seine Wohlthäter nicht unglücklich zu machen, und sieh', ich bin schlechter als ein wüthender Hund, ich verderbe meine besten Freunde.«
Der alte János war durch Viola's Schmerz tief ergriffen und tröstete den Unglücklichen damit, daß es vielleicht doch ein Mittel geben könne, Tengelyi zu helfen.
»Was das anbelangt,« sprach Viola etwas ruhiger, »darfst Du ohne Sorgen sein; in drei Tagen können wir nach Porvár kommen, die Schriften, die ich Macskaházy weggenommen, sind in meinen Händen, sie sind noch blutig, und wenn ich Alles erzähle, wie es geschehen ist, so kann kein Verdacht mehr auf Tengelyi lasten.«
Der alte János schüttelte nachdenklich das Haupt, endlich sprach er: »Ich glaube nicht, daß das gut sein wird; Du bist jetzt in Verzweiflung, und so etwas muß man früher gut bedenken. Hingehen ist leicht: hier bin ich, Viola, ich habe Macskaházy umgebracht, das kann jedes Kind sagen; aber wenn Du einmal eingesperrt bist, frei werden, das ist schwer, und darauf muß man denken. Freilich haben die Herren gesagt, daß Dir am Leben nichts geschieht, der Vicegespan selbst hat es versprochen; aber am Ende wer weiß? Es ist nicht immer rathsam, viel darauf zu geben, was die Herren so einem armen Menschen versprechen, und ich glaube, es ist rathsamer, einen andern Weg zu versuchen. Wie wäre es, wenn Du die Schriften mir gäbest, ich bringe dieselben nach Porvár, sage, daß ich mit Dir gesprochen, daß Du mir die Schriften übergeben und dabei gesagt hast, daß Macskaházy von Dir umgebracht worden sei.«
»Sie werden es Dir nicht glauben,« fiel Viola ein.
»Gut,« fuhr der Husar weiter fort, »wenn sie mir allein nicht glauben, so rufe ich noch einen Zeugen; Csavargós Gaszi ist ein guter Kerl, er ist mit mir gekommen und ist jetzt bei dem nächsten Gulyás. Zwei rechtschaffene Zeugen sind zum Beweise genug, oder weil Gaszi vielleicht nicht ganz rechtschaffen ist, weil er zuweilen stiehlt, so rufen wir den Gulyás als dritten Zeugen, so müssen sie es glauben. Während wir in Porvár dies aussagen, gehst Du mit Weib und Kindern weiter, und wenn sie Dich von hier abholen wollen, finden sie den Platz leer. Sage, ob das nicht besser ist?«
»Ich habe keine Kinder mehr,« sprach Viola, und sein Gesicht drückte den tiefsten Kummer aus, »das letzte, unsern kleinen Pista, haben wir vor zwei Monaten begraben.«
»Pista!« rief der alte János, »meinen kleinen Pista, das ist entsetzlich!«
»Ihn und seine kleine Schwester,« sprach der Andere mit zitternder Stimme weiter. »Ich stehe kinderlos, und meine arme Susi wird ihre Lieben nicht lange überleben, sie schwindet von Tag zu Tag; die Arme wird es nicht erleben, daß die Blätter fallen, welche die Bäume jetzt treiben.«
Die beiden Männer saßen eine Weile schweigend nebeneinander, Viola in tiefen Gram versunken, der alte János mit thränenden Augen; endlich sprach der Letztere mit bewegter Stimme: »Wahrhaftig, nur Gott weiß es, warum das Schicksal mit manchen Menschen so hart umgeht. Sie sagen, daß wir am Ende alle auf einen Platz kommen; als ob wir von unserm Herrgott, diesem großen Generale, commandirt, nur so hinmarschirten über die Erde in die andere Welt hinein; aber man muß gestehen, daß die in der Arrièregarde manchmal die Geduld verlieren könnten. Die Ersten nehmen Alles für sich, für sie ist der ganze Ruhm, die Zurückbleibenden trifft Hunger und Schläge; ich habe in meinem Leben öfter solche Noth