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VIII.

Ich bin in meiner Erzählung bis zum Monat März gekommen, und Diejenigen, die zu Porvár oder in einem anderen Comitats-Hauptorte gewesen sind, wissen, daß in diesem Zeitabschnitte in den Gefängnissen die größte Sterblichkeit herrscht. Ich weiß keine Ursache, warum das Jahr, in welches unsere Erzählung fällt, hierin von anderen verschieden sein sollte. Nachdem die Kerker in den Wintermonaten, wo Jeder eine wärmere Wohnung sucht, auch heuer eben so naß und unrein waren wie sonst, so ist es ganz natürlich, wenn auch jetzt, da ich meine Leser in Folge meiner Erzählung wieder in die Kerker führe, sie daselbst den jährlich herrschenden Typhus vorfinden. In Porvár fand dies Niemand anstößig, eben so wenig, als ob z. B. gemeldet würde, daß in der Casse irgend eines Unternehmers Schwindsucht eingetreten ist, denn Alles hat seine natürlichen Krankheiten, der Kerker so gut wie die Cassen, und das ganze Comitat – die Aerzte mitgerechnet – betrachten mit wahrhaft stoischer Ruhe den Gefängnißsarg, welcher manchen Tag zwei-, auch dreimal immer mit einem neuen Todten aus dem Comitatshause hinausgetragen wurde.

Ein großer Fehler meines Romanes ist, daß ich zu viel vernünftle; manchmal bedauere ich beinahe meine Leser. Niemand weiß besser als ich, wie ärgerlich es ist, wenn der Schriftsteller, den Faden der Erzählung verlassend, jeden Augenblick Betrachtungen anstellt.

Ich ging einmal mit einem meiner Bekannten in den Bergen spazieren; er war ein guter braver Mann, der Alles, was er von den Naturwissenschaften wußte, bequem in ein paar Stunden mittheilen konnte, er gehörte also zu jener Gattung Gelehrten, die, wenn Du mit ihnen in Berührung kommst, Dich auch nicht mit dem kleinsten Theil ihres Wissens verschonen, und die, weil sie ihr Wissen, wie im Sommer die Kleider, nicht des eigenen Nutzens wegen, sondern nur darum angeschafft haben, damit sie anständig erscheinen können, die Gelegenheiten nie versäumen, bei Ungelehrten Staunen zu erregen. Dieser verdienstreiche Mann also, mit dem ich ausgegangen war, einzig um von einem der höchsten Gipfel den Sonnenuntergang zu betrachten, blieb bei jedem zehnten Schritte stehen, riß eine Pflanze ab und sprach von Botanik, oder hob einen Stein auf und redete von Mineralogie. In meinem ganzen Leben hatte ich mich nie so geärgert – und siehe, ein paar Jahre später thue ich dasselbe meinen Lesern. Sie folgen mir als Führer, damit ich sie dorthin geleite, wo sie Akos und Vilma als glückliches Paar am Altar sehen können, und ich halte sie bei jedem Schritte auf und langweile sie mit Erörterungen. Aber wer kann dafür! Jeder Mensch hat seine Fehler – Vándory glaubt dies auch von den guten Eigenschaften – wir könnten auch vielleicht sagen, daß Jeder in den verschiedenen Lebensabschnitten durch alle Gattungen Fehler durchgegangen ist, und er hat kaum an seinen Mitmenschen einen Fehler gerügt, den er nicht manchmal selbst begangen hat; der meine ist gegenwärtig das zu viele Räsonniren – ich kann nicht helfen! Ich weiß, daß ich viele Dinge sage, die nur dann interessant sein könnten, wenn das Buch übersetzt würde, denn bei uns kennt sie Jeder, und deshalb gehören sie in keinen Roman; ich weiß auch, daß die Menschen die Wahrheit wie das Gold dann am meisten schätzen, wenn es weich genug ist und nach allen Seiten gedreht werden kann, und hierauf war ich nicht immer hinreichend bedacht; ich hätte mehr Liebesscenen schreiben sollen, aus denen meine jungen Leser wie aus einem neuen Knigge lernen könnten, wie sie sich in gewissen Umständen zu benehmen haben; einige großherzige Handlungen hätten den Werth meiner Arbeit auch erhöht, und ein Capitel, in welchem meine Personen die edlen Empfindungen herumgeworfen und ausgestreut hätten, wie in den Comödien die englischen Lords die Geldbeutel, das würde mehr Wirkung gethan haben, als meine trockenen alltäglichen Erzählungen; denn es ist bekannt, daß der Roman bei Männern mit Schnurrbärten und Frauen in Hauben nur das Surrogat der Kindermärchen ist, welches dann am meisten gefällt, wenn Das, was darin erzählt wird, nirgends auf der ganzen Welt anzutreffen ist. Dies Alles weiß ich und habe es mir hundertmal selbst gesagt, ich habe mir hundertmal vorgenommen, mich zu bessern, es ist mir aber nie gelungen. Ich glaube, Archimedes hat gesagt, daß er eine neue Welt zu bauen im Stande wäre, wenn man ihm nur einen Punkt gebe, der außer der Welt liegt, in welcher er lebt – ich besitze keinen solchen Punkt: wer kann von mir eine andere Welt begehren als die, in welcher ich lebe, die alle meine Gedanken und Empfindungen fesselt, außer welcher sich nicht einmal meine Einbildungskraft bewegen kann? Wenn Danton mich gefragt hätte, ob wir unser Vaterland an den Schuhsohlen forttragen könnten, würde ich geantwortet haben: ja. Wir tragen unser Vaterland an unseren Schuhsohlen, ja noch mehr, wenn unsere Schuhe beim Weggehen keine Sohle hatten oder wir selbst bloßfüßig den Weg antraten, tragen wir es immer mit uns, selbst in das Reich der Träume, in das freie Gebiet der Dichtung; ich wenigstens bin nicht Dichter genug, um selbst dann, wenn ich mein Werk schreibe, die traurige Wirklichkeit zu vergessen, und wenn meine Leser mir diese Schwäche nicht vergeben, so kann ich nichts Anderes thun, als meine Fehler bereuen und Besserung versprechen.

Ich habe soeben von den täglichen zahlreichen Sterbefällen im Kerker von Porvár gesprochen; hat es je eine schönere Gelegenheit gegeben, um von unseren Medicinal-Einrichtungen zu reden? Der natürliche Ideengang würde uns dahin leiten, und ich könnte Daten anführen – eines schöner als das andere – woraus die Leser vielleicht mit Erstaunen ersehen würden, auf welche außerordentliche Weise wir die Heilung unserer Kranken bewerkstelligen. Ich könnte unsere ganze medicinische Polizei darstellen, und Jeder würde überzeugt werden, daß unser glückliches Land von dieser Gattung Polizei, wie überhaupt von jeder bekannten Gattung Polizei, frei ist; aber ich bekämpfe meine Neigung und sage nichts; ist dies nicht eine große Selbstverleugnung? Besonders da wir in der Person des Taksonyer Comitatsphysikus einen Mann kennen lernen könnten, der in Bezug auf die Aufrechthaltung der medicinischen Polizei in seinem Leben schon oft bewiesen hat, daß nichts auf der Welt mit weniger Ungelegenheit, ja zuweilen auch mit mehr Nutzen verbunden sei, als wenn die höheren in dieser Beziehung erlassenen Befehle nach ihrem buchstäblichen Inhalte befolgt werden.

Vor ein paar Jahren herrschte im größten Theile des Landes eine Viehseuche. In Folge höherer Verordnung wurde auch das Taksonyer Comitat abgesperrt und das Eintreiben des fremden Viehes verboten. Was geschah? Einer der Oberstuhlrichter kaufte eben damals Vieh im Nachbarcomitate und will es heimtreiben; der Commissär und die Wachen an den Grenzen des Comitats wollen das Vieh nicht passiren lassen, und der Oberstuhlrichter ist in der unangenehmen Lage, daß er, der sonst seine Ochsen auch auf des Nachbars Feldern weiden ließ, nicht einmal die Erlaubniß erlangen kann, sie auf seine eigene Wiese treiben zu dürfen. Aber dieser die Heiligkeit des Besitzthums verletzende Zustand währte nicht lange. Der Comitatsphysikus bemerkte nämlich, daß in dem höheren Orts erlassenen Befehle nur verboten sei, fremdes Vieh in das Comitat eintreiben zu lassen, und da er überzeugt war, daß Ochsen, welche einer der bedeutendsten Comitatsbeamten gekauft, vernünftigerweise nicht für fremd gehalten werden können, ertheilte er allsobald die Erlaubniß, sie einpassiren zu lassen. Bei einer anderen Gelegenheit, und vielleicht in Folge des obenerwähnten Ereignisses – denn es wurde von der königlich ungarischen Statthalterei gerügt – stellte der Comitatsphysikus vierzehn Tage vor dem Porvárer Markte in der General-Congregation den Antrag, daß, nachdem schon seit vielen Jahren die Viehseuche immer in diesem Monate ausgebrochen sei, das Comitat bis zum Ende des Marktes dem fremden Vieh abgesperrt werde. In den Nachbarcomitaten war zwar damals keine Viehseuche, aber so viel ist gewiß, daß die Taksonyer Grundherren ihre Ochsen nie um höhere Preise verkauft hatten, als damals zu Porvár, und der Comitatsphysikus wurde allgemein belobt.

