Hans Dominik
John Workmann wird Millionär
Hans Dominik

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16. Kapitel

Seit acht Tagen war die Karawane unterwegs. Die ersten Tage war es eine angenehme Reise zwischen fruchtbaren Feldern und reichen Weingärten gewesen. Dabei waren sie auch immer noch auf Dörfer oder zum mindesten einzelne Estancias gestoßen, in denen sie für Geld und gute Worte ein bequemes Nachtlager fanden.

Aber dann hatte sich das Bild geändert. Langsam aber stetig hatte ihr Weg sie in die Höhe geführt, zu jenen Bergen hin, die wie eine zackige Säge den Horizont im Osten begrenzten. Schon hörten die Felder auf, um gewaltigen Wäldern Platz zu machen. Wäldern, die zu Anfang wohl noch einen tropischen Schimmer zeigten, dann aber immer mehr nordischen Charakter annahmen. Erst Eichen, dann Tannen und schließlich verkrüppelte Kiefern.

Es war schwer, den Weg durch diese Wildnis zu finden, und hier war James Webster in seinem Element. Unermüdlich arbeitete er mit Kompaß, Aneroidbarometer und dem Sextanten, um den genauen Standort der Expedition festzustellen.

Am Nachmittage des neunten Tages erreichten sie den oberen Rand des Waldes, die Grenze jeder Baumvegetation, und zogen auf schmalen steinigen Pfaden weiter. Immer noch freilich hatten sie spärliche Almwiesen zu beiden Seiten. Am frühen Abend, lange bevor die Sonne sank, schlugen sie ihr Lager auf. Die Maultiere wurden von ihren Lasten befreit, angepflöckt, und konnten sich ihr Futter auf der spärlichen Almweide suchen. Die Zelte wurden aufgeschlagen und die Kochgefäße herausgeholt.

»Man muß mit den Wölfen heulen und tun, was des Landes Brauch ist«, meinte James Webster, als er das silberne Sieb mit dem Mate, dem Paraguaytee, füllte und in die Kanne mit kochendem Wasser hing.

John Workmann schüttelte sich.

»Ich kann an dem Zeug nichts finden, Mr. Webster. Ein scheußlich bitteres Getränk. Mir ist unser chinesischer Tee erheblich lieber.«

»Es kommt auf das gleiche heraus, Mr. Workmann. In dem einen steckt Thein und in dem anderen Koffein. Beide wirken ganz angenehm anregend und schaden nichts, wenn man die Sache nicht übertreibt.«

Während James Webster so sprach, schlürfte er die leichtgrünlich gefärbte Flüssigkeit durch ein feines Silberrohr mit sichtlichem Wohlbehagen ein. Nur auf sein Zureden entschloß sich John Workmann, auch ein wenig davon zu kosten.

»Was ist das eigentlich für ein Zeug, Mr. Webster? Ich wundere mich darüber, seitdem wir in Valparaiso an Land gegangen sind. Man kann hinkommen, wohin man will. Mag es ein feines Restaurant in der Hauptstadt oder mögen es Indianer an der Landstraße sein, immer haben sie die Matekanne bei der Hand und lutschen das bittere Zeug hinein.«

James Webster nahm eine dichtschließende Zinndose aus seinem Gepäck, öffnete sie und schob sie John Workmann hin.

»Da haben Sie erst einmal das Matepulver. Der Stoff, der mit kochendem Wasser den Matetrunk gibt, den man auch wohl als Jesuitentee bezeichnet.«

John Workmann nahm eine Prise des grünen Pulvers zwischen zwei Finger und roch daran.

»Hm, Mr. Webster, das Zeug riecht nicht mal schlecht. Wenn es nur besser schmecken wollte.«

»Es riecht jetzt gut, weil es eine Gärung durchgemacht hat, Mr. Workmann. Es ist etwas Ähnliches wie die Gärung des Tabaks, die Sie sich in Havanna angesehen haben. Den Rohstoff bilden die Blätter einer bestimmten Stechpalmenart, die hierzulande wild wächst. Man schneidet einfach Zweige mit jungen, aber ausgewachsenen Blättern von der Pflanze ab und trocknet sie über einem offenen Holzfeuer, bis die Blätter vollkommen spröde geworden sind. Dann werden die Blätter abgepflückt und in besonderen Mühlen zu einem Pulver verrieben. Aber das ist noch kein fertiger Jesuitentee. Das frische Pulver riecht wenig erfreulich und gibt auch kein gutes Getränk. Man muß es in verschlossenen Dosen mehrere Monate hindurch sich selber überlassen. Dabei setzt dann eine Gärung ein, und der Endeffekt ist dieses angenehm riechende Pulver.«

John Workmann hatte mit Todesverachtung sein Glas geleert.

»Ich danke Ihnen für Ihre Erklärung, Mr. Webster. Aber trotz alledem kann ich mich mit diesem Getränk nicht befreunden. Es schmeckt zu abscheulich.«

James Webster lachte.

»Jeder nach seinem Geschmack, Mr. Workmann. Immerhin enthält dieses Matepulver ein halbes Prozent seines Gewichts an reinem Koffein. Wenn Sie nun weiter bedenken, daß Kaffeebohnen selbst hierzulande ziemlich kostspielig sind, während die Stechpalme beinahe wie ein Unkraut wild wächst, so werden Sie die Verbreitung dieses Getränkes begreifen. Und wenn Sie es einmal nach großen Strapazen probieren, werden Sie auch seine erfrischende Wirkung verspüren.«

Während der letzten Worte hatte James Webster die Azetylenlampe in Brand gesetzt und an einer Zeltstange befestigt. Schon war während ihres Gespräches die Sonne unter den Horizont gesunken und die Dämmerung brach schnell herein. Jetzt machte er die Fläche des leichten, zusammenlegbaren Tisches von allem anderen frei und breitete eine Karte aus, die an den Faltstellen eingebrochen und an den Ecken vergilbt, ein gewisses Alter und die Spuren häufiger Benutzung verriet. Er rückte an der Lampe, bis ihr Licht voll auf die Karte fiel, und winkte John Workmann näher heran.

Es war eine Karte der Gegend, in der sie sich jetzt befanden. Eine Karte der Anden in der Nähe der argentinischen Grenze etwas südlich von Arauco. James Webster hatte sie selbst vor Jahren entworfen, hatte auf ihr seine damaligen Züge und Fahrten eingetragen. Jetzt nahm er das Aneroidbarometer zur Hand und deutete schweigend auf den Zeiger des Instruments. Die Skala war unmittelbar auf Seehöhen geeicht. Der Zeiger stand auf 3100.

»Ich kenne mich genau in der Gegend aus, Mr. Workmann. Wir lagern hier genau an demselben Platz, an dem ich auch vor fünf Jahren lag. Sehen Sie. Hier!«

Er deutete bei diesen Worten auf einen Punkt der Karte und John Workmann sah, daß dort ein Kreuz eingezeichnet war. Daneben stand ein Datum und dann die Zahl 3100.

»Wir stehen hier an der oberen Grenze des Waldgürtels. Hier geht unser Weg weiter.«

Bei diesen Worten verfolgte er mit dem Finger eine feine Linie, die noch an zwei Stellen durch Kreuze unterbrochen war.

»Morgen wollen wir bis hierher ziehen. Dort müssen unsere Leute kräftig Gras für die Maultiere schneiden und mitnehmen. Denn von dort an in 3500 Metern Seehöhe hört der Graswuchs auf. Übermorgen gehen wir bis hierher. Das ist nur noch ein halber Tagesmarsch. Hier lassen wir unsere Leute zurück und gehen zunächst allein mit zwei Maultieren nach der bewußten Stelle. Alles weitere wird sich dann von selbst entwickeln.«

»Sie sagen, Mr. Webster, daß Sie sich in der Gegend genau auskennen. Danach ist wohl anzunehmen, daß Ihre Befürchtungen wegen des Erdbebens unnötig waren.«

James Webster schwieg eine Weile. Dann antwortete er langsam, beinahe zögernd.

»Sie sind im Irrtum, Mr. Workmann. Ich habe auf unserem Wege bis hierher Veränderungen gefunden, die mich erschreckt haben. Erinnern Sie sich an den großen See, an dessen Ufer wir vorgestern entlang zogen?«

»Gewiß, Mr. Webster, was ist's mit dem See?«

»Nun, dieser See existierte vor fünf Jahren noch nicht. Damals zog sich dort ein breites Tal entlang, auf dessen Sohle ein harmloses Flüßchen dahinströmte. Erst das Erdbeben hat durch einen mächtigen Felssturz das Tal gesperrt und den Stausee erzeugt. Hoffen wir, daß uns ähnliche Überraschungen an unserem eigentlichen Ziele erspart bleiben.«

Während der letzten Worte Websters hörte John Workmann ein dumpfes Rollen und verspürte eine eigenartige Erschütterung des Bodens. Es war gerade so, als ob ein schwerer Zug in der Nähe vorbeiführe und den Boden in leise Schwingungen versetzte. Ebenso schnell, wie die Erschütterung kam, ging sie auch wieder vorüber. Nur die Lampe, die Webster mit einem Draht an dem Zeltgestänge aufgehängt hatte, pendelte leicht hin und her und gab dadurch ein unruhiges Licht. Sofort, als diese Erschütterung einsetzte, war James Webster aufgesprungen, bereit, jeden Augenblick aus dem Zelt ins Freie hinauszustürzen. John Workmann hingegen war ganz ruhig sitzengeblieben. Er glaubte in diesem Augenblick wirklich nichts anderes, als daß in nächster Nähe ein schwerer Güterzug vorbeigefahren wäre. So täuschend war der Eindruck, den das Ganze auf ihn gemacht hatte, daß er den verstörten Webster ganz erstaunt fragte:

»Was haben Sie denn, Mr. Webster? Was ist denn passiert?«

Webster stand immer noch auf dem Sprunge. Minuten verstrichen, ohne daß er Antwort gab. Noch einmal wiederholte John Workmann seine Frage. Da ließ sich Webster wieder auf seinen Feldstuhl nieder und sprach: »Für den Augenblick scheint es vorüber zu sein. Das war aber eine typische Erderschütterung, eine von der Art, wie sie hier an der Tagesordnung sind.«

»Was sagen Sie, Mr. Webster? Ein Erdbeben soll das gewesen sein? Ich glaubte, es wäre ein Zug vorübergefahren. Das war doch genau so, wie in den Häusern des Broadway von New York, wenn ein Hochbahnzug vorbeifährt.«

James Webster konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Dear Mr. Workmann. Sie dachten wohl im Augenblick nicht daran, daß wir 150 Kilometer von der nächsten Eisenbahn entfernt sind. Im übrigen haben Sie mit Ihrer Beobachtung nicht so unrecht. Diese Erderschütterung ließ sich in der Tat nur so an, als ob ein Zug vorbeigefahren wäre. Es war nur eine der ungefährlichen Temblores, der leