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1. Kapitel

Ich stamme aus einer mehr als dunklen Familie. Das Wort » Familie« bedarf einer Erklärung. Meine Familie war meine Mutter. Ich habe von ihr mein ganzes Leben, meine Erziehung, meinen Namen. Bis heute kenne ich meinen Vater nicht. Wenn er lebt, wird er, wie jedermann, in den Zeitungen von meiner Verhaftung gelesen haben, und er wird sich freuen, daß er ein Kind nicht anerkannt hat, welches seinen Namen vor die Geschworenen geschleift hätte, vorausgesetzt, daß sich mein Schicksal nicht anders gestaltet haben würde, falls er sich meiner angenommen.

Bis zu meinem zehnten Lebensjahre besuchte ich eine kleine Privatschule in der Nähe unserer Wohnung, wo ich lesen, schreiben, etwas rechnen, biblische Geschichte und Religion lernte. Als ich das zehnte Lebensjahr vollendet, entschloß sich meine Mutter, mich in eine höhere Lehranstalt zu geben, obzwar ihr die Trennung von mir, dem einzigen Wesen auf der Welt, welches sie lieben konnte, furchtbar schwer fiel. Damals sagte sie zu mir:

»Du hast keinen Vater; das bedeutet nicht, daß er schon tot ist, sondern, daß viele Leute dich verachten und beleidigen werden wegen eines Unglücks, welches dir ihre Sympathie sichern und ihre Unterstützung zuführen sollte. Das heißt aber auch, daß wir, du und ich, ganz allein aufeinander angewiesen sind; ich werde leider nicht immer arbeiten und für dich sorgen können. Das bedeutet aber auch schließlich, daß, soviel Kummer du mir auch bereitest, ich dir dennoch verzeihen muß. Treibe keinen Mißbrauch damit!«

Mehr denn zwanzig Jahre sind seit jenen Worten verflossen, und ich habe sie noch so deutlich in Erinnerung, als hätte ich sie gestern gehört. Welch schreckliches Geschenk ist das Gedächtnis! Für welche Sünde wollte Gott die Menschen strafen, als er ihnen diese zweifelhafte Wohltat zuteil werden ließ?

Ich konnte damals, zehn Jahre alt, den vollen Sinn der mütterlichen Worte nicht verstehen; aber instinktiv fühlte ich, daß es sich um ein schweres Leid ihrerseits und um eine ernste Pflicht meinerseits handle. Ich umarmte sie – das ist die erste Antwort kindlicher Ergriffenheit; – dann sagte ich mit entschlossenem und über mein Alter festem Tone zu ihr:

»Beruhige dich, – ich werde tüchtig arbeiten und wenn ich groß bin, dann werde ich dich sicher glücklich machen.«

Meine Mutter hatte in der Rue de la Grange-Batelière ein kleines Putz- und Modegeschäft etabliert, welches einen nicht großen aber gewählten Kundenkreis hatte. Wir lebten einfach und zufrieden; zwei oder drei Arbeiterinnen waren meiner Mutter zur Hand. Diese jungen Mädchen waren mir sehr zugetan. Meine Stellung als uneheliches Kind war ohne Zweifel für sie ein Grund mehr, mich zu lieben. Die Frauen dieser Stände, nach welchen die Versuchung ihre tausendfältigen Fangarme ausstreckt, welcher sie so oft erliegen, verstehen und entschuldigen derartige Unregelmäßigkeiten. Die letzten Tage vor meinem Eintritt in die Lehranstalt suchten sie mich nach Möglichkeit zu zerstreuen, um mich das bevorstehende Exil vergessen zu lassen. Aber trotz des Mutes, welchen ich mir wiederholt zusprach, machte meine Jugend dennoch ihre Rechte geltend, und ich dachte nicht ohne innere Unruhe an die nächsten Tage.

*

Endlich war der Vorabend des großen Tages – 1. Oktober 18..! – angebrochen. Nach dem Diner sagte meine Mutter zu mir: »Machen wir uns auf den Weg, um unsere Einkäufe zu beenden.« Sie führte mich in verschiedene Läden, kaufte dort allerhand Kleinigkeiten für mich ein, welche mir den Aufenthalt in dem Institut angenehm machen und erleichtern sollten, und ich sah, daß sie mehr Geld ausgab, als unsere Verhältnisse eigentlich gestatteten – jeder Gegenstand bedeutete für sie eine Verlängerung ihrer Arbeitsstunden bis in die späte Nacht, oder vielleicht sogar in den frühen Morgen. Wir kamen nach Hause, meine Mutter setzte sich nieder, zog mich auf ihren Schoß und bedeckte mich mit heißen Küssen. Hand in Hand, den Blick ineinander versenkt und ohne ein Wort zu sprechen, saßen wir da und suchten erst spät die Nachtruhe auf.

Die Erzählung aller dieser Einzelheiten wird Ihnen unnötig vorkommen! Aber ich wiederhole es, ich schreibe nicht allein für meinen Verteidiger, sondern auch für mich selbst. Ich konnte nicht den zweiten Teil meines Lebens erzählen, ohne bei dem ersten Halt zu machen. Ich brauche Mut. Wo könnte ich den finden, wenn nicht in der Rückerinnerung an die ruhigen und heiligen Tage meiner ersten Jugend!

Am andern Tage, früh sieben Uhr, stand ich vor dem Institutsdirektor, welchem meine Mutter mich mit vielen Worten warm ans Herz legte. Endlich schlug die Trennungsstunde, meine Mutter umarmte mich nochmals, und ich war allein. Herr Fremin forderte mich sodann in liebevollem Tone auf, ihm zu folgen, und führte mich nach dem Garten zu meinen Schulkameraden. Es waren ihrer im ganzen gegen dreihundert, welche zum größten Teile Familien angehörten, die in der Finanzwelt oder unter den Großkaufleuten angesehene Stellungen einnahmen. Auch Adelige, deren Wappen neuesten Datums war, fanden sich vor.

Meine Mutter wollte mir, wie alle Personen ohne eigentliche Bildung, eine ganz vorzügliche Erziehung zuteil werden lassen. Sie glaubte am besten zu tun, wenn sie sich an eine ihrer reichsten Kundinnen wendete, deren Sohn in meinem Alter stand. Sie fragte nun, in welchem Institut dieselbe ihren Sohn erziehen lasse, da sie auch mich dort placieren möchte. Diese unvorsichtige Frage war die Ursache des ersten Schmerzes in meinem Leben. Die Dame fühlte sich beleidigt, daß ihre Modistin die Kühnheit habe, ihren Sohn, noch dazu ein uneheliches Kind, zu einem Schulkollegen ihres Sohnes, eines neugebackenen Grafen, zu machen. Meine Mutter hatte von alledem keine Ahnung. Sie war sogar so naiv, zu ihrer Mitteilung noch hinzuzufügen: »Ich bin ganz glücklich, gnädige Frau, daß mein Sohn mit dem Ihrigen beisammen sein wird. Sie waren stets so liebenswürdig mir gegenüber, daß ich sicher bin, daß Herr Fernand es auch zu meinem Pierre sein wird. Das arme Kind hat mich niemals verlassen und bedarf so sehr der Liebe.«

Meine Mutter war nicht stolz, aber auch nicht unterwürfig. Sie sagte diese Worte mit voller Harmlosigkeit zu ihrer Kundin, während sie derselben Putzsachen zeigte und indem sie mir liebkosend den Kopf streichelte. Schließlich eine Mutter, welche mit einer andern vom Kinde spricht, fühlt etwas wie Gleichberechtigung. Es scheint ihr, wenigstens so lange sie davon spricht, als ob die Mutterliebe alle Frauen auf das nämliche Niveau stellte, da doch in allen Gesellschaftsklassen auf die gleiche Weise die Kinder zur Welt kommen und die Liebe keinen Unterschied kennt. Die Dame war jedoch anderer Ansicht. Wahrscheinlich hat sie zu Hause, und zwar in Gegenwart ihres Sohnes, diese Sache besprochen und Glossen daran geknüpft, deren Folgen ich fühlen sollte.


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