ausgestanden; wenn die Armee retirirt, müssen die Tapfersten zurückbleiben, und in Kriegszeiten bin ich oft so angekommen, wie der arme Mensch auf der Welt; auf die Letzten fielen Hiebe rechts und links, so viel man nur brauchte; aber sieh', eben damals habe ich gelernt, daß man niemals verzweifeln muß. Denn erstens, wenn der Marsch aus ist, lobt und belohnt ein kluger General die Letzten am meisten, und der liebe Herrgott wird das nach diesem Leben gewiß auch thun. Zweitens aber weiß kein Mensch, wie sich das Glück wendet. Deine Frau lebt ja, Gott sei Dank, doch noch, Du kannst noch zehn Kinder haben. Ein solches Kind, wie Dein kleiner Pista war, bekommst Du freilich nicht mehr; so ein liebes Kind giebt es auf der Welt nicht, und wird es noch lange nicht geben, aber Kinder wirst Du haben, und ich sage immer, wer noch ein Kind haben kann, der weiß nicht, was für ein Glück auf ihn wartet; ich sage Dir also nur, Du bist ein Narr, wenn Du Dich den gestrengen Herren in die Hände giebst, dazu hast Du noch immer Zeit.« Viola hatte den Rath des alten Husaren aufmerksam angehört, als aber János, Antwort erwartend, seine Augen auf ihn heftete, schüttelte Jener traurig verneinend das Haupt; endlich antwortete er: »Wenn Du wüßtest, was ich bis jetzt gelitten habe, so würdest Du mir diesen Rath nicht geben; ich soll mich nicht in die Hände meiner Richter geben und soll meiner Bestrafung noch länger ausweichen, das riethest Du mir, nicht wahr? Aber glaubst Du denn, daß Das, was ich jetzt leide, nicht hundertmal schwerer ist, als jede Strafe, die sie über mich verhängen können? Sie werden mich zum Tode verurtheilen, ich habe ihn verdient; aber was ist der Tod, selbst der schmerzlichste, gegen die unausgesetzte Furcht, in der ich lebe, seit ich hier bin? ich bin auf zwanzig Meilen vom Hause weg, aber was sind zwanzig Meilen? wie Du jetzt, so hätte mich auch ein Anderer aufsuchen oder zufällig erkennen können. Wie oft habe ich mich gleich dem feigsten Geschöpfe im dichtesten Walde versteckt, wenn ich Jemanden aus der Ferne kommen sah; wenn mich mein Herr oder sonst Jemand um mein früheres Leben befragte, wie oft fühlte ich da mein Blut in das Gesicht schießen, und ich zitterte, wie der Uebelthäter vor seinem Richter, wenn ich Fragen beantwortete, die zufällig und ohne besonderen Zweck an mich gerichtet wurden. So leben, János, ist kein Leben; wenn sie mich aufhängen, befreien sie mich nur von Höllenqualen.«
»Aufhängen werden sie Dich nicht,« sprach János dazwischen, »der Vicegespan hat sich Gott sei Dank mit seiner Frau zerkriegt und ist seitdem ein ganz anderer Mensch geworden; er hat versprochen, daß Dir auf keinen Fall etwas am Leben geschieht, und er wird gewiß sein Wort halten. Das heißt, wenn er kann,« setzte er hinzu, »denn wer weiß, ob er stärker ist als die Uebrigen, und ich sage immer, es ist viel besser, wenn –«
»Rede von Dem nicht weiter,« unterbrach Viola den Sprechenden, »ich weiß, Deine Absicht ist gut, aber ich bin entschlossen. Glaube mir, seit meine Kinder gestorben sind, habe ich öfter darüber nachgedacht, ob es denn nicht besser wäre, mich freiwillig den Gerichten zu übergeben? Und wenn Du auch nicht gekommen wärst, und ich Tengelyi's Unglück auch nicht wüßte, würde ich mich den Gerichten vielleicht selbst überliefert haben, um nur die Qualen los zu werden, in denen ich jetzt lebe. Bevor mein kleiner Pista starb – das arme Kind war so durch Blattern entstellt, daß Du ihn gar nicht erkannt hättest, nur seine süße, sanfte Stimme war ihm geblieben, mir ist, als hörte ich sie noch – ja was habe ich denn sagen wollen?