Ich könnte noch viele ähnliche Fälle anführen, durch welche sich der Comitatsphysikus das allgemeine Wohlwollen erwarb; ich will mich aber fortan nur auf das Erzählen des Allernothwendigsten beschränken, und nach den Regeln der Kritik gehört hierzu die Motivirung der Charakteristik, das heißt im gegenwärtigen Fall die Erklärung, warum unser Comitatsphysikus gerade Physikus des Taksonyer Comitats geworden ist.

Die ungarischen Schriftsteller wählen sehr oft das Ausland zum Schauplatz ihrer Dichtungen; die Ursache mag vielleicht darin liegen, daß wir in Ungarn kaum einen Gegenstand finden, der nicht mit constitutionellen Fragen in Verbindung steht, und hierin liegt eigentlich die Schwierigkeit, ungarische Stoffe zu behandeln. Die Politik ist unser tägliches Brot, von dem Jeder lebt, und Mancher, der keine anderen Nahrungsmittel hat, verdirbt sich auch den Magen damit; es giebt keinen Gegenstand, zu dessen Verständniß nicht die Staatswissenschaft nöthig wäre, und ich kann zum Beispiel nicht von meinem Comitatsphysikus reden, ohne die constitutionelle Stellung des Taksonyer Comitats zu erwähnen. Jedermann weiß, daß die Frage: wer den Comitatsphysikus zu ernennen habe, in den Comitaten unter die Controversfragen gehört. Glaubt vielleicht Jemand, die Frage sei: ob der Comitatsphysikus von der medicinischen Facultät an der Universität, oder vom Landesprotomedicus zu ernennen sei? Gott bewahre! In Folge der Autonomie unserer Comitate kann nur die Frage sein zwischen der Ernennung durch den Obergespan und der Wahl bei der Restauration, und die Entscheidung dieser Frage ist um schwieriger, je gewisser es ist, daß es sehr viele an sich vernünftige Menschen auf der Welt geben kann, die für das Eine eben so wenig Gründe zu finden im Stande sind, wie für das Andere.

Als der Vorgänger des gegenwärtigen Comitatsphysikus starb – er war in der ganzen Gegend berühmt, da er auf Jagden auch kleine Vögel mit Hasenschrot schoß und allen Patienten dieselben Pillen eingab, wobei das Resultat immer dasselbe war, das heißt: die minderen kamen davon – als, wie gesagt, dieser Mann starb, kam natürlicherweise die Ernennungsfrage wieder auf das Tapet. Der Obergespan versprach die Stelle allsobald einem sehr ausgezeichneten jungen Manne, dessen in jeder Beziehung gute conservative Grundsätze ihm bekannt waren, der ein Diplom aufzuweisen hatte, fünf Jahre in einem Herrschaftshause Erzieher gewesen und sich während dieser Zeit bemerkbar gemacht, in einer Zeitschrift ein paar Gedichte und eine Charade mitgetheilt hatte und überdies römisch-katholisch war. Aber die Stände des Taksonyer Comitats ernannten – in Folge ihres Wahlrechtes – einen Andern. Man muß zur Steuer der Wahrheit bekennen, daß ihn Niemand im Comitat kannte, aber es hieß, daß er französisch und englisch spreche, die Cultur der Seidenwürmer verstehe, mehrerer ausländischer öconomischen Gesellschaften Ehrenmitglied sei, nicht nur die Medicin, sondern zu Patak Sáros-Patak, sprich Schárosch-Patak, ein Ort in Ungarn, wo eine calvinische Universität besteht. auch das Jus absolvirt habe, und überdies ein geborner Calviner sei. Natürlich zerfiel unter diesen Umständen das Comitat in zwei Parteien, und es verfloß mehr als ein Jahr, bis der Zwist zwischen dem Obergespan und den Ständen ausgeglichen werden konnte, was nur dadurch geschah, daß sowohl der Candidat des Obergespans als auch jener der Stände zurücktrat und die streitenden Parteien sich in der Person eines Dritten – des jetzigen Comitatsphysikus – vereinigten. Als Lutheraner kam er seines Glaubens wegen weder mit dem Obergespan, der keinen Calviner wollte, noch mit den Ständen, die durchaus keinen Katholiken wollten, in Conflict. Nachdem er ferner weder conservative, noch sonstige Grundsätze hatte, stand der neue Comitatsphysikus jeder Partei gleich nahe: er hatte nie Jemand erzogen, er war des Französischen und Englischen unkundig, verstand nichts von der Seidencultur, war auch nicht Mitglied irgend einer ausländischen oder inländischen Gesellschaft, und somit war er ganz geschaffen, die Stimmen der entgegengesetzten Parteien in seiner Person zu vereinigen, und so als Friedensengel des Taksonyer Comitats aufzutreten.

Wie die Leser sehen, konnte der Comitatsphysikus sich rühmen, schon durch sein erstes Auftreten das Comitat von seiner allgemeinen und gefährlichsten Krankheit – der inneren Zerrissenheit – geheilt zu haben. Es mag wohl Menschen gegeben haben, die das Verdienst des glücklichen Erfolges ihm nicht ganz zuschrieben, aber die Gebildeten wissen, daß der Comitatsphysikus bei der Heilung der erwähnten Comitatskrankheit wenigstens eben so viel Verdienst hatte als viele seiner berühmtesten Collegen bei ihren gepriesensten Heilungen, und sein erstes Auftreten allein hätte hingereicht, seinen Ruf als Heilkünstler zu begründen, wenn in der jetzigen Welt eine einzige That – und sei sie noch so groß – hinreichend wäre, uns berühmt zu machen. In der Geschichte vermögen wir uns durch eine That berühmt zu machen, wie dies Mucius Scävola, Horatius Cocles, Curtius und unzählige andere Beispiele beweisen, aber im Leben ist dies nicht genug. Die großen Männer der Vergangenheit können ruhig auf den Piedestalen stehen, auf die sie die Zeit erhoben hat, und Brutus bleibt für immer berühmt, auch wenn er seinen Dolch nie mehr zückt; aber wer noch unter den Menschen lebt, kann die stets bewegte Menge nur an sich erinnern, wenn er sich unausgesetzt hervordrängt und Lärm schlägt.

Wer mit einigen literarischen Celebritäten bekannt ist, wird die Richtigkeit meiner Bemerkung gleich einsehen. Glaubt vielleicht Jemand, daß ein Werk nöthig sei, das den Stempel des Genies trägt, um in der Literatur einen Namen zu erlangen? Gott bewahre! Was beleuchtet unsere Gassen? Ein Stern oder die Oellampe? Jener Reine, in unwandelbarer ewiger Schönheit sendet er uns seine Strahlen zu. Er steht zu hoch; die Oellampe steht uns näher, wir sehen ihren Docht, ihr Licht, ja sogar ihren Rauch, und es vergeht kein Tag, an dem sie nicht frisch angezündet wird. Der Stern wird vergessen, die Lampe hingegen erinnert uns selbst durch ihren Geruch an ihr Dasein, wenn sie nur, wie gesagt, täglich angezündet wird – hierin liegt das ganze Geheimniß, wie man zu literarischer Berühmtheit gelangt. Wenn die Leser sich nach diesem großen Schatze sehnen und meine Belehrung befolgen, erlangen sie ihn gewiß.

Welcher immer meiner Leser schreibe einige Gedichtchen, gebe jedes derselben in einen anderen Almanach oder eine Zeitschrift, damit sein Name öfter erwähnt werde, über jedes dieser kleinen Gedichte schreibe einer seiner Freunde in verschiedenen Zeitschriften eine günstige oder wenigstens eine solche Recension, in welcher einige Fehler stark gerügt, aber als Riesenverirrungen der Genialität dargestellt werden; derlei Kritiken geben zu Antikritiken Anlaß, auf diese muß wieder geantwortet werden, es giebt einen Scandal, und der die paar Verschen gemacht, ist ein berühmter Mann. Und nun ist nur Weniges mehr nöthig, seinen Namen aufrecht zu erhalten; eine neue Anzeige seiner Werke, eine kurze Recension, ein kleiner literarischer Scandal oder so etwas dergleichen – wer einmal auf den schwankenden Wellen des Rufes schwimmt, kann sich mit leichter Mühe auf der Höhe erhalten, er muß nur, wie gesagt, sich oft nennen lassen, wie immer, durch wen immer, wann immer. Ein Maulwurf, der seinen Gang auf einem vielfach betretenen Wege gräbt, ist sicher, daß er die Aufmerksamkeit des Wandlers mehr in Anspruch nimmt, als Achilles mit seinem großen, aber fernen Grabhügel.

