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Sechstes Kapitel.

Paulinus von Perigueux.

Ein Seitenstück zu jenen Uebertragungen des biblischen Prosatextes in Verse, wie sie mit Iuvencus anheben, und die mit der Zeit zu so selbständigen Dichtungen als die des Avitus führten, bilden Versificationen von in Prosa verfassten Heiligenleben, wie uns eine solche in umfangreicher Gestalt in der Vita Martini des Paulinus von Périgueux Bened. Paullini Petrocorii De vita b. Martini libri VI cum notis Iureti. Eiusdem ad nepotulum etc. etc. Cura et stud. Chr. Daumii. Leipzig 1681. – Oeuvres de Paulin de Périgueux – – revues sur plusieurs mss. et traduites pour la prem. fois en français par Corpet. Paris 1852. – * Paulini Petricordiae quae supersunt, rec. Petschenig. In: Poet. christ. minores. Pars I (Corp. scr. eccl. Vol. XVI). in dieser Epoche entgegentritt. Ueber diesen Dichter wissen wir nichts weiter, als was im Folgenden gelegentlich seiner Dichtungen von uns gesagt wird; nur sei noch bemerkt, dass er in dem Gedicht über die Heilung seines Enkels, welches im Anfang der siebziger Jahre verfasst zu sein scheint, sich als › senex‹ bezeichnet; hiernach möchte sein Geburtsjahr in den Anfang dieses Jahrhunderts zu setzen sein. Die gegen 470 vollendete S. weiter unten S. 405, Anm. 2. Dichtung ist in Hexametern und umfasst sechs Bücher, von welchen die drei ersten eine Bearbeitung der Vita Martini des Sulpicius Severus sind, indem Buch I (386 Hexam.) bis c. 8 der Vita geht, d. h. bis zum Episcopat Martins, Buch II (726 Hexam.) bis c. 19, d. h. bis zur Heilung Paulins von Nola und der des Martinus selbst, der eine Treppe herabgefallen, Buch III (458 Hexam.) bis zum Schluss der Vita des Severus, indem es, dieser folgend, mit einem Lob Martins endet. (Die der Vita angehängten Episteln, namentlich die, welche Martins Ende schildert, sind von dem Dichter nicht benutzt.) Das vierte und fünfte Buch gründen sich ebenso auf 403 die Dialoge des Severus, und zwar Buch IV (673 Hexam.) auf die zweite Abtheilung des ersten, Buch V (873 Hexam.) auf den zweiten Dialog. Nach unserer Zählung, s. oben S. 333. In dem sechsten Buche (506 Hexam.) ist Paulinus aber einem andern Autor gefolgt. Er hat hier einen Bericht des damaligen Bischofs von Tours, Perpetuus über die Wunder des Heiligen nach seinem Tode, namentlich solche, von denen er selbst am Grabe desselben Zeuge gewesen, bearbeitet. Die Dichtung ist gewiss allmählich entstanden: anfangs hatte der Verfasser auf die Vita des Severus sich beschränkt, er kannte offenbar die Dialoge noch nicht; als diese ihm mitgetheilt wurden, fügte er das vierte und fünfte Buch hinzu Dies zeigt der Eingang des vierten Buchs; ebenso ergibt sich das Folgende aus dem des sechsten.; denen erst später das sechste sich anschloss: vielleicht hatten die frühern Bücher selbst erst dem Perpetuus die Anregung zu seiner Aufzeichnung gegeben. Das ganze Werk aber, zu dem ihn dieser wohl ermuntert hatte Dafür spricht der Eingang des Prologs der Carmina minora und wohl auch der in einer Handschrift sich findende der Vita S. Martini selbst, obgleich sich dieser zunächst nur auf ihr letztes Buch, die Bearbeitung der von Perpetuus verfassten Erzählung bezieht, denn nur diese kann unter der von ihm dem Paulin gesandten historia tam splendida, ut rectissime, si ita iussisset vestra benedictio, ad totius orbis notitiam pervenisset, verstanden werden, nicht die Vita des Severus., war eine Captatio benevolentiae an den Heiligen, der dem Dichter die Gesundheit, und wohl der Augen In der ersten Auflage konnte dies von mir ohne Einschränkung gesagt werden, da die angezogene Stelle in dem damals vorliegenden Texte lautete: Auxilio Domini vultus mihi redde salutem, Petschenig aber gibt auf Grund aller von ihm verglichenen Handschriften statt vultus: fultus. zurückgeben sollte (I, v. 305 ff.); hatte doch Martin auch gerade auf diesem Felde durch Wunderkuren sich berühmt gemacht. S. oben S. 333, Anm. 2. Dieser praktische Zweck muss den Verfasser entschuldigen, dass er das Werk unternahm, obgleich er von seiner literarischen Fähigkeit selbst, wie er wiederholt ausspricht, eine sehr geringe Meinung hatte, ja eingesteht (IV, v. 7 f.), dass die Kraft des Severschen Ausdrucks, ›durch das Metrum erweicht‹, sehr verliere         Cum vis verborum, viva virtute coruscans,
        Perderet ingenitum metro mollita vigorem.