« und dabei wischte er sich die Thränen aus den Augen, »wenn ich an meinen Sohn denke, vergesse ich Alles; richtig, bevor mein kleiner Pista starb, hat er mich während der ganzen Krankheit immer nur gebeten, daß ich kein Räuber mehr sein soll. »»Nicht wahr, der Vater wird kein Räuber mehr sein?«« das war das letzte Wort, was ich von ihm gehört habe; und kann ich diese Bitte erfüllen, wenn ich hier bleibe? Wenn zu diesem Hause der niedrigste Verbrecher kommt, mit dem ich einst als Räuber zusammengetroffen bin, und wenn er mich erkennt, vermag er nicht blos dadurch, daß er mein Geheimniß weiß, mich zu jedem Betrug, ja zu den abscheulichsten Verbrechen zu zwingen? Sobald er meinen Namen weiß, bin ich sein Diener, und meine Ehrlichkeit hängt von dem Zufalle ab, der mich allein vor einer solchen Begegnung schützen kann.«
János fühlte die Wahrheit dieser Worte und seufzte.
»Schau, wer seine Hände in Blut getaucht hat, der muß sterben,« so fuhr Viola fort, »ich habe darüber oft nachgedacht und sehe, daß es am Ende das Beste ist – nach einer solchen That hat der Mensch ohnedies keine Ruhe mehr. Wenn die Richter mein Urtheil werden gesprochen haben, werde ich ruhig sein, ohne das läßt mich mein Gewissen nicht ruhen. Freilich habe ich nie den Vorsatz gehabt, Jemand zu ermorden; nicht ich, das Schicksal wollte es, daß ich ein Mörder werde; aber dann hat das Schicksal auch gewollt, daß ich für meine Missethat büße, und was hilft es, wenn ich dagegen kämpfe?«
»Ja, aber was geschieht mit Susi?« sprach János tief aufseufzend.
Viola schwieg eine Weile; auf seinem Gesichte war der Ausdruck des tiefsten Schmerzes zu lesen, krampfhaft umklammerten die Finger den Stab, den er in der Hand hielt, seine Brust war gespannt, als ob sie zerspringen wollte. »Was Susi machen wird, wenn ich todt bin?« sprach er endlich mit bebender Stimme, »wenn ich daran denke, verläßt mich der Muth; aber was kann ich thun? Wenn ich im Stande wäre, das Leid der armen Frau zu lindern, wenn sie nicht so unglücklich wäre, daß sie nach meiner vollkommensten Ueberzeugung durch meinen Tod nicht unglücklicher werden kann, ja dann gäbe es keine Pein auf der Welt, die ich nicht ertrüge. Wenn mich auch Gewissensbisse marterten, wenn ich alle Tage meines Lebens in Zittern und Beben zubringen müßte, wenn ich wüßte, daß ich ewig verdammt werde, ich würde dies Alles ohne Klage tragen, wenn ich dabei sehen könnte, daß mein Leben zum Troste Susi's gereicht; aber das Herz dieser armen Frau ist bis zum Rande voll mit Leid, dort hat kein neuer Schmerz, kein Trost mehr Platz, ja meine Gegenwart beraubt sie der einzigen Erleichterung, frei weinen zu können. Statt sie zu trösten, erschwere ich ihr Leid, denn sie will es vor mir verbergen, und darum drückt es ihre Seele noch mehr. Nein, nein!« fuhr er leidenschaftlich fort, »das kann ich nicht länger ertragen; was geschehen muß, soll gleich geschehen; wenn ich todt bin, erbarmt sich ihrer vielleicht Gott, und nimmt sie weg von einer Welt, wo kein Ruheplatz ist für Die, die Viola geliebt haben; und wenn auch nicht, hat sie doch, wenn ich hingerichtet bin, von Niemandem mehr etwas zu fürchten, und gute Menschen werden vielleicht für sie Sorge tragen. Binde meine Hände, János, und führe mich gerade nach Porvár, das ist das Beste, was Du für mich thun kannst.«