Zwischen der Beschäftigung des Schriftstellers und der des Arztes besteht einige Aehnlichkeit – und daher kommt es, daß Aerzte, die im Kreise ihrer Beschäftigung keine Anerkennung finden, sich auf die Literatur werfen – der Eine beschäftigt sich, die materiellen, der Andere, die geistigen Gebrechen zu heben, Beide meist mit gleichem Erfolge; aber um Ruf zu erlangen, kann der Arzt kaum einen besseren Weg befolgen, als der ist, den ich meinen nach literarischem Ruhm sich sehnenden Lesern vorgeschlagen habe: Von sich reden machen. – Dies ist die Art und Weise, durch welche sich Aerzte Ruf erwerben können, und diesen Theil seines Berufes verstand Niemand besser, als der Taksonyer Comitatsphysikus. Er hatte jährlich wenigstens zehn lebensgefährliche Kranke, die alle geheilt wurden; jeder Genesende hört es gern, daß er in Gefahr geschwebt, und der Arzt braucht daher kaum etwas Anderes, als daß ihm der Patient nicht widerspreche, wenn er von dessen wundersamer Errettung spricht. Jährlich wurde ihm in den vaterländischen und einigen ausländischen Blättern öffentlicher Dank abgestattet – und derlei gedruckter Dank wirkte natürlicherweise um so mehr, da er meistens von ganz unbekannten Menschen ausging, und somit Jedermann sehen konnte, daß derselbe weder durch den gepriesenen Arzt selbst, noch durch irgend einen seiner Freunde in die Zeitung eingerückt worden sei. In der Verherrlichung seines Namens vereinigten sich Homöopathen, Allopathen, Hydropathen, ja selbst Jene, die den sichersten medicinischen Leitfaden in den Rathschlägen der Somnambulen suchen. Der Comitatsphysikus behandelte jeden Patienten nach dem System, welches der Patient wählte, und dadurch gelangte er nicht nur in jene angenehme Stellung, daß die Patienten, wenn ihnen Unheil widerfuhr, nur sich selbst die Schuld zuschreiben mußten, sondern er konnte auch immer auf Vertheidiger rechnen. Wenn der Kranke nach einem Aderlaß starb, schoben die Homöopathen die Schuld einstimmig auf den Patienten, der sich durchaus nur allopathisch behandeln lassen wollte, während dort, wo der Aderlaß unterlassen wurde, die Allopathen alles Unglück nur dem schädlichen Einflusse der Homöopathie zuschrieben. Wenn wir nun zu diesen schönen Eigenschaften des Comitatsphysikus noch hinzurechnen, daß er jedem hypochondrischen alten Hagestolz das Heiraten anrieth, Fräuleins nie das Tanzen verbot, jede leidende Frau, die sich bei ihm Raths erholte, den Sommer in ein Bad schickte, den Männern, die er homöopathisch behandelte, das Tabakrauchen, den Allopathen ihre Lieblingsspeisen, den Hydropathen Wein erlaubte – so kann sich Niemand verwundern, daß dieser verständige Mann nicht nur in seinem, sondern auch in den benachbarten Comitaten in großem Ruf und Ehren stand.

Der Probirstein eines Arztes ist eine ansteckende Krankheit. Wenn die Krankheit den Arzt, der sie bekämpft, hundertfältig mit dem Tode bedroht, wenn er, seine Pflicht erfüllend, sein Leben jeden Augenblick einer Gefahr aussetzt, deren Größe Niemand besser erkennt, als eben er, dann ist der Augenblick gekommen, wo der Arzt ein Beispiel jenes großartigen Muthes, jener Selbstaufopferung geben kann, zu der uns nur die Menschenliebe begeistert. – Ich kenne solche Männer. – Der Typhus, der jetzt in den Kerkern herrschte, bot dem Taksonyer Comitatsphysikus eine solche Gelegenheit, und man muß gestehen, daß er auch jetzt seinem Charakter treu blieb, und daß er jene Hauptpflicht des Comitatsphysikus, die Verbreitung der ansteckenden Krankheit zu hindern, pünktlich erfüllte, und deshalb, damit die Krankheit nicht durch ihn, der täglich mit den ersten Familien von Porvár verkehrte, Anderen mitgetheilt werde, seine Patienten sich selbst überließ – unstreitig eine große Selbstaufopferung, denn welcher Arzt freut sich nicht, wenn er viele Kranke zu behandeln hat? Hierdurch wurde noch ein anderer Zweck erreicht, denn da die Kranken der Natur als einzigem Arzt überlassen wurden, stieg auch die Apothekerrechnung nicht hoch, und Niemand konnte den Comitatsphysikus beschuldigen, daß er bei so vielen Kranken, von denen täglich einige starben, diese schlecht behandelt habe, und so wurden seinem empfindsamen Herzen viele schmerzhafte Eindrücke erspart.

Die Gefängnisse von Porvár – wie die Leser wissen – wurden von Jenen, für die sie erbaut wurden, nicht als übermäßig unangenehme Wohnungen betrachtet. Glücklich gestimmte Gesellschaft, Wein, Branntwein, Karten, Gesang und Gespräch ersetzten, besonders im Winter, den Mangel an Freiheit dergestalt, daß sich unter den adeligen und nichtadeligen Bewohnern des Comitats mehrere fanden, die im Herbst sich so lange abmühten, bis sie sich in diesem Theile des Comitatshauses eine Wohnung erwirkten. – Wer diesen Ort jetzt sah, schauderte.

Die Gefängnisse hatten zwar ein eigenes Spital; die Stände wollten sich den höheren Befehlen nicht widersetzen, und deshalb wurden in einem Zimmer für die Kranken sechs Betten aufgestellt. Obschon gewöhnlich nur fünfhundert Gefangene in den Kerkern saßen, war dieses Spital doch gewöhnlich voll, und es läßt sich denken, daß bei ansteckenden Krankheiten, wie jetzt eine herrschte, die Absonderung der Kranken bei einem solchen Spitale unmöglich war, und jeder dort blieb, wo ihn die Krankheit ereilte. Es gab kein Gefängniß, dessen Bewohner seit einem Monat der Tod nicht vermindert hätte. Aus den obern Gefängnissen, wo dreißig, ja sogar achtzig Gefangene beisammen waren, wurden an manchem Morgen zwei bis drei Leichen hinausgetragen. Unten, wo die Krankheit noch heftiger wüthete, starben – einige Unglückliche abgerechnet – die Bewohner einzelner Kammern ganz aus.

Unter den Gefangenen herrschte dumpfe Verzweiflung. Die Muthigsten erfüllte der Anblick des Todes mit Schaudern: des Todes, der von allen Seiten schreckend hervortrat und selbst die Haiduken, die der Dienst täglich ein paarmal in die Kerker führte, verrichteten ihre Geschäfte mit der größtmöglichsten Schnelle und sprachen mitleidsvoll, oft mit Thränen, von Dem, was sie gesehen. – Die Kerker, aus denen sonst froher Lärm und Gejauchze erschallte, waren jetzt in tiefes Schweigen versunken. Durch die Fenster, die von der Gasse aus das Licht hinableiten, klangen jetzt Abends geistliche Lieder, und der trübe Chor, der wie aus dem Innern der Erde erscholl, tönte langsam und traurig, wie der Seufzer so vieler Unglücklichen, und erfüllte die Hörer mit Schaudern. Des Nachts, wenn Alles still war, vernahm die Wache zuweilen das Gebet der Gefangenen, und wenn die schwache Stimme des Vorbetenden und das leise Gemurmel Jener, die das Vaterunser nachsprachen, verhallt war, herrschte wieder Schweigen wie im Grabe. Die Gefangenen sprachen selten untereinander, und auch dann nur flüsternd. Wenn die Haiduken des Morgens die Gefängnisse betraten, um Jene, die noch nicht von der Krankheit ergriffen waren, auf eine halbe Stunde in den Hof zu lassen, fanden sie die Armen an das Eisengitter gelehnt, und Jeder flehte, daß nur sein Kerker baldigst geöffnet werde, damit er nur keinen einzigen jener kostbaren Augenblicke verliere, die er unter Gottes freiem Himmel zubringen dürfe. Es gab Fälle, wo Jene, die von der Krankheit schon ergriffen waren, unfähig, sich auf den Knien zu erhalten, auf ihre Gefährten gestützt, mit der letzten Anstrengung sich über die Stufen hinaufschleppten, um nur noch einmal die erfrischende Luft des Frühlings in vollen Zügen einathmen zu können. Die Untenbleibenden, deren Denkkraft die Krankheit noch nicht verwirrt hatte, die aber ihrer Schwäche wegen an diesem Glücke nicht theilnehmen konnten, schauten ihren glücklicheren Gesellen nach, während manchmal ein paar der Stärkeren zurückkehrten, um noch einige Leidensgefährten an das Tageslicht zu geleiten.