Dass hier nicht die Prosa überhaupt, sondern insonderheit die des Severus gemeint ist, lehrt der ganze Zusammenhang der Stelle.
, aber er tröstet sich damit, 404 dass nicht alle zu den Quellen selbst dringen mögen, sondern sich mit dem Wasser der Bäche, obgleich ihm die Frische fehlt, begnügen. Die Stelle charakterisirt die Arbeit Paulins. Er folgt einerseits im allgemeinen, von einzelnen Auslassungen, namentlich allen persönlichen Bemerkungen des Severus abgesehen, diesem Schritt für Schritt im Gange seiner Darstellung, wobei er auch manchmal von Wörtern und Wendungen seiner Vorlage Gebrauch macht: andererseits aber hat er die Darstellung paraphrasirend erweitert und keineswegs nur in soweit dies die Versification erforderte, denn er bewegt sich mit Behagen in den weitschweifigsten Umschreibungen Sein Verfahren mag ein Beispiel zeigen. Severus sagt von seinem Helden Vita, c. 2: frugalitatem in eo laudari non est necesse, qua ita usus est, ut iam illo tempore non miles, sed monachus putaretur; und ein wenig weiter unten rühmt er von ihm das › alere egentes‹. Bei Paulin wird dies also übertragen (I, v. 56 ff.):
        Tum sumendorum districtio quanta ciborum,
        Ne distenta citum vitiarent viscera sensum,
        Nec premeret vigilem membrorum sarcina mentem,
        Ut divisa inopi praeberet copia partem,
        Quaeque unum obrueret, melius refoveret utrumque:
        Nam sic supplicibus diviserat omnia egenis,
        Ut sola exesis superessent tegmina membris.

Von den › membra exesa‹ sagt Severus natürlich überhaupt nichts – es ist ein Beispiel der Uebertreibungen Paulins.
, wobei er zu Gunsten seines Helden übertreibt, und das Wunderbare noch zu steigern bestrebt ist; aber er malt auch im Detail aus, nicht ohne Geschick und mit wahrer Empfindung, wie in der Erzählung von der Heilung des stummen Mädchens V, v. 18 ff., wo freilich den 16 Zeilen des zweiten Dialogs des Severus (c. 3) nicht weniger als 83 Verse entsprechen. Nicht selten endlich erweitert er seine Darstellung durch lange Exclamationen und Apostrophirungen, worin er seinem Herzen Luft macht, so in Bewunderung der Tugenden des Heiligen, oder im Groll gegen den diesen immer von neuem wieder versuchenden Teufel. Was den Ausdruck betrifft, so hält er sich wenigstens von Schwulst frei, in der Erzählung oft ganz lesbar, erscheint er sehr steif in den Eingängen.

Wir besitzen von unserm Autor noch zwei kleine Gedichte, die auch in einer Beziehung zu dem heiligen Martin stehen: das eine (80 Hexam.), Versus Paulini de visitatione nepotuli sui 405 betitelt, feiert ein Wunder, das der Heilige sehr indirect, nämlich durch die oben erwähnte Schrift des Perpetuus, an einem kranken Enkel des Dichters und dessen kranker Braut vollbrachte, indem sie durch Auflegung der Schrift – die schweisstreibend wirkte! – gesundeten; das andere, kürzere Gedicht ist eine Aufschrift von 25 Hexametern für die neue Basilika, die Perpetuus um 470–73 Nach Tillemont, Hist. ecclés., X, 2. dem Heiligen gebaut, verfasst auf den Wunsch jenes Bischofs. Beide Gedichte sandte ihm Paulin zugleich. Aus ihrem an Perpetuus gerichteten Prologus geht hervor, dass das günstige Urtheil des Bischofs über die Dichtung Paulins auf den heil. Martin ihn zu der Aufforderung in Betreff der Aufschrift bestimmt hatte. Da nun im sechsten Buche der Vita Mart. Paulins eines Wunders gedacht wird, das ein der politischen Geschichte angehöriges Ereigniss des Jahres 459 – den Sieg des in Arles belagerten Aegidius über die Westgothen (v. 111 ff.) – betrifft, so ist 460 der Terminus, über welchen die Vollendung der Vita Mart. nicht zurückdatirt werden könnte. Die Darstellung macht aber an jener Stelle ganz den Eindruck, als sei Aegidius schon todt gewesen, als Paulin schrieb; er starb aber 464: also ist die Vita zwischen 464 und 470 entstanden. Eine gleiche Aufforderung erhielt von ihm Apollinaris Sidonius, der ihr ebenwohl nachkam. S. Sidon. Apoll., Epp. 1. IV, ep. 18, wo uns das Gedicht selbst auch erhalten ist.

 


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