János entnahm aus diesen Worten, daß Viola's Vorsatz unerschütterlich sei, und er sprach um so weniger dagegen, je mehr er das Gewicht der Gründe fühlte, die Viola vorgebracht. »Am Ende hast Du vielleicht Recht,« sprach er nach kurzem Nachdenken, »aufhängen werden sie Dich nicht, darauf wollte ich wetten, und für Dich ist es vielleicht auch besser, wenn Du Deine Strafe überstehst, Du bist wenigstens nachher ein freier Mensch. Aber was das Binden anbelangt, das wäre eine Dummheit. Wenn Du aus freiem Willen Dich überlieferst, so werden sie Dir es als Verdienst anrechnen und Deine Strafe wird um so geringer ausfallen. Gott behüte, daß ich Dich hinführe – bis an das Ende meines Lebens würde ich mich schämen, wenn es hieße: ›Der alte János hat Viola gefangen.‹«
»Nun wohl,« sprach Viola nach kurzem Nachdenken, »wenn es Dir lieber ist, so gehe voraus und sage Herrn Tengelyi, er möge ruhig sein, längstens in vier Tagen bin ich in Porvár. Mein Bojtár Bojtár – ein Gehilfe des Gulyás. kommt bald zurück; ihm kann ich das Vieh vertrauen, und kann auch mit Susi noch sprechen, damit sie nicht erschrickt, wenn ich plötzlich fortreite; ich werde mich ohnedies sehr schwer trennen.«
Der alte János erwiderte: »Wenn Du schon entschlossen bist, so ist es doch auf jeden Fall besser, wenn Du wenigstens jetzt von Deinem Vorsatz nicht mit Susi sprichst. Später, wenn Du schon in Porvár bist, hole ich selbst Deine Frau ab, und wenn ihr der Vicegespan sagt, daß Dein Leben nicht gefährdet ist, wird auch sie ruhiger werden. Sei unbesorgt,« so fuhr er fort und klopfte Viola auf die Schulter, »am Ende wird noch Alles gut; auf ein paar Jahre wirst Du eingesperrt, und dann kehrst Du wieder als rechtschaffener Mensch nach Tiszarét zurück. Aber ich muß fort. Susi könnte nach Hause kommen, und wenn sie mich bei Dir sieht, und besonders in dieser Kleidung, erschrickt sie gewiß. Gott sei mit Dir.« Und somit ging der Husar dem Hause zu, wo er sein Roß gelassen hatte.
Nach wenig Schritten aber kehrte er plötzlich um und kam wieder zurück. Viola stand noch auf dem alten Platze, da sprach János: »Ich habe vergessen, Dir zu sagen, daß Du nicht kommen mußt, wenn Du Deinen Vorsatz etwa bereuest; bis Du nicht selbst kommst, wird Niemand erfahren, wo Deine Tanya liegt. Sie werden höchstens sagen, daß der alte János ein größerer Esel ist, als man geglaubt, weil er Viola nicht aufgefunden hat. Nun, und das macht mir keinen Kummer. Gott sei mit Dir.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, ging János wieder weg, und bald darauf vernahm Viola den Hufschlag eines trabendes Rosses; es war das des János, der die Tanya schnell verließ.
»So kann mein Leben doch noch zu etwas nutz sein,« sprach Viola zu sich selbst, »ich habe meinem Wohlthäter meinen Dank bezeigen wollen, und habe ihn nur in neues Unglück gebracht; daraus werde ich ihn retten. Aber was wird aus meiner Susi?« In schmerzliche Gedanken versunken, den Kopf in die Hand gestützt, saß er noch immer auf dem alten Orte, als seine Frau nach Hause kam, ihn ansprach und aus seinen tiefen Träumen weckte. Es schien ihr, als ob ihr Mann geweint habe, aber die arme Frau kam von dem Grabe ihres Kindes, und sie fand nichts Außerordentliches in diesen Thränen.