Im ersten Kerker, gleich neben der Stiege, waren mit vielen Andern auch zwei Brüder eingesperrt; Beide Hirten, rechtschaffener Eltern Kinder, die, als sie eines größtentheils aus Muthwillen begangenen Verbrechens wegen zu einjährigem Kerker verurtheilt worden waren, sich als Gnade ausgebeten hatten, daß man sie zusammen in einen Kerker sperre. Einer der beiden Brüder, der jüngere, noch halb ein Kind, erkrankte gleich in den ersten Wochen, und nie hat eine Mutter ihr Kind sorglicher gepflegt, als jetzt der Unglückliche durch seinen Bruder gepflegt wurde. Letzterer hatte seinen Bruder zu dem Vergehen verlockt, wegen dessen sie jetzt im Kerker saßen, und nun sollte er den Bruder sterben sehen, dessen Mörder er unwillkürlich geworden war? Im Anbeginn der Krankheit flehte er jeden Haiduken um des Himmels willen an, für den Bruder einen Arzt zu rufen, oder ihn aus dem Kerker zu entlassen. Er, als der Aeltere und Strafwürdigere, wolle die Strafe für den Bruder aushalten. »Sie mögen mich zwei Jahre hier behalten, wenn es sein muß, mein ganzes Leben über, nur den armen Jungen sollen sie auslassen; er ist unschuldig, ich habe ihn verlockt,« so flehte er mit gefalteten Händen den Haidukencorporal an, und die Augen dieses unempfindlichen Mannes füllten sich manchmal mit Thränen, als er auf diese Bitten antworten mußte, daß er denselben nicht willfahren könne, nachdem das hochlöbliche Comitat beschlossen, so lange die Krankheit dauerte, Niemand aus dem Kerker zu entlassen, damit sich die Ansteckung nicht verbreiten könne. Später, als er zur Genesung des Bruders keine Hoffnung mehr hatte, sprach der Unglückliche zu Niemandem. Schweigend saß er dort, jede Bewegung des Kranken beobachtend. Wenn des Morgens das Eisengitter aufgeschlossen wurde und die Gefangenen in den Hof durften, nahm er den Armen auf die Schultern, trug ihn hinaus und setzte sich wieder an seine Seite; das Haupt des Leidenden legte er wie bei einem Kinde auf seinen Arm, und erwartete schweigend den Ablauf der halben Stunde, dann trug er ihn wieder in den Kerker. »Warum schleppst Du ihn mit Dir?« so sprach einmal ein Haiduk zu ihm. »Siehst Du nicht, daß er todt ist?« Entsetzt schaute der Gefangene den Bruder an, der unbeweglich neben ihm lag. Er legte die Lippen an seinen Mund, und fühlte keinen Athem; er legte die Hand auf das Herz, es schlug nicht mehr; er schaute ihm in die Augen, kein Leben schimmerte mehr; die Glieder alle steif, der Körper eiskalt, es blieb kein Zweifel übrig. »Er ist todt!« schrie er mit entsetzlicher Stimme und sank bewußtlos zusammen. Die Gefährten trugen ihn in den Kerker, aber der Unglückliche kam nicht mehr zu sich. Die Krankheit hatte auch ihn ergriffen, und nach wenig Tagen endete der Tod seine Leiden.

Im anstoßenden Kerker erweckte ein anderer Gefangener das Mitleid selbst der Mitgefangenen. Er war auf zehn Jahre verurtheilt und hatte sie im Kerker zugebracht; seine Haare begannen grau zu werden, sein Körper hatte nach so langem Leiden die einstige Kraft verloren, aber er hatte die Strafe überstanden. Bis zu jenem Tag, an dem er gebrochenen Körpers, aber ohne Ketten, in die Welt zurückkehren sollte, waren nur ein paar Wochen mehr übrig. Draußen erwartete ihn Niemand; Niemand wird ihn liebend empfangen, aber er wird frei sein! Dieser eine Gedanke ließ ihn die Länge seiner Leiden vergessen. Als die Krankheit sich im Kerker zu zeigen begann, war seine Seele von ungewöhnlicher Unruhe erfaßt; er wandelte im Kerker auf und nieder, jeden Augenblick fragte er die Mitgefangenen um ihr Befinden, täglich erkundigte er sich bei den Haiduken, ob Niemand gestorben. Mit einem Worte, sein ganzes Betragen zeigte von einer Todesfurcht, die er jetzt zum ersten Male empfand, weil er vielleicht jetzt zum ersten Male eine große Hoffnung vor sich sah. Als nur mehr ein paar Tage bis zu seiner Befreiung übrig waren, ergriff ihn die Krankheit. Seine Verzweiflung war schrecklich zu sehen. Er sagte den Umstehenden, daß er in ein paar Tagen frei sein sollte; er sprach von seinem Geburtsorte und der Zukunft, die er dort als rechtschaffener Mann verleben wolle, und daß er jetzt sterben müsse. Zuweilen betete und weinte er, dann vermaledeite er seine Geburt und fluchte gegen Gott, der ihn diese zehn Jahre über erhalten, nur um ihn nach so vielen überstandenen Leiden im Augenblicke des Freiwerdens des Lebens zu berauben. Zum ersten Male ist ihm das Leben ein Schatz; die Welt, deren Genüsse ihm zehn Jahre verschlossen waren, erscheint ihm zum ersten Male als Paradies; die grüne Wiese, die Andere achtlos betreten, der ruhige Spiegel des Flusses, der ausgedehnte Gesichtskreis, dessen Schönheit er in den Tagen der Freiheit kaum achtete, erfüllten die Seele des Gefangenen mit unendlicher Sehnsucht, sie waren seine Gedanken, seine Träume lange Jahre durch, und jetzt, wo dies Alles sein werden sollte, jetzt, wo die Hoffnung, an der sein Herz zehn Jahre hing, sich verwirklichen sollte, jetzt sollte er sterben? Jetzt, bevor er sich noch einmal frei nennen, bevor er seine Hände von Ketten frei fühlen konnte? Die Krankheit raubte ihm die Besinnung, aber diese quälenden Gedanken behaupteten sich auch in seinen Phantasien, und obschon außer sich, klagte der Unglückliche gegen sein grausames Geschick, das ihn der Freiheit beraube, bis der Tod ihm, wie so Vielen, diese Sehnsucht stillte, denn Viele gab es in diesen Kerkern, die den traurigen Aufenthalt nur mit dem Grabe vertauschten.

Und wenn dieses Los am Ende nur Schuldige träfe! wenn unter den Opfern, die sich der Tod täglich aussucht, nicht auch Solche wären, die ohne Schuld in die Kerker gerathen! In unserem Vaterlande ist, wie bekannt, jenes heilige Recht, daß Niemand gestraft werden kann, bevor er nicht durch seinen Richter verurtheilt ist, ein Privilegium des Adels, und so werden wir kein Gefängniß finden, in dem nicht ein großer Theil der Gefangenen aus Personen bestände, die blos in Folge einer einfachen, oft grundlosen Klage eingesperrt sind und jahrelang in demselben Kerker mit den größten Verbrechern dieselben Qualen erdulden. Ja! jahrelang, und wird es wohl Jemand wagen, mich der Uebertreibung zu beschuldigen, weil ich von der neuesten Zeit spreche? wird es Jemand geben, der nur behauptet, daß die Fälle, von denen ich rede, unter die Seltenheit gehören? Ihr, die Ihr Jeden, der an die bestehenden Uebel mahnt, der Uebertreibung beschuldigt, und es schwächliche Philanthropie nennt, wenn Euch Jemand die Unbarmherzigkeiten in's Gedächtniß ruft, die unter dem Namen der strafenden Gerechtigkeit in unserem Vaterlande tagtäglich statthaben; Ihr, die Ihr Euch praktische Männer nennt: wandert durch unsere Gefängnisse und saget, wie viele Ihr gefunden, in denen das Strafverfahren so eingerichtet ist, daß ein Theil der Angeklagten nicht jahrelang auf das Urtheil warten muß! wie viele, wo die abgeurtheilten Verbrecher und die noch in Untersuchung stehenden nicht gleicher Behandlung ausgesetzt sind! Ketten und zweimaliges Fasten in der Woche, dies ist die gewöhnliche Verschärfung der Strafe des Kerkers; aber ich frage Euch: tragen die Angeklagten nicht auch Ketten, und fasten sie nicht mit den Verurtheilten? und was für ein Unterschied ist zwischen Beiden, wenn nicht der Eine, daß der abgeurtheilte Verbrecher die Grenzen seiner Strafe kennt, während der oft unschuldig Angeklagte nichts vor sich sieht, woran er seine Hoffnung knüpfen könnte? Aber warum verwundern wir uns? ich könnte meinen Lesern Fälle erzählen, nicht einen, oder zwei, und auch nicht solche, die ich aus den Chroniken vergangener Jahrhunderte herausgezogen, sondern aus jener Zeit, in der es schon zur Gewohnheit geworden ist, in unseren Versammlungen von Menschenrechten zu reden, könnte ich mehrere Fälle anführen, wo Einzelne, ohne wegen eines Verbrechens verurtheilt, ja, ohne eines Verbrechens beschuldigt zu sein, längere Zeit Gefangenschaft erdulden mußten! ja! längere Zeit erduldeten sie Gefangenschaft, in Ketten und in Gesellschaft von Verbrechern, nur in Folge eines Versehens, oder aus Unvorsichtigkeit des Gefangenwärters, der ein oder das andere solche Individuum, wenn es zum Beispiel als Zeuge in das Comitatshaus kam, zufällig in Ketten legen ließ und es mit den Uebrigen so lange festhielt, bis der Fehler durch einen glücklichen Zufall entdeckt wurde. – Ein Gefangener mehr oder weniger vermehrt unsere Sorgen nicht, und die Vicegespane haben viel mehr zu thun, als daß sie an vielen Orten auf die Kerkervisitationen nur so viel Zeit verwenden könnten als zu den Cassevisitationen. Ich sage, daß ich noch viele ähnliche Fälle erzählen könnte, und meine Leser – jene nämlich, die unsere Zustände nicht blos aus den wöchentlichen Sitzungen der Akademie kennen – könnten sie ebenfalls bedeutend vermehren; aber erstens sehe ich ein, daß, nachdem aus unseren Kerkern für Geld und gute Worte manchmal auch solche Individuen entlassen werden, die der Richter zum Kerker verurtheilt hat, das gestörte Gleichgewicht es vielleicht erheischt, daß an ihre Stelle solche Individuen eingesperrt werden, die nicht in den Kerker gehören; zweitens würde es mir nicht lieb sein, wenn mich irgend Jemand für einen Ultraphilanthropen halten würde. Ich behalte mir also die Erzählung jener Fälle für den Fall vor, wenn Jemand es nicht glauben wollte, daß in den Kerkern von Porvár außer vielen Angeklagten auch ein ganz unschuldiges Individuum zu finden gewesen, welches nach fünfmonatlichem Nachdenken noch nicht begreifen konnte, auf welche Weise es in den Kerker gerathen sei.

Der arme Mann, der eben seiner Unschuld wegen von den Mitgefangenen die größtmöglichste Verachtung erfuhr, saß auch jetzt, getrennt von den Uebrigen, in einem Winkel des Kerkers. Seine junge Frau, die für die Freilassung ihres Mannes Alles versucht und in fruchtlosen Schritten ihr geringes Vermögen aufgezehrt hatte, kam täglich dreimal an die Fenster des Gefängnisses und sah hinein; dies waren die einzigen Augenblicke, in denen der Arme aus seinem dumpfen Schmerz erwachte. Er näherte sich dann dem Eisengitter, durch welches er die am Fenster stehende Gattin sehen konnte; er sagte ihr, daß er sich wohl befinde, erkundigte sich um Eltern und Kinder, und wenn er Thränen im Auge fühlte, bat er das geliebte Geschöpf selbst, sich zu entfernen, weil er ihr seine Leiden nicht verrathen wollte. Endlich gelang es der unglücklichen Frau durch Völgyesy's Vermittlung die Unschuld ihres Mannes darzuthun. In der Frühe, als die Kerker geöffnet wurden, ging sie selbst mit den Haiduken hinab; aber der Mann lag bewußtlos auf dem Stroh, und die wiedererlangte Freiheit sicherte ihm nach wenig Tagen der Tod auf immer.

Unter den verhärtetsten Verbrechern gab es welche, die das unausgesetzt drohende Verderben zur Andacht stimmte, und die mit bebender Stimme die in der Kindheit erlernten, halbvergessenen Gebete wiederholten und in der Religion Trost suchten; andere wollten in starken Getränken ihre Furcht ersäufen, und die milden Gaben, die, seit die Krankheit herrschte, den Gefangenen reichlicher zuflossen, gingen für Branntwein auf. Denn wir sind immer barmherziger gegen Solche, die in Lebensgefahr schweben; es ist nur zu bedauern, daß das Erbarmen dann erscheint, wenn es am wenigsten nöthig ist. Und so dienten die milden Gaben nur dazu, daß die Unglücklichen ihr Leiden ein paar Stunden im Rausch vergaßen; Andere saßen abgestumpft auf dem Stroh, wortlos, theilnahmslos für Alles, was sie umgab, als ob sie gleichgiltig den Augenblick erwarteten, an dem auch sie die Krankheit ergreifen würde, während noch Andere in wilder Verzweiflung ihr Schicksal verfluchten und im Kerker entsetzliche Flüche widerhallen ließen, manchmal, wie außer sich, mit machtloser Wuth am Eisengitter rüttelnd, das sie in dem lebendigen Grabe eingeschlossen hielt.

Die Leiden dieser Unglücklichen linderte nur die Thätigkeit zweier Männer. Der eine war Vándory, der andere der katholische Geistliche, dem die Seelsorge der Gefängnisse von Porvár übertragen war. In den Sälen des Comitatshauses waren eben damals Religionsfragen in Verhandlung, und die Anhänger der beiden verschiedenen Religionen stritten mit grenzenloser Erbitterung über die Art und Weise, wie gemischte Ehen eingegangen werden sollen; Vándory und der katholische Geistliche aber hielten es für besser – obschon ihnen dies von Vielen übelgenommen und als Indifferentismus ausgelegt wurde – in dem Hause, wo so Viele von der Religion sprachen, Das zu thun, was die Religion befiehlt. Die streitende Kirche schien im Taksonyer Comitat hinlänglich repräsentirt, es schadete vielleicht nicht, wenn es wenigstens zwei Menschen in den Sinn kam, daß die Kirche außer dem Streit noch andere Aufgaben habe, und daß wenigstens zwei Menschen ihre Zeit darauf verwendeten, unter den Unzähligen, die nach dem Sinne des Gesetzes Katholiken oder Protestanten hießen, einige derselben in ihrem Glauben zu bestärken, zu unterrichten und Sterbende der Tröstungen ihrer Religion theilhaftig werden zu lassen; während so Viele mit grenzenlosem Eifer über die Frage stritten, in welcher Religion die Kinder gemischter Ehen zu erziehen seien, und ihr Jerusalem zerstört wähnten, wenn durch Gestattung oder Verbot der Reverse ein paar Kinder mehr oder weniger nach den Gebräuchen dieser oder jener Religion getauft würden Die Frage, wie die gemischten Ehen eingesegnet werden sollen, und ob dem protestantischen Vater gestattet sein soll, einen Revers auszustellen, daß er seine Kinder katholisch erziehen lassen werde, wurde in den ungarischen Comitaten und auch auf dem Reichstage mit grenzenloser Erbitterung verhandelt. Durch das Gesetz des letzten Reichstages 1843 ist dieser Streit hoffentlich für immer abgethan.. Wenn Vándory und der katholische Kaplan von Religion sprechen, wird es, wie ich glaube, wenige Punkte geben, über die sie sich einigen könnten; so lange sie aber handelten, war kein Unterschied zwischen Beiden – obgleich der Eine Rom als das neue Babylon, der Andere aber als den Quell aller Herrlichkeit betrachtete; obgleich der Eine seinen Glauben in Gefahr glaubte, so lange Reverse bestehen, und der Andere, wenn sie abgeschafft würden; obgleich der Eine es für gottlos erachtete, wenn nicht sämmtliche Decretalien seiner Kirche angenommen werden, und der Andere es für Götzendienst erklärte, wenn Jemand den Grund seines Glaubens auch außer der heiligen Schrift suchte. Vándory brachte, so oft er von Tiszarét nach Porvár kommen konnte, und der Kaplan täglich den größten Theil ihrer Zeit im Kerker zu, und die tröstenden Worte der beiden Männer gossen neue Hoffnung in das Herz so manches Unglücklichen, der, von Allen verlassen, sich der Verzweiflung überlassen hätte, wenn diese tröstenden Stimmen ihm nicht erklungen wären. Wohl gab es auch Solche, von denen die beiden Tröster zurückgestoßen, von denen sie mit Hohn empfangen wurden, aber wer kann, besonders in den Zeiten des Unglücks, die Tröstungen der Religion lange entbehren? Der Glaube befriedigt manchmal den Verstand nicht, wir wollen begreifen, und die Religion bietet unergründliche Geheimnisse – aber kann das Herz Beruhigung finden ohne Glauben? Führe den Zweifler hinaus in Gottes freie Natur, dorthin, wo hohe Gebirge den Horizont begrenzen, der Gesang der Vögel und der Lufthauch in den Gebüschen tausendstimmig ertönen, zeige ihm den hohen Himmel, wenn die Sonne purpurn untergeht, oder der Mond zwischen Millionen Sternen sein ruhiges Silberlicht ausgießt, und frage ihn, ob er noch zweifelt? Und alle diese Wunder der Natur wirken noch nicht so auf das Herz, als der Anblick eines guten Menschen, der, durch die Religion begeistert, in stiller Thätigkeit an der Veredlung, am Glücke seiner Mitmenschen arbeitet.

In neuerer Zeit haben Mehrere ihre Aufmerksamkeit den Kerkern zugewendet und eine neue Gattung Dichterwerke aufgestellt, eine Gattung unschuldiger Idyllen, die im Kerker vorgehen. Alles Schöne und Gute auf der Welt hat seine Caricatur, und dieser Auswuchs der Philanthropie, der jeden Verbrecher nur als einen unglücklichen, von den Mitmenschen nicht verstandenen, und nur zufällig vom rechten Pfade abirrenden Menschen darstellt, ist unbezweifelt eben so lächerlich, als andere ähnliche Verirrungen des menschlichen Geistes; aber eben so stark fehlt auch Jener, der vom entgegengesetzten Gesichtspunkte ausgeht, und alle Gefangenen, oder den größten Theil derselben, für unverbesserlich hält. Der größte Mann, dessen Thaten Jahrhunderte preisen, ist, näher betrachtet, doch nur ein Mensch; und der größte Verbrecher, dessen Handlungen uns mit Abscheu erfüllen, bleibt ebenfalls ein Mensch; die Thaten, die wir an Jenem bewundern und die uns bei Diesem entsetzen, sind nur einzelne Momente eines ganzen Lebens, und wie bei dem großen Manne die zahllosen Schwächen des Menschen, so bleiben bei dem größten Verbrecher einzelne gute Eigenschaften übrig, und durch dies wird in vielen Fällen die Besserung der Gefangenen möglich; sie kann aber immer nur durch solche Menschen bewirkt werden, die hierzu durch die Religion bezeichnet werden.

Die Wirkung, die Vándory bei den Gefangenen hervorbrachte, grenzte an das Wunderbare. Wenn er in den Kerker trat, und die Gefangenen seine Stimme, ja nur seine Tritte hörten, leuchtete Freude auf ihren Gesichtern; die Bewohner der Abtheilungen, die er betrat, umstanden ehrfurchtsvoll ihren Tröster, und die ungewohnte Theilnahme, die lange nicht oder nie gehörte liebende Weise, mit der er zu ihnen redete, erschloß das Herz des verhärtetsten Verbrechers seiner milden Belehrung. Wer Vándory unter den Gefangenen sah, konnte sich nicht mehr über seinen Optimismus verwundern, mit dem er seine Zöglinge für besserungsfähig, ja zum Theil schon für gebessert erklärte. In seiner Gegenwart schien es wirklich so. Der Charakter der meisten Menschen äußert sich durch seine Wirkung nach außen; das Herz ist wie ein Echo, es antwortet in dem Tone, in dem es angesprochen wird, und der größte Verbrecher, den die unerbittlichen Streiche des Schicksals und die Ungerechtigkeit der Menschen verwildert haben, kann, wo er wirkliche Theilnahme sieht, selten dem sanften Einflusse widerstehen.

Am auffallendsten war Vándory's Einfluß auf den jüdischen Glaser, der, wie wir wissen, wegen Macskaházy's Ermordung in Verdacht gerathen und nach Porvár gebracht worden war. Nachdem der Jude nach dem Morde in Macskaházy's Ofenloch gefunden worden war, mußte seine Aussage auf Tengelyi's Proceß den größten Einfluß haben, und Völgyesy, als Vertheidiger des Notärs, forderte, daß der Glaser abgesondert eingeschlossen werde; dieses Verlangen wurde bei dieser Gelegenheit um so leichter erfüllt, als es auch von der Vicegespanin aus Theilnahme für Tengelyi, wie sie sagte, unterstützt wurde. Eine Holzkammer wurde zu diesem Zwecke ausgeräumt, und nachdem die nöthigsten Vorkehrungen getroffen waren, die in einem von innen heizbaren Ofen, einem schlechten Bett und neuen starken Schlössern an der Thür bestanden, wurde die Holzkammer das Gefängniß des Juden, wo er, von Niemand gestört, über seine unglückliche Lage nachdenken konnte. Die Vicegespanin sagte, sie sei von seiner Unschuld überzeugt, und bewies dem Unglücklichen anfangs Theilnahme, ja in der ersten Zeit seiner Gefangenschaft besuchte sie ihn sogar einmal – was der Gefangenwärter gegen das klare Verbot der Vicegespanin Mehreren erzählte, damit diese edle Handlung kein Geheimniß bleibe; aber außer ihr zeigte Niemand auch nur das geringste Mitleid mit seinem Lose, und außer dem Verhör sprach kaum Jemand mit ihm. Selbst der Haiduk legte ihm die erbärmliche Kost nur mit Verachtung vor und verließ die Kammer schweigend oder mit groben Späßen, und der Gefangene fühlte die Qualen der Einsamkeit in ihrer ganzen Ausdehnung; wenig Hoffnung für die Zukunft, keine freundliche Erinnerung aus der Vergangenheit erheiterten seine Abgeschiedenheit.

Freundliche Erinnerungen! Er war ein Jude – dies ist die Geschichte seines Lebens. Geboren, um das Elend seiner Familie zu theilen, aufgesäugt in den Armen seiner Mutter, um noch in zarter Kindheit die Ungerechtigkeit der Welt kennen zu lernen, hinausziehend aus der Eltern Haus, um statt Freiheit seine gänzliche Verlassenheit zu empfinden, ringend um das tägliche Brot, nicht durch ehrliche Arbeit, denn davon war er als Jude ausgeschlossen, sondern durch List und Trug, am Boden kriechend wie der Wurm, den der Wanderer achtlos zertritt, gehaßt, verfolgt – dies sah der Jude in der Vergangenheit, davon sprachen die Erinnerungen des Gefangenen. Glücklich ist die Kindheit! Der Mann, wenn er die Zwecke seines Lebens erreicht, schaut im schönsten Augenblick des Sieges mit Sehnsucht zurück auf seine unschuldigen Spiele und würde gern den Lorber gegen die ungetrübten Freuden vertauschen, die er damals genoß; aber was findet der Jude, wenn er jener Zeit gedenkt? – Verachtung, die schon seine ersten Kinderfreuden trübte. Wenn er zum ersten Male auf seinen eigenen Füßen durch die Gassen seines Dorfes geht, läuft ihm ein Kinderhaufe höhnend nach; da beginnt der Kampf, den er, der Einzelne, mit der Menge zu bestehen hat, da, an der Schwelle seines Lebens, verbittert Hohn und Verachtung die ersten Tropfen seines Lebenskelches. Auch er wird lieben, aber Die, für die er sein Leben geben würde, sieht er von aller Welt verachtet, mit Der, die er in jugendlicher Begeisterung auf einen Thron erheben möchte, kann er nichts theilen, als seine eigene Schmach, eine Schmach, die er nicht verdient, und von der er sich eben deshalb nicht befreien kann; die Schmach, die er von seinen Voreltern ererbt, die er seinen Kindern hinterlassen wird; die Schmach, die wie ein entsetzlicher Fluch auf seinem ganzen Stamme lastet, von der ihn keine Tugend, keine Großthat zu befreien vermag.

Und wir wundern uns, daß der Jude verderbt ist, daß die höheren Empfindungen, die den Menschen veredeln, bei diesem Volke seltener zu finden sind? Haben wir ihm denn ein Feld gelassen, auf dem edlere Empfindungen Platz haben? Erkennt ihn das Vaterland für seinen Sohn, um von ihm Liebe verlangen zu können? gehen wir mit ihm wie mit einem Mitmenschen um, mit ihm, den wir jetzt der Selbstsucht beschuldigen? Nehmen wir der Tugend jeden irdischen Lohn, organisiren wir die Gesellschaft so, daß Niemand durch gute Handlungen weder die Liebe der Mitmenschen, noch ihre Achtung, noch Ruhm in der Zukunft erwerben kann: wie Viele werden dann auf dem Pfade der Tugend wandeln?! Und in dieser Lage ist der Jude in der Mitte dieses gebildeten Jahrhunderts, wenigstens in unserem Lande. Was nach so vielen Unterdrückungen in seiner Seele noch an edlen Empfindungen übrig bleibt, kann sich nur in dem glühenden Hasse äußern, den er gegen uns nährt.

Außer diesen dem jüdischen Volke gemeinsamen Leiden waltete bei dem jüdischen Glaser noch ein anderes ob, das ihn unseres Mitleids würdig macht: sein abschreckendes Aeußere, das ihn verdächtig machte, noch bevor er gefehlt hatte, und jetzt, da während der Gefangenschaft die Furcht sich in jedem seiner Züge aussprach, vermochte man sich kaum einen mitleidwürdigeren Menschen zu denken – aber wie schon gesagt, Niemand fühlte Mitleid mit ihm, ja es schien, daß er selbst auf Theilnahme gar nicht rechne – und Vándory, der seine Besuche nicht auf die Anhänger seines Glaubens beschränkte und ihn öfter besuchte, fand ihn stets in sich gekehrt und überzeugte sich schnell, daß der Unglückliche ihn für einen Spion hielt. Vándory versuchte Alles, um auch bei diesem Gefangenen, wie bei den anderen Zutrauen zu erwecken, ja er bemühte sich um so mehr, dies zu erreichen, je mehr er hoffte, durch den Juden auf die Spur solcher Dinge zu kommen, die Tengelyi nützen könnten; aber umsonst! der Jude empfing Vándory stets in tiefster Unterthänigkeit, beantwortete jede Frage, ja er sprach sogar manchmal von der Taufe, aber aus allen seinen Reden leuchtete heraus, daß er die Besuche des Predigers nur für eine andere Art von Verhör hielt, und Vándory, überzeugt, daß seine Besuche dem Juden nur ungelegen seien, blieb endlich ganz aus.

Dieses Verhältniß änderte sich gänzlich, als der Jude erkrankte. Nach mehrmonatlicher Gefangenschaft in einer feuchten, halb unterirdischen Kammer, ohne Genuß der freien Luft, ergriff auch ihn das Kerkerfieber, und zu seiner Genesung gab es keine Hoffnung, die eine vielleicht ausgenommen, daß ihn der Comitatsphysikus nicht behandelte. Der Jude lag verlassen in seiner Kammer, um so unglücklicher als die übrigen Gefangenen, weil er, aus seinen Fieberphantasien auf Augenblicke erwachend, Niemand sah, der ihm nur einen Trunk Wasser gereicht hätte, um seinen Durst zu stillen. Es schien, als ob die ganze Welt ihn, einem Todten gleich, schon vergessen hätte, und die Vicegespanin selbst, bei all' ihrer bisher bewiesenen Theilnahme, schien seltsam beruhigt, seit sie erfuhr, daß zu seiner Genesung keine Hoffnung sei und er im Fieber, in unverständlicher Sprache, nur unzusammenhängende Worte vorbringe. Sie schien seltsam beruhigt, sage ich, denn da sie mit dem Juden nicht verwandt war und also keine Erbschaft von ihm zu erwarten hatte, vermag ich kaum zu erklären, wie die Theilnahme, die sie vor der Krankheit und so lange er sich gegenwärtig war, an den Tag legte, sich in die vollkommenste Gleichgiltigkeit verwandeln konnte, sobald sie vernahm, daß der Kranke alle Besinnung verloren habe.

Vándory war der Einzige, der auch jetzt den Ruf seiner Herzensgüte rechtfertigte, und so wie er von selbst wegblieb, als er bemerkte, daß seine Besuche dem Juden lästig waren, so that er nun Alles, um die Lage des Unglücklichen wenigstens einigermaßen zu erleichtern. Wenn er in Porvár war, besuchte er ihn täglich zwei- bis dreimal; er dingte um eigenes Geld ein armes Weib, die einen großen Theil des Tages bei dem Kranken zubrachte, mit einem Worte, er that Alles, was in seinen Kräften stand und was der Mann für Christenpflicht hielt, die – wie Alle wissen, die den christlichen Glauben verstehen – von den kleinsten Diensten an, durch die wir unsern Mitmenschen unsern guten Willen darthun, bis zu der höchsten Tugend hinauf alles Gute und Schöne in sich faßt. Der Mensch, für den Vándory dies that, war ein Jude, und was mehr, ein solcher, der, wie es schien, den Lehren des christlichen Predigers unzugänglich schien und zur Bekehrung wenig Hoffnung bot; aber Vándory meinte, daß das Evangelium vom Samaritaner die Nächstenliebe nicht auf die Glaubensgenossen beschränke, und daß in dem heiligen Reiche, nach welchem er sein Leben einrichtete, uns Menschen nur die Liebe zur Pflicht gemacht werde, und an diese Vorschrift hielt er sich.

Wenn der Jude aus seinen verworrenen Träumen erwachte, sah er oft Vándory's milde Züge neben sich; wenn er zuweilen Nachts erwachte und um etwas Wasser flehte, den brennenden Durst zu stillen, nahte sich still die Wärterin und erfüllte das Begehren, und wenn der Kranke fragte, wer sie zu ihm gesendet, hörte er wieder Vándory's Namen. Wie die Vorsehung, die seine Bedürfnisse im Vorhinein erkennt, wie ein Schutzengel, den ihm Gott zum Trost in Leiden gesendet, so erschien der unerwartete Wohlthäter dem Geiste des Leidenden, und inmitten wilder Träume, die sein Gehirn verwirrten, tönte manchmal Vándory's Name, als ob er ihn um Hilfe riefe, und die alte Wärterin behauptete, daß er stets ruhiger werde, so oft er den Namen aussprach.

Beinahe drei Wochen vergingen, ohne daß sich im Zustande des Kranken irgend eine Veränderung ergab; endlich blieb das Fieber aus und das Bewußtsein kehrte zurück. Zur Genesung blieb auch jetzt keine Hoffnung übrig; die Natur hatte nicht mehr hinreichende Kräfte, um die nöthige Krise zu überstehen, und nur das Bewußtsein war auf wenige Zeit zurückgekehrt, wie dies bei Kranken in ihren letzten Momenten zuweilen zu geschehen pflegt. Peinliche Augenblicke, wo der Tod sein Opfer ein paar Stunden ruhen läßt, nur damit es, sich noch einmal auf der Welt umschauend, Alles, was es verlassen soll, noch einmal vor sich sehend, mit erneuter Sehnsucht an dem Leben festhalte.

Der Jude durchschaute seine Lage klar und schien sich darein zu ergeben. Er hatte nur einen Wunsch: Vándory zu sehen, bevor das Fieber wieder hereinbräche. Von der Wärterin, die er deshalb befragte, erfuhr er, daß er nicht geträumt, als er den Prediger öfter an seinem Bette gesehen, und daß er alle die Erleichterung, die ihm während der Krankheit zu Theil geworden, Vándory zu danken habe. Vándory war an diesem Tage nicht in Porvár, und der Kranke wurde von Stunde zu Stunde unruhiger, als sein Wohlthäter, der zu Mittag erwartet wurde, noch immer nicht kam. »Ich kann nicht ruhig sterben,« so sprach er wiederholt zur Wärterin, die an seinem Bette saß, »wenn ich mit dem geistlichen Herrn nicht reden kann; ich muß ihm für all' das Gute danken, das er mir erwiesen, und dann,« dies setzte er leiser hinzu, »belastet meine Seele ein Geheimniß, eine Sache, die zu wissen Herrn Vándory am Herzen liegt, und ich kann es nur ihm sagen. Ich bitte Euch, liebe, gute Frau, geht und fragt, ob er denn noch nicht gekommen ist.«

Das Weib ging abermals zu Tengelyi hinauf, denn der Prediger pflegte, wenn er in die Stadt kam, gewöhnlich zuerst zu Tengelyi zu gehen, und wenn die Alte mit dem Berichte zurückkehrte, daß Vándory noch nicht da sei, warf sich der Kranke wie verzweifelnd auf die Kissen zurück. Endlich, spät am Nachmittag – der Kranke hatte schon alle Hoffnung aufgegeben – ging die Alte noch einmal zu Tengelyi, und bald darauf öffnete sich die Thür der Kammer und der Prediger stand am Bette des Kranken.

Ich schweige über die Empfindungen, die in diesem Augenblick das Herz des Juden durchzuckten. Das ganze Leben über hatte er nur Hohn und Verachtung gefunden, er hatte die Menschen, seine Verfolger, gefürchtet und gehaßt; nie hatte er Theilnahme erfahren, darum hatte er auch Niemandem vertraut, selbst von seinem Gott, der ihn, wie es schien, nur zum Leid in die Welt gesetzt, hatte er nichts Gutes gehofft; er hatte Niemand geliebt, denn er hatte seine Eltern nie gekannt, Niemand hatte sich ihm jemals liebend genaht; jetzt, zum ersten Male in seinem Leben, brachen alle besseren Gefühle sich in seinem Herzen Bahn. Vándory war der erste Mensch gewesen, der sich ihm wohlwollend genaht, und dies Herz, dem das Leben nur Haß gelehrt, erschloß sich der sanften Berührung. Jenes Dankgefühl, das er sonst ein ganzes Leben hindurch für Wohlthäter hätte empfinden können, alles Vertrauen, dessen Bedürfniß auch er in der Brust trug, das er aber Niemandem geben konnte, alle Liebe, deren seine Seele fähig war, durchströmte seine Brust, und der Unglückliche fand, um alles dieses auszudrücken, nur Thränen.

»Beruhige Dich, mein Freund,« sprach der tiefgerührte Vándory, »Gott ist grenzenlos barmherzig und wird sich auch Deiner erbarmen.«

Der Gefangene faßte krampfhaft Vándory's Hand, die Thränen flossen unaufhaltsam, aber er antwortete nicht.

»Sieh', Du befindest Dich besser,« sprach Vándory, und setzte sich an das Bett, »Du wirst genesen, wirst leben, und kannst ein nützliches Glied der Gesellschaft werden.«

»O liebster geistlicher Herr,« sprach der Jude mit schwacher, thränenerstickter Stimme, »es ist aus mit mir, ich fühle, daß ich sterben muß, ich weine auch nicht deshalb. Ich habe nicht viel Freude auf der Welt gehabt; nicht einmal meine Eltern habe ich gekannt, und so ein armer Jude, wie ich, verliert nicht viel an seinem Leben; wenn ich unter der Erde bin, wird man mir vielleicht Ruhe lassen. Aber wenn ich an all' das Gute denke, das Sie, geistlicher Herr, mir erwiesen, mir, mit dem Alle wie mit einem Hund umgegangen sind; wenn ich bedenke, daß mir dies ein Christ gethan hat, und eben Sie, Herr Vándory, den ich –« hier erstickten Thränen abermals die Stimme des Gefangenen; er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und schluchzte.

Vándory, der von seinem Glauben viel zu sehr durchdrungen war, als daß ihm die Ausbreitung desselben hätte gleichgiltig sein können – der Proselitismus ist kein Auswuchs, sondern die nothwendige Folge jedes starken Glaubens – wähnte den Augenblick zur Bekehrung des Unglücklichen gekommen, und begann von Gottes unendlicher Barmherzigkeit zu reden, die den Ungläubigen nicht zurückstößt, auch wenn er sich erst im letzten Momente bekehrt.

Der Jude begriff den Sinn der Rede, wischte sich die Thränen aus den Augen und schüttelte trübsinnig das Haupt. »Geistlicher Herr,« so sprach er seufzend, »fordern Sie das nicht von mir. Den Glauben meiner Väter verlasse ich nicht. Wie niedrig müßte ich sein, wenn ich, der ich mein ganzes Leben über kaum etwas anderes Gutes gethan habe, als daß ich mich vom Glauben meiner Väter nicht verlocken ließ, jetzt auch das zu Grunde richte und von meinem Glauben abfalle. Es ist nichts auf der Welt, was ich für den geistlichen Herrn nicht thäte – aber nur dies Eine fordern Sie nicht von mir.«

Der Geistliche antwortete bewegt: »Denke nicht, daß ich Deine Bekehrung meinetwegen wünsche; Du würdest sündigen, wenn Du bei diesem wichtigsten Schritte Deines Lebens etwas Anderem als Deiner Ueberzeugung folgen wolltest. Ich spreche Deinetwegen, Deines Seelenheiles wegen; der christliche Glaube ist der Glaube der Liebe –«

»Der Glaube der Liebe?« fiel der Kranke ein, auf dessen Angesicht der frühere bittere Ausdruck einen Augenblick sichtbar wurde: »Fragen Sie die Juden alle, was sie davon erfahren haben! Wenn ich mehr solche Christen gekannt hätte, wie Sie, geistlicher Herr,« setzte er hinzu, als er den Eindruck bemerkte, den seine Rede auf Vándory hervorgebracht, »wer weiß, ob ich dann nicht meinen Glauben verlassen hätte; ich meinerseits habe auch unter den Juden wenig gute Menschen gefunden; aber so will ich in meinem alten Glauben sterben.« Nach einer kleinen Pause, während welcher er im Zimmer herumblickte, als ob er sich überzeugen wollte, daß außer dem Prediger Niemand zugegen sei, fuhr er fort: »Aber meine Seele belastet ein Geheimniß, das ich Ihnen, geistlicher Herr, mittheilen muß – und ich fühle meine Kräfte schwinden.«

Vándory rückte den Sessel näher an das Bett des Kranken, und der Jude, oft durch Schwäche unterbrochen, erzählte, was die Leser über Tengelyi's und Vándory's geraubte Schriften schon wissen, wodurch Macskaházy's und der Vicegespanin Mitwissenschaft und Theilnahme – die seit Viola's Geständniß ohnedies schon von Vielen geahnt wurde – außer allen Zweifel gesetzt ward.

»Aber wer hat Macskaházy umgebracht?« fragte Vándory, der die Aussage des Gefangenen mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte, »an dem Orte, wo man Dich gefunden, mußtest Du Alles hören, was im Zimmer vorging.«

»Ich habe auch Alles gehört,« erwiderte der Jude, »Viola hat den Mord begangen, ich kann es beschwören; er sprach wohl eine Viertelstunde lang mit Macskaházy, und ich habe seine Stimme gleich erkannt.«

»Und warum hast Du, Unglücklicher, das nicht gleich in Deinem Verhöre gesagt?« seufzte Vándory, »Du wußtest ja, daß ein Anderer, ein Unschuldiger dieses Verbrechens bezichtigt wird, und daß Dein aufrichtiges Geständniß seine Ehre, sein Leben retten kann?«

»Warum ich es nicht gesagt habe?« sprach der Jude, und heftete die Augen auf Vándory, »weil mich die gnädige Frau damit geschreckt hat, daß der ganze Verdacht auf mich fallen werde, wenn ich zu Tengelyi's Rechtfertigung nur ein Wort rede.«

»Aber was wolltest Du im Schlosse in der Nacht, in welcher der unglückliche Fiscal ermordet wurde?« fragte Vándory weiter.

Der Jude schwieg eine Weile. »Warum soll ich es nicht sagen,« sprach er endlich, »ich habe versprochen zu schweigen, aber diese Frau hat mich in der Noth verlassen, warum soll ich sie schonen? Einen Tag vor Macskaházy's Ermordung haben sich die Frau von Réty und der Fiscal gezankt. Er wollte die Schriften nicht herausgeben, die er bei Viola gefunden; da ließ mich die Vicegespanin rufen, und versprach mir zweitausend Gulden, wenn –«

Entsetzt schlug Vándory die Hände zusammen.

»Viola kam mir zuvor,« sprach der Jude leise, »sonst wäre Macskaházy durch meine Hand gestorben.«

Der Jude legte sich auf die Kissen zurück; Vándory saß schweigend, in tiefe Gedanken versunken. Was er gehört, erfüllte ihn mit Schauder, aber auch mit Hoffnung, denn er sah, daß die Aussage des Juden für Tengelyi's Rechtfertigung von der höchsten Bedeutung sei. Nach kurzem Nachdenken überzeugte sich aber Vándory, daß das Geständniß Tengelyi keinen Nutzen bringen könne, wenn der Jude die Aussage nicht wenigstens vor noch einem glaubwürdigen Zeugen wiederholte, nachdem die Richter ihm allein, als Tengelyi's bestem Freund, nicht vollständigen Glauben schenken würden.

»Freund,« begann der Prediger aufstehend, »danke Deinem Gott, daß er Dir Zeit und Kraft gegeben, Deine Sünden zu bereuen und wenigstens einigermaßen gut zu machen. Was Du mir erzählt hast, reicht, so viel ich einsehe, vollkommen hin, um Tengelyi von dem Verdachte zu befreien, der jetzt auf ihm lastet; aber damit Dein offenes Geständniß Glaubwürdigkeit besitze, ist es nöthig, daß Du es in Gegenwart von wenigstens zwei Zeugen, die ich mitbringen werde, wiederholst.«

»Noch einmal soll ich erzählen, was mich schaudern macht, wenn ich daran denke?« sprach der Jude traurig.

»Es ist Deine Pflicht als Mensch, Dein Seelenheil erfordert es,« sprach Vándory feierlich, »wie kannst Du hoffen, daß Gott mit Dir barmherzig sein wird, wenn Du auf Erden der unterdrückten Unschuld nicht hilfreiche Hand bieten willst?«

Der Jude schwieg eine Weile. Endlich sah er Vándory an und sprach: »Geistlicher Herr! Tengelyi ist Ihr Freund, wie kann ich Ihnen für Ihre Wohlthaten danken, wenn nicht so?«

»Wenn Du Dich schwach fühlst,« sprach Vándory, von den Worten, und besonders von der Art ergriffen, mit der sie vorgebracht wurden, »so ruhe, wir kommen in ein paar Stunden.«

»Nein, nein!« erwiderte Jener, »jetzt gleich, oder nie; ich fühle es, die Zeit ist kurz, in der ich noch sprechen kann. Kommen Sie gleich zurück, geistlicher Herr, und bringen Sie mir wen Sie wollen, ich werde Alles sagen, und möge daraus entstehen was da will, ich bin über den Zorn des Vicegespans und aller Menschen hinaus.«

»Es ist nicht nöthig, daß Du in Deinem Geständnisse etwas sagst, wodurch Du Dich dem Zorn der Vicegespanin aussetzen könntest,« sprach Vándory, der Niemandem die Schuld eines Verbrechens aufbürden wollte, wenn er seinen Freund auch ohnedies zu retten vermochte. »Du hast, wie Du sagst, wegen des Schriftenraubes nur mit Macskaházy unterhandelt, es ist überflüssig, daß Du aussagst, was Dein letztes Vorhaben gewesen; wenn es klar wird, daß der unglückliche Fiscal durch Viola ermordet worden ist, so kann es auf Tengelyi's Schicksal keinen Einfluß haben, wenn Du auch gestehst, daß Du in derselben Absicht in's Haus gekommen bist.«

»Aber ich will nichts verschweigen,« sprach der Jude, und sein Gesicht war wieder voll wilden Ausdruckes, »ich muß mich an der abscheulichen Frau rächen, die mich zu allem Bösen verleitet, und als ich wegen ihr litt, mich in der Noth verlassen hat.«

»Und hast Du jetzt Zeit, an Rache zu denken?« sprach Vándory ernst.

Der Jude schwieg eine Weile. »Es sei, wie Sie es wollen, geistlicher Herr,« sprach er endlich und blickte ihn dabei an, »ich bin zu Allem bereit. Sie haben mir Gutes gethan; ich wollte, ich könnte mehr thun, um meine Dankbarkeit zu bezeugen. Aber,« setzte er hinzu, und wischte die Thränen weg, die bei diesen Worten in seinen Augen erglänzten, »gehen Sie gleich, wer weiß, ob ich in einer Stunde mein Versprechen noch erfüllen kann.«

Vándory rief die Krankenwärterin herein, die indeß vor der Thür gestanden, und entfernte sich eilig. Der Jude kehrte sich der Wand zu, und, vom Reden ermüdet, schlummerte er auf kurze Zeit ein.


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