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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Cassiodorius Senator.

Eine ganz andere Natur als Boëthius war sein Zeitgenosse Cassiodor, welcher, wie er ihn lange überlebte, auch mit seiner schriftstellerischen Thätigkeit noch in die folgende Epoche hinüberreicht, sie mit dieser, welche wir hier abschliessen, unmittelbar verknüpfend. Er war von Haus aus ebenso sehr ein Praktiker, als Boëthius ein Theoretiker, ein Mann des Realismus, wie dieser des Idealismus. Wenn Boëthius die Wissenschaft des Alterthums, wie sie die Griechen geschaffen, übersetzend und erklärend im grossen reproducirt und dabei doch zu einer eignen schöpferischen Thätigkeit des Gedankens, so begrenzt sie auch sei, fortzuschreiten vermag, so beschränkt sich Cassiodors Encyclopädismus auf ein Sammeln des Nothwendigsten in abbreviirten Excerpten, aber zugleich mit dem Bemühen, die praktische Verwerthung so viel als möglich zu erleichtern. Nicht sowohl das Interesse an der Wissenschaft, als vielmehr das an der Bildung, die sie verbreitet, leitet zunächst seine Schriftstellerei, welche stets durch äussere Motive veranlasst, meist bestimmte praktische Zwecke verfolgt. Cassiodor war zuerst und vor allem Staatsmann, und dazu besonders befähigt; so trug er auch als Schriftsteller den nächsten Bedürfnissen seiner Zeit Rechnung, allerdings nicht ohne zugleich eine ferne Zukunft im Auge zu haben, zumal sein Jahrhundert für viele folgende, wie er wohl ahnte, massgebend werden sollte.

Magnus Aurelius Cassiodorius Senator Magni Aur. Cassiodorii Senatoris opera omnia, ad fid. mss. codd. emendata, notis et observation. illustr. etc., opera et stud. J. Garetii. Venedig 1729. 2 Tom. fol. (Zuerst Rotomagi 1679). – Rhetores latini minor. ex codd. emend. C. Halm. Leipzig 1863, enthält Cassiodors lib. de rhetorica aus seinen Institut. – Die Chronik des Cassiod. Senator nach den Handschriften herausgegeben von Th. Mommsen in den Abhandl. der kön. sächs. Ges. derWiss., phil.-hist. Cl. Bd. III. – – A. Thorbecke, Cassiodorus Senator. Heidelberg 1867 (Beigabe zum Herbstprogramm des Lyceum). – A. Franz, M. A. Cassiodorius Senator. Ein Beitrag zur Geschichte der theologischen Literatur. Breslau 1872. – Köpke, Deutsche Forschungen. Berlin 1859. – Usener, Anecd. Holderi, S. 66 ff. stammte aus einer alten berühmten, in der staatsmännischen Laufbahn, namentlich in den drei letzten Generationen, bereits bewährten 499 Familie, wahrscheinlich zu Scyllacium in Bruttien um 480 geboren Selbst eine annähernde Zeitbestimmung bietet hier Schwierigkeit, indem ich Usener, der a. a. O. S. 70 als frühstes Datum 481 annimmt, darin nicht folgen kann. Vgl. ihm gegenüber Thorbecke, S. 9 und Franz, S. 4., welche Provinz, die Heimath seines Geschlechtes, der Urgrossvater einst gegen die Vandalen Geiserichs ruhmvoll vertheidigt hatte. Der Vater, schon unter Odoaker im Staatsdienst, schloss sich frühe Theoderich an, und gelangte so zu den wichtigsten Aemtern bis zur prätorischen Präfectur: die Gunst, die er bei dem Gothenkönige sich erworben, übertrug sich früh auf seinen talentvollen und reich gebildeten Sohn Senator, wie unsers Cassiodor eigentlicher Name war, und um so leichter, als dieser selbst durch eine Lobrede den König für sich eingenommen hatte. So berichtet das Anecd. Hold., s. S. 4, Zeile 22. So erhielt er schon im Anfang der Zwanzig die einflussreiche Stelle des Quästor, wodurch er zum Geheimsecretär, ja in Wahrheit zum Minister des Innern Theoderichs wurde S. Thorbecke, S. 15., da er das Vertrauen des Königs durch seine Redlichkeit wie seine grosse Befähigung im höchsten Grad sich zu erwerben wusste. Andere höhere Würden, wie die des Consulats, wurden ihm mit der Zeit zu Theil, aber seine Thätigkeit im Cabinet des Königs bestand fort, da sie nunmehr auf dem innigen persönlichen Verhältniss des Gothenkönigs zu dem gewandten und gelehrten romanischen Staatsmann ruhte, der ihm und seinem Haus eine unbegrenzte Hingebung widmete, und den königlichen Gedanken einer Versöhnung des romanischen mit dem germanischen Volkselement mit Enthusiasmus ergriff und mit einer Kühnheit und charaktervollen Consequenz durchzuführen suchte, dass er, wie sein berühmter Zeitgenosse den Namen des letzten römischen Philosophen davon trug, so den des letzten römischen Staatsmannes verdienen möchte. Auch unter den Nachfolgern Theoderichs bis unter Vitigis blieb Cassiodor in jener Stellung zum Thron, indem er zugleich unter ihnen die prätorische Präfectur bekleidete; indessen nur unter Amalasuntha's vormundschaftlicher Regierung war sein persönlicher Einfluss derselbe.

500 Um 540 aber zog sich Cassiodor von den Staatsgeschäften ganz zurück, um sich in dem von ihm auf seinen Besitzungen in Bruttien gegründeten, durch seine Lage und Anlagen reizenden, mit allen Hülfsmitteln der Gelehrsamkeit reich ausgestatteten Kloster Vivarium einem geistlichen Leben zu widmen, das aber keineswegs in blosser Beschaulichkeit bestehen sollte. Vielmehr entfaltete hier der sechzigjährige die regste literarische Thätigkeit (der er indess auch während seiner Amtszeit schon sich hingegeben), selbst bis in sein 93. Jahr, eine Thätigkeit, die jetzt aber nur ein hohes Ziel verfolgte, welches für die allgemeine Kultur der Folgezeit von der allergrössten Bedeutung war, das nämlich, die Klöster zu Asylen der Wissenschaft zu machen, worin die klassisch-antike und die christliche Literatur gesammelt, die Bücher durch Abschreiben vermehrt, ja verbessert, und durch ihr Studium die nöthige theologische Bildung der Geistlichkeit gewonnen werden sollte. Die Werke, die er damals verfasste, sollten zu dem allen nicht bloss die Anregung geben, sondern auch die Wege weisen, Lehr- und Hülfsbücher sein. In seinem Kloster ward zuerst die geistige Arbeit anstatt der körperlichen, welche hier nur stellvertretend bei den zu jener Unfähigen eintrat, zur Pflicht und Regel gemacht, und damit ein grosses, weithin wirkendes Beispiel gegeben: ihm sind erst die Benedictiner gefolgt. Die Klosterbibliotheken wie die Klosterschulen, wo in den folgenden Zeiten der Barbarei manchmal allein noch das Feuer der Wissenschaft fortglimmte, gehen zuletzt auf diese Bemühungen Cassiodors zurück. Sein Name verdient noch heute, wie im ganzen Mittelalter, mit Achtung genannt zu werden. So wenig schöpferische Originalität er als Schriftsteller besass, so viel vermochte er doch auch als solcher durch Scharfblick für die Bedürfnisse seiner Zeit, durch ausdauernden Fleiss, verständige Ueberlegung und Reichthum von Kenntnissen zu leisten. – Das Jahr seines Todes ist ebenso wenig als das seiner Geburt bekannt. Es wird wohl in das achte Decennium des 6. Jahrhunderts fallen, denn die früher auf Grund seines Commentars zum 100. Psalm aufgestellte Ansicht, er habe das 100. Jahr erreicht, ist mit Recht widerlegt. S. darüber Franz, S. 11 f.

Cassiodor hat keine unbedeutende Zahl von Werken hinterlassen, von welchen die eine, dem Umfang nach kleinere Hälfte während seines öffentlichen Lebens, die andere in seiner 501 geistlichen Zurückgezogenheit verfasst worden ist. Ich beginne mit den letztern, nicht weil sie uns hier näher lägen, sondern weil in ihnen der Encyclopädismus unseres Autors am meisten vertreten ist. Das in dieser Beziehung wichtigste, wie überhaupt das einflussreichste seiner Werke sind seine zwei Bücher Institutiones divinarum et saecularium lectionum , oder litterarum , wie gewöhnlich der Titel lautet Des Ausdrucks lectionum bedient sich Cassiodor in dem Werke selbst; so beginnt das Vorwort des zweiten Buchs: Superior liber completus Institutionem videlicet divinarum continet lectionum; hic XXXIII titulis noscitur comprehensus.Nunc tempus est, ut aliis septem titulis saecularium lectionum praesentis libri textum percurrere debeamus., von welchen das eine Buch der Gottes-, das andere der weltlichen Wissenschaft gewidmet ist. Diese Verbindung der beiden Bücher zu einem Werke ist von einer Bedeutung, die nicht zu übersehen ist. Wie letzteres in den Ausgaben, wohl auf Grund von Handschriften, geschieht, so in der von Garet, wo beide Bücher als selbständige Werke, das erste unter dem Titel: › De institutione divinar. litterar.‹, das andere unter dem Titel: › De artibus ac disciplinis liberalium litterarum‹, gegeben sind: mit welchem Unrecht, zeigt schon unsere vorhergehende Anmerkung. Das Werk soll nämlich den von Cassiodor im Vorwort beklagten Mangel einer theologischen Hochschule im Abendland, welche zu errichten er durch den Krieg verhindert worden war, einigermassen, und zunächst seinen eignen Mönchen, ersetzen, indem es sie an der Stelle eines Lehrers in die ihnen nöthige Wissenschaft einführen soll. So gibt der Verfasser im ersten Buch eine Einleitung in das theologische Studium, dessen Mittelpunkt durchaus die heilige Schrift bildet, während er im zweiten einen kurzen Abriss der sieben freien Künste bietet. Hiermit ist schon – und das ist ein wesentlicher Unterschied beider Bücher – angedeutet, dass das erste nur das Fundament zu einem Selbststudium, welches das ganze Leben hindurch fortzusetzen ist, legen, dazu die Vorbereitung und Anleitung geben soll; das zweite dagegen ein gewisses Mass von Kenntnissen mittheilt, die zur allgemeinen Bildung auch des Klerikers nothwendig sind, obgleich es auch hier den Kreis derselben zu erweitern nicht an Hinweisen fehlt. Durch diesen verschiedenen Charakter der beiden Bücher wird auch ihre Darstellung wesentlich bedingt: sie bewegt sich im ersten viel freier und selbständiger, als im zweiten, wo sie öfters bloss ganz excerptenartig ist.

502 Das erste Buch, das 33 Kapitel, den Lebensjahren Christi entsprechend, zählt – wie denn eine solche spielende Zahlensymbolik eine eigenthümliche Schwäche Cassiodors ist –, besteht der angezeigten Tendenz gemäss hauptsächlich aus einer mehr oder weniger räsonnirenden Angabe der literarischen Hülfsmittel – wobei der Verfasser sich aber principiell auf die lateinischen Werke oder auf Uebersetzungen aus dem Griechischen beschränkt. Dulcius enim ab unoquoque suscipitur, quod patrio sermone narratur. Praef. Daher liess er denn auch selbst die Uebersetzungen einzelner wichtiger Werke anfertigen, deren weiter unten gedacht wird. Er gedenkt hier zunächst der zum Studium der heiligen Schrift erforderlichen, deren Bücher der Reihe nach vorgeführt werden, um ihre Erklärer anzumerken, welche in der Klosterbibliothek selbst sich fanden (c. 1–9); hieran schliessen sich einige Kapitel, worin von den verschiedenen Eintheilungen der Bibel, von den bei der Verbesserung der Handschriften derselben, die für eine herrliche Aufgabe erklärt wird, zu beobachtenden Rücksichten (c. 15), und von dem Werthe der heiligen Schrift, dem Nutzen ihres Lesens gehandelt wird (c. 16); anhangsweise wird hier noch der wichtigsten Werke über die Dreieinigkeit und die kirchliche Disciplin gedacht. In einem folgenden Kapitel (17) empfiehlt Cassiodor das Studium der christlichen Historiker, welche auch, wenn sie kirchliche Dinge berichten, und wenn sie in der allgemeinen Geschichte alles dem Willen des Schöpfers zuschreiben, wahrhaft erbauen können. Qui cum res ecclesiasticas referant, et vicissitudines accidentes per tempora diversa describant, necesse est, ut sensus legentium caelestibus semper rebus erudiant, quando nihil ad fortuitos casus, nihil ad deorum potestates infirmas (ut gentiles fecerunt), sed arbitrio Creatoris applicare veraciter universa contendant. Zuerst nennt er hier den Josephus, der fast ein zweiter Livius in seinen Büchern jüdischer Antiquitäten sei Was sich hier offenbar auf seine Ausführlichkeit bezieht, wie ein folgendes late diffusus zeigt., welche Cassiodor von Freunden in das Lateinische habe übersetzen lassen. Nach ihm sei Eusebius Rufinus zu lesen, dann jene nach dem Griechischen verfasste Historia tripartita , an der Cassiodor selbst Antheil hat und auf die wir weiter unten zurückkommen. Nach diesen Kirchenhistorikern werden Orosius' Werk und die vier Bücher des Marcellin De temporum qualitatibus et positionibus locorum empfohlen. Es folgen die 503 ›Chroniken‹ des Eusebius-Hieronymus, des genannten Marcellin und des Prosper. Den Beschluss aber machen die von Cassiodor in einem Bande vereinten literarhistorischen Werke des Hieronymus und Gennadius De viris illustribus: nach ihnen mag sich jeder den Autor aussuchen, mit dem er am liebsten sich unterhalte. – An den Schluss dieses Kapitels knüpfen sich die nächstfolgenden, worin Cassiodor zuerst selbst die fünf bedeutendsten Autoren der christlichen Kirche des Abendlandes, Hilarius, Cyprian, Ambrosius, Hieronymus und Augustinus kurz, aber allerdings auch sehr unvollkommen charakterisirt, und dann noch den Auszug des Eugippius aus den Werken Augustins und die Schriften des Dionysius des Kleinen empfiehlt, über welchen berühmten Mönch, mit dem er näher bekannt war, er sich mit hohem Lob ausführlich verbreitet (c. 23).

Mit solchen Hülfsmitteln gebildet, zu denen noch eine Kenntniss der Kosmographie kommt (c. 25), sollen die Mönche dann, den Wegen der Erklärer folgend, der Bibel das gründlichste Studium widmen, wofür Cassiodor hier Fingerzeige gibt. Er zeigt darauf noch, auf das folgende Buch hinweisend, wie nützlich zum vollen Verständniss der Bibel die Kenntniss der sieben freien Künste sei, die sich in der heiligen Schrift als der Quelle ( origo ) der allgemeinen und vollkommenen Weisheit zerstreut fände. Von der Bibel ist auch die weltliche Wissenschaft ausgegangen, ja ihr diebisch von den Heiden entwandt, die sie zu ihren bösen Listen gebrauchten: nun soll sie zu dem Dienste der Wahrheit zurückgeführt werden. Et quod illi (sc. antiqui) ad exercendas versutias derivarunt, nos ad veritatis obsequium laudabili devotione revocemus; quatenus quae inde furtive sublata sunt, in obsequium rectae intelligentiae honesta conditione reddantur. c. 27. Die allerdings nicht neue Art der Rechtfertigung des Studiums der heidnischen weltlichen Wissenschaft wurde doch für gewisse Epochen der Folgezeit von Bedeutung. Auf das Beispiel der grossen gelehrten Kirchenväter, ja auf das selbst von Moses, der in jeder Weisheit der Aegypter unterrichtet war, wird zur Nachahmung hingewiesen. Diejenigen Mönche aber, welche zu beschränkten Geistes sind, um sich den humanen und den göttlichen Wissenschaften widmen zu können, mögen das Feld und den Garten bebauen, wofür sich indessen auch literarische Hülfsmittel in den Werken des Gargilius Martialis, Columella und Aemilianus auf der Klosterbibliothek fänden; kommen die 504 Früchte dieses Fleisses den Armen, Reisenden und Kranken zu gut, so haben sie, so irdisch sie sind, doch himmlischen Werth. Solche Labung aber zu bereiten, ladet mit seinen wohl bewässerten Gärten und Fischteichen ( vivaria ) das Kloster Vivarium ein, von dem hier eine anmuthige Beschreibung gegeben wird (c. 29). In diesem Kapitel empfiehlt Cassiodor auch Cassians Werk den Mönchen zur eifrigen Lectüre, aber unter Verwarnung vor seinen Ansichten über die Willensfreiheit. Ueber dem Kloster auf der Höhe des Berges Castellum waren auch für solche, die dem Einsiedlerleben sich weihen wollten, Stätten zu finden. – Doch noch höher als die empfohlene Landwirthschaft stellt Cassiodor, ja am höchsten, wie er offen bekennt (c. 30), unter allen körperlichen Arbeiten die der Abschreiber ( antiquarii ), wenn sie anders getreu abschreiben, weil sie durch das wiederholte Lesen der heiligen Schriften ihren Geist heilsam unterrichten, und die Gebote des Herrn durch Schreiben weit und breit aussäen. Ihr Händewerk preist der Verfasser mit beredten Worten. So viele Wunden, ruft er hier unter anderm aus, empfängt Satan, als Worte des Herrn der Antiquarius abschreibt! Die Dreizahl der beim Schreiben gebrauchten Finger erinnere an die Dreieinigkeit. – Wie werthvoll für die Kultur war in jener Zeit und noch lange nachwirkend dieses den Bücherschreibern gespendete Lob! Dies wird in dem Vorwort zu der Schrift › De orthographia‹ wiederholt, wo es dann heisst: Vox articulata a pecoribus nos sequestrat, scribendi vero ratio ab imperitis dividit et confusis: ita perfectum hominem duo ista sibi vindicant et defendunt. – Rücksichtlich der Rechtschreibung verwies Cassiodor auf die in der Bibliothek gesammelten Orthographen und auf sein eignes zu diesem Zweck verfasstes Buch. Nachdem er dann noch an die Krankenpfleger sich gewandt, ihnen das Studium der Kräuter und der medicinischen Literatur anempfehlend (c. 31), schliesst er mit einer Ermahnung der beiden Aebte wie der Mönche seines Klosters zu allen christlichen Tugenden und mit einem Gebet das erste Buch, das auch durch einen einfachen natürlichen Ausdruck, indem der Verfasser von vornherein S. das Vorwort. auf eine ›affectirte Beredsamkeit‹ bei einem solchen Vorwurf verzichtete, vor andern Schriften desselben sich auszeichnet.

Das zweite Buch der Institutionen, welches nur ein mehr oder weniger kurzes Compendium ist, wie es denn auch, was 505 wohl zu beachten, nach Aussage des Verfassers selbst S. l. I, c. 21 und vgl. ibid. c. 28. nur für ›einfache‹ ungelehrte Mönche geschrieben ist, welche den weltlichen Studien fern gestanden, liegt zu weit ausser dem Kreise unserer Aufgabe, um darauf hier näher einzugehen. – Die Institutionen sind aller Wahrscheinlichkeit nach um das Jahr 544 verfasst S. Franz, S. 47. Für diesen Zeitpunkt, der also nur einige Jahre nach seiner Niederlassung in Vivarium fällt, spricht auch die Ermahnung der Aebte und Mönche am Schluss, in welcher das Kloster ihnen gleichsam übergeben wird; die Art ihrer Abfassung erlaubt nicht wohl einen spätern Termin anzunehmen. Die Ansicht Thorbecke's (S. 48), welcher die Abfassung der Institutionen ein paar Jahre vor die des Buchs › De orthographia‹ setzt, ist aus mehrern und ganz verschiedenen Gründen durchaus falsch; es genügt, nur einen davon zu erwähnen: Cassiodor hatte, wie er Inst. I, c. 4 sagt, erst 20 Psalmen commentirt, als er dies Werk verfasste. und das erste Werk, das Cassiodor in seinem Kloster vollendete; am Ende seiner literarischen Laufbahn hat er es aber noch einmal revidirt, wie die Erwähnung des Buchs De orthographia zeigt, seiner letzten Arbeit. Diese, welche gleichsam eine Ergänzung zu den Institutionen bildet, hat er nach eigner Angabe im 93. Jahre verfasst; es ist auch eine blosse Sammlung von Excerpten aus den in seiner Bibliothek befindlichen Orthographen ohne eine systematische Ordnung. Interessant ist in mancher Beziehung das Vorwort, worin er unter anderm die von ihm in Vivarium verfassten Werke in chronologischer Reihenfolge aufführt.

Das erste, welches Cassiodor dort begann, aber weit später als die Institutionen beendete, wie es denn ein sehr voluminöses Werk ist, ist seine Erklärung des Psalters. Schon wegen der grossen einflussreichen Verbreitung, die sie im Mittelalter gefunden, verdient sie eine kurze Berücksichtigung hier. Nachdem in einem Vorwort der Werth der Psalmen, welche dem aus den Stürmen des Weltlebens sich zurückziehenden Autor den ersten geistlichen Trost geboten, mit oft begeisterten Worten gepriesen ist, führt zunächst eine längere Einleitung in ihr Studium ein, in welcher unter anderm auch die von Cassiodor befolgte Methode der Erklärung (c. 14) dargelegt wird. Der Commentar soll sich hiernach auf sechs Punkte erstrecken: 1) Erläuterung der Ueberschrift des Psalms, 2) seine Eintheilung, 3) seine Erklärung, die theils nach dem geistigen Verständniss, theils nach dem historischen Wortlaut, theils nach dem 506 mystischen Sinne zu geschehen hat Tertio, arcanum psalmi partim secundum spiritualem intelligentiam, partim secundum historicam lectionem, partim secundum mysticum sensum, rerum subtilitates discutiens, proprietatesque verborum, prout concessum fuerit, conabor aperire. , 4) Darlegung seiner virtus , d. h. seiner Moral, 5) die Bedeutung seiner Zahl – beide zuletzt erwähnte Punkte, nur ›wenn es die Sache verlangt‹ – 6) den Schluss, wo der Inhalt noch einmal kurz zusammengefasst, oder gegen die Ketzer polemisirt werden soll. In der Ausführung aber zerfällt bei Cassiodor der Commentar jedes Psalms nur in vier Abschnitte, dem ersten, zweiten, dritten und sechsten Punkte entsprechend, indem der vierte Punkt im dritten, der fünfte im vierten Abschnitt, meist ganz am Ende, behandelt wird. Einige Seiten der Erklärung Cassiodors, welche hauptsächlich auf die Enarrationes in Psalmos des Augustin, allerdings mit Benutzung auch anderer Hülfsmittel, sich gründet, haben auch ein allgemeineres, literarisches Interesse. Ich meine einmal die vielen Typen, die sich darin finden, in Folge der mystischen Beziehungen auf Christus und die Kirche, die man in den Psalmen sah, und die in allen Einzelheiten darzulegen Cassiodors sorgfältigstes Bemühen ist. So wird im dritten Psalm in Absalon Judas vorgebildet gesehen, und die Todesart des letztern in der von diesem, ein Typus, der im ganzen Mittelalter sich erhielt. Ich will damit aber durchaus nicht gesagt haben, dass dieser, oder andere Typen zuerst in Cassiodors Psalmencommentar sich fanden, aber sie erhielten durch ihn eine weite Verbreitung. – Hiermit hängt denn die Zahlenmystik zusammen, worin kein Autor des ältern Mittelalters so viel als Cassiodor geleistet hat. So steht der vierte Psalm an vierter Stelle, weil er der Welt gepredigt wird, denn der ganze Umfang der Erden ruht in vier Angelpunkten, wie die Welt auch vier Jahreszeiten und vier Hauptwinde hat. Admonet etiam numerus iste quaternarius ut eum mundo praedicatum virtute Evangelica sentiamus. Congruum siquidem fuit, ut cunctus terrarum ambitus in quatuor cardinibus constitutus salutari Domino credere moneretur etc. Eine andere bemerkenswerthe, für Cassiodor recht bezeichnende Eigenthümlichkeit seines Commentars besteht darin, dass er gern jede Gelegenheit ergreift, ihn zum Unterricht in den profanen Wissenschaften, vor allem der Rhetorik, zu benutzen: so wird z. B. beim dritten Psalm weitläufig der Unterschied von Auxesis und Climax entwickelt, und ebenda 507 weiter unten der Begriff des Tropus gegeben. Ja, Cassiodor setzt geradezu einen Stolz darein nachzuweisen, wie alle möglichen Schemata und Figuren in den Psalmen bereits sich angewandt fänden, lange vor den Schulen der Heiden, wie er an einer Stelle triumphirend ausruft (Ps. 23). Auch liebt er es sehr zu etymologisiren, freilich ganz in der absurden Weise, wie sie damals in Mode war, und noch lange bleiben sollte.

Eine andere in Vivarium verfasste exegetische Schrift Ein paar sind verloren gegangen; ein Commentar zum Hohen Lied wird ihm mit Unrecht beigelegt. Cassiodors Complexiones in epistolas et acta apostolorum et apocalypsin , welche, ganz im Gegensatz zu dem Psalmencommentar, im Mittelalter durchaus unbekannt geblieben, hat für uns um so weniger hier ein Interesse. Dagegen verdient die auch in dem Kloster entstandene sogenannte Historia ecclesiastica tripartita in 12 Büchern, welche das hauptsächlichste kirchengeschichtliche Handbuch des Mittelalters wurde, mehr Berücksichtigung. An diesem Werk hat aber Cassiodor nur einen entfernteren Antheil. Er liess nämlich zur Ausfüllung der Lücken, welche das Werk des Rufin dem Abendland in der kirchengeschichtlichen Kenntniss lassen musste, die drei griechischen Kirchenhistoriker Socrates, Sozomenus und Theodoret, die um dieselbe Zeit, aber unabhängig von einander, die Geschichte des Eusebius bis ins zweite und dritte Jahrzehnt des fünften Jahrhunderts fortgeführt hatten, durch den ihm befreundeten Epiphanius ins Lateinische übersetzen, und verschmolz selbst die drei übersetzten Werke zu einem, indem er in den verschiedenen Partien bald dem einen, bald dem andern der drei Autoren – allemal natürlich dem, der ihm da am gründlichsten erschien, – vorzugsweise folgt, und seinen Bericht dann aus dem der beiden andern ergänzt; so erstrebte Cassiodor allerdings die möglichste Vollständigkeit, aber die Verbindung der Excerpte ist eine so rohe und äusserliche, dass man mit Recht das Werk einen cento historiarum genannt hat. So Franz, der S. 104 ff. eine sehr gründliche Untersuchung der › Historia tripartita‹ gewidmet hat, auf die wir hier für alles einzelne verweisen. Unklarheiten, Widersprüche, Wiederholungen, Verwirrungen der chronologischen Ordnung sind davon die Folge. Erscheint also das Werk seiner Redaction nach, in der Cassiodors Antheil besteht, als ein 508 unüberlegtes und eilfertiges, so ist auch die Uebertragung des Epiphanius nicht minder flüchtig gemacht; trotz einer so wörtlichen Wiedergabe, dass der lateinische Stil und das römische Kolorit darunter leiden, ist sie von mannichfachen Fehlern entstellt.

Diese Arbeit Cassiodors weist auf die früher von ihm während seiner staatsmännischen Thätigkeit verfassten Werke zurück. Sie waren zum Theil auch historische; selbst das älteste, welches uns erhalten ist, eine Chronik, die er im Jahre 519 verfasst hat. Sie ist dem Eidam Theoderichs, dem Gemahl der Amalasuntha, Eutharich, gewidmet, der in diesem Jahre Consul für den Occident war. Auf den ersten Blick scheint zwar diese Chronik eine Weltchronik zu sein, da sie im Anfang nach Bestimmung der Zeiträume von Adam bis zur Sündfluth und von dieser bis Ninus eine assyrische Königsliste gibt, an welche sich eine ebensolche lateinische und römische anschliessen: aber sie ist in der That und soll auch nur, wie die Vorrede bezeugt, eine Consularchronik sein; jene Königslisten dienen bloss zur chronologischen Verknüpfung der Consularliste mit dem Anfang der Dinge. In der ganzen Einleitung, wie man die den Consuln vorausgehende kurze Partie nennen könnte, folgt Cassiodor Eusebius-Hieronymus, in der Consularchronik selbst aber, nach Mommsen Der nur genauer die von Cassiodor selbst am Schluss gemachte Quellenangabe bestimmt hat., bis 745 u. c. einer Epitome aus Livius, von da bis 31 nach Chr. dem Geschichtswerke des Aufidius Bassus, darauf in Betreff der Consularliste dem Paschale des Victorius, das auf Prospers Chronik sich gründete, in Betreff der hinzugefügten Notizen aber ausser Hieronymus der Chronik Prospers selbst bis 455; von hier ab, wo Cassiodor für uns selbst Quelle wird, scheint er bis 495 Nach Holder-Egger (Neues Arch. Bd. 1, S. 247 ff.), der hier überhaupt zu vergleichen, 493, s. ebenda S. 249. aus den Ravennatischen Annalen, von 496 aber an nur aus eigner Kunde geschöpft zu haben. Was die Ausführung angeht, so ist die Consularliste durchaus die Hauptsache, also das chronologische Moment, so wenig darin Cassiodor auch die nöthige Gewissenhaftigkeit und Umsicht zeigt S. Mommsen, namentlich S. 566.; in dem Abschnitt, wo er in ihr den alten Autoren folgt, bis 31 nach Chr., sind die hinzugefügten Notizen geschichtlicher Ereignisse so selten und so willkürlich ausgewählt, dass man sie 509 fast für spätere Notate von andern halten sollte, indem der eine dies, der andere jenes, was ihn gerade interessirte, hinzugeschrieben hätte: so ist vom zweiten punischen Krieg nichts weiter angemerkt als unter dem Jahre 535 Hannibal Hamilcaris filius in Hispania bellum molitur , vom dritten aber gar nichts gesagt, während dagegen z. B. unter dem Jahre 596 u. c. die Notiz metalla in Macedonia instituta sich findet. Vom Jahre 31 nach Chr. an sind der Anmerkungen etwas mehr, indem namentlich der Tod der Kaiser angeführt wird; die meisten noch seit dem fünften Jahrhundert, und dabei ist höchst beachtenswerth, wie rücksichtsvoll gegen die Gothen in der Redaction derselben Cassiodor verfährt, sei es durch Weglassung alles sie Verletzenden aus den Nachrichten seiner Quellen, sei es durch ehrenvolle Zusätze: nur ist allerdings in Betracht zu ziehen, dass Cassiodor damit die Thatsachen nicht geradezu umgeändert hat, und die Widmung des Buchs an den präsumtiven Thronfolger der Gothen ihm gewisse Rücksichten der Höflichkeit auferlegte. In Betreff der Weglassungen – er hätte das Buch ihm eben nicht widmen dürfen. Es hängt sein Verfahren aber auch mit der politischen Tendenz, die er als Staatsmann verfolgte, unmittelbar zusammen; die Gothen sollten auch hier nicht in dem abschreckenden Lichte der andern Barbaren erscheinen, in das sie oft auch nur der parteiische Hass seiner römischen, obgleich christlichen, doch katholischen Gewährsmänner gesetzt hatte.

Jene Tendenz der Aussöhnung der römischen Bevölkerung mit den Gothen und ihrer Herrschaft leitete Cassiodor mehrere Jahre später S. über die Zeit der Abfassung des Werks, das wenigstens schon 534 allgemein bekannt und anerkannt war, Thorbecke S. 43 ff. – Mommsen, (Prooem. zu seiner Ausgabe des Jordanes, p. XLI) setzt die Herausgabe zwischen 526 und 533. direct bei der Abfassung eines grössern, selbständigern historischen Werkes, das er auf Anordnung Theoderichs selbst unternahm. Nach dem Anecd. Hold., a. a. O. S. 4, Zeile 27 u. S. 72. Es sind zwölf Bücher gothischer Geschichten, die uns aber nur in der auszüglichen Bearbeitung des Jordanes erhalten sind, von welcher ich weiter unten handeln werde. Auch von seinen panegyrischen Reden auf ›die Könige und Königinnen‹ der Gothen, die sein Ernennungsrescript zum Praefectus praetorio für das Jahr 534 von ihm rühmt, und die 510 man auf Theoderich und Amalasuntha, auch Athalarich zu beziehen hätte, sind nur zweifelhafte Bruchstücke erhalten. Herausgegeben von Baudi di Vesme in den Memorie della r. Accademia di Torino. Ser. II, T. 8, p. 169 ff. Turin 1846. 4°.

Dagegen besitzen wir ein reichhaltiges Zeugniss von Cassiodors staatsmännischer Thätigkeit in einer unter dem Titel Variae (sc. epistulae) in zwölf Büchern von ihm herausgegebenen Sammlung von Rescripten, die er laut der Vorrede auf den Wunsch von Freunden zum eignen wie zum Ruhme anderer (die darin bei Gelegenheit einer Ernennung oder Beauftragung belobt werden), sowie als Muster für weniger gebildete Nachfolger im Amte um das Jahr 538 publicirte. S. Mommsen, l. l. Es sind dies gegen 400 Rescripte, welche er als Quästor wie als Magister officiorum im Namen des Königs (hauptsächlich des Theoderich, aber auch seiner Nachfolger), und als Praefectus praetorio auch im eignen Namen erlassen hat; die letztern sind in den beiden letzten Büchern gegeben, denen auch eine besondere Vorrede vorausgeht, während die andern die übrigen Bücher einnehmen mit Ausschluss des sechsten und siebenten, welche blosse Formeln von Ernennungsdecreten für die verschiedensten Aemter enthalten – die ersten Formelbücher des Mittelalters. Nach welchem Princip die Schreiben geordnet sind, ist noch nicht ermittelt.

Nicht nur durch seinen Inhalt, sondern auch durch seine Form ist dies Werk von hohem geschichtlichem Interesse: der Mannichfaltigkeit des erstern entsprechend, ist auch der Stil ein verschiedener, und gerade auf diese Verschiedenheit bezieht sich der Titel, wie der Verfasser selbst in der ersten Vorrede ausspricht. Je nach der Bildung und dem Stand der Personen, an welche die Erlasse gerichtet sind, soll auch der Stil ein mehr oder weniger gehobener sein. Und so ist denn in der That auch in diesen Schreiben die allerdings überall erstrebte Eleganz des Ausdrucks, natürlich eine Eleganz nach dem Begriffe jener Zeit, eine bald mehr, bald weniger gesuchte, mitunter selbst bis zu keinem geringem Grade der Verschrobenheit. Dieser Stil aber, von den Zeitgenossen bewundert, wurde das Vorbild des Kanzleistils des frühern Mittelalters. Sehr eigenthümlich und den Autor recht charakterisirend ist die Art und Weise, wie derselbe, um seiner stilistischen Kunst ein weiteres Terrain hier zu verschaffen, in der Regel den meist gar dürren 511 Stoff dieser amtlichen Erlasse, welche alle möglichen, die unbedeutendsten wie die wichtigsten, Dinge betreffen So finden sich neben den wichtigsten Staatsschriften solche Decrete, wodurch einem Bischof befohlen wird, das Oel, das er für die Kirche von einem ›Ioannes‹ gekauft hat, zu bezahlen (l. III, ep. 7), oder das, wodurch der Stadt Catanea erlaubt wird, die Steine des Amphitheaters zur Reparatur ihrer Mauern zu verwenden (l. l., ep. 49) u. dergl., geistig zu beleben und materiell zu erweitern strebt: wodurch auch diese Rescripte überhaupt erst einen literarischen Charakter erhalten haben. Cassiodor bedient sich vornehmlich eines doppelten Hülfsmittels: einmal, eine allgemeine Wahrheit, ein Grundsatz der Moral, des Rechts, der Politik u. s. w., der aus dem Gegenstand des Erlasses sich von irgend einer Seite her abstrahiren lässt, öfters auch ein Motiv des letztern bildet, wird – meist sogleich im Eingange – zum Thema einer sentenziösen Erörterung gemacht, die sich oft allerdings in blossen Gemeinplätzen bewegt, mitunter aber auch originelle geistreiche Bemerkungen enthält; dann aber macht unser Autor auch nicht selten gelehrte Digressionen auf die verschiedensten Gebiete der Politik, der Wissenschaft, Kunst, selbst des Handwerks, und lässt da mit Behagen das Licht seiner Gelehrsamkeit leuchten, sodass der Umfang der encyclopädischen Bildung Cassiodors nirgends offener zu Tage tritt. Dass einzelne solcher Abschweifungen, die einem pikanten Füllsel gleichen, erst bei der Redaction der Sammlung für die Herausgabe eingefügt worden sind, lässt sich keinesfalls leugnen. So z. B. l. IV, ep. 50 die lange Beschreibung des Ausbruchs des Vesuv.

Noch ein Werk Cassiodors erübrigt uns zu betrachten, welches das Bild der Vielseitigkeit seiner literarischen Thätigkeit vervollständigt, und noch von der besondern Bedeutung ist, dass es gleichsam die Brücke zwischen seiner weltlichen und seiner geistlichen Schriftstellerei bildet: es ist eine kleine philosophische Schrift, De anima , die unmittelbar nach Vollendung der Edition der Variae , auch auf den dringenden Wunsch von Freunden, in kurzer Zeit verfasst wurde. Man sieht schon, wie Cassiodor die praktische Wirksamkeit mit der des Schriftstellers zu vertauschen beginnt; zugleich wendet er sich nicht bloss in dem Thema dieser literarischen Arbeit dem theoretischen Leben zu, sondern es spricht sich auch in ihr, 512 namentlich am Schluss, die Sehnsucht, wenn nicht schon selbst der Entschluss zu einer Gott geweihten, beschaulichen Zurückgezogenheit aus.

Die Fragen seiner Freunde zu beantworten, behandelt nun Cassiodor in diesem Büchlein erstens den lateinischen Ausdruck für ›Seele‹, anima , welcher unter Berufung auf eine seltsame Etymologie nur dem Menschen zukommen soll Anima quasi ἄναιμα id est a sanguine longe discreta; das Leben der Thiere nämlich beruhe im Blute. c. 1.; zweitens gibt und begründet er die Definition der Seele, die nach ihm eine von Gott geschaffene geistige und eigenthümliche Substanz ist, welche ihren Körper belebt, vernünftig und unsterblich, aber zum Guten wie zum Bösen wendbar ist; drittens untersucht er ihre Qualität und findet, dass sie Licht ( lumen ) sei, weil sie nach dem Bilde Gottes geschaffen, im Hinblick auf 1. Timoth. c. 6, v. 16, und Evang. Joh. c. 1, v. 9. Im vierten Kapitel zeigt er, dass die Seele nicht eine Form hat, welche er freilich auf die räumliche Ausdehnung beschränkt; im fünften gedenkt er ihrer ›moralischen‹, im sechsten ihrer ›natürlichen‹ Tugenden, indem er unter jenen zunächst die vier Cardinaltugenden versteht, die aber noch durch drei andere vervollständigt werden: die Contemplation, die Urtheilskraft ( iudicialis ) und das Gedächtniss 5 virtutes naturales: v. sensibilis, imperativa, principalis, vitalis, delectatio werden unterschieden.; das siebente Kapitel behandelt den Ursprung der Seele (sie wird von Gott geschaffen), das achte ihren Sitz: er ist der Kopf, obgleich sie durch den ganzen Körper sich verbreitet; letzterer wird dann im folgenden Kapitel als ›Tempel‹ der Seele in seiner zweckmässigen Schönheit betrachtet, eine Darstellung, die an Lactanz' De opificio dei erinnert. Das zehnte und elfte Kapitel haben einen ganz eigenthümlichen Inhalt, indem das erstere von der Erkennung der bösen, das andere von der der guten Menschen handelt. Die ›Zeichen und Indicien‹, woran die einen und die andern äusserlich zu erkennen sind, sollen hier angegeben werden. Cassiodor schickt die Bemerkung voraus, dass alle Seelen ohne den wahren Glauben durchaus hässlich sind, auch die der Philosophen, welche nicht dem Gesetze des Schöpfers, sondern vielmehr dem menschlichen Irrthum folgen; ebenso aber auch die der Gläubigen, welche mit Verbrechen sich beflecken. Dies sind also die Bösen. Ihr 513 Angesicht ist bei aller körperlichen Huld umwölkt, sie sind traurig mitten in der Freude, da bald darauf die Reue folgt, ihre Blicke unstät, umherschweifend, ängstlich, argwöhnisch, sie forschen besorgt nach dem Urtheile anderer, da sie das eigne verloren. – – Die Frommen dagegen sind die Asketen, welche das Fleisch bekämpfen, die sich selbst gering achten und immer anklagen, sich missfallen, wenn sie allen gefallen. Sie sind, selbst noch im Körper, stärker als die bösen Engel, denen sie gebieten. Sie können sogar Wunder verrichten. Ihr Antlitz ist heiter und ruhig, abgemagert und mit Blässe geziert, bei beständigem Weinen freudig, ehrwürdig durch einen langen Bart, das reinste ohne Schmuck; ihre Blicke tugendhaft einnehmend, die Stimme massvoll und sanft, der Gang nicht zu langsam, nicht zu rasch. – – Diese Schilderung des Menschenideals, worin der Unterschied, ja Gegensatz zu dem Alterthum die völlige Wandlung der Zeiten so entschieden bekundet, ist auch im Hinblick auf die bildende Kunst des ältern Mittelalters beachtenswerth. – Das letzte Kapitel endlich handelt von dem Zustand der Seelen nach dem Tode und vom ewigen Leben. Die Höllenstrafe wie die himmlische Seligkeit versucht hier der Verfasser mit beredten Worten zu schildern, indem er jedoch die letztere vornehmlich in die höchste Sicherheit nicht sündigen zu können setzt. Eine kurze Recapitulation des Inhalts der zwölf Kapitel endigt mit dem Lobe der Zwölfzahl. – Hiernach fordert Cassiodor seine Freunde auf, sich Gott ganz zu opfern, ›indem wir ihn erkennen, ihn lieben, erkennen wir auch unsere Seelen erst wahrhaft‹. Die durch Christus geadelte Demuth führt allein zu Gott hin; wie der Stolz der Ursprung der Verbrechen, so ist sie die Quelle der Tugenden. Den Beschluss dieses Buchs macht ein Gebet.

Auch dieses Werk charakterisirt in seiner Ausführung die schriftstellerische Thätigkeit Cassiodors überhaupt. Wie es nicht aus eignem innern Antrieb, sondern zur Belehrung anderer auf deren dringliche Aufforderung entstanden und rasch hingeworfen ist, so enthält es weit weniger die Resultate eignen Nachdenkens, als einer mannichfaltigen Lectüre Dies wird im Eingang des 12. Kapitels offen ausgesprochen; es beginnt: Quaeratis forsitan, post hoc saeculum animae nostrae quid agant qualesque permaneant. Respondemus ut diversa lectione collegimus. Vgl. auch Ritter, Gesch. der Philos. Bd. 6. S. 601 ff.; namentlich ist der 514 directe Einfluss des Claudianus Mamertus, wie des Augustin nicht zu verkennen. Andererseits aber begegnen wir auch hier wieder wie dem Streben, so auch dem Talent des Praktikers, die Wissenschaft zu popularisiren, welches sich sowohl in der Uebersichtlichkeit der Composition, als auch in der allerdings oberflächlichen, aber oft ganz ansprechenden Leichtigkeit der Darstellung und der Einfachheit des Ausdrucks offenbart. So hat denn auch diese Schrift Cassiodors auf das ältere Mittelalter mannichfach anregend eingewirkt.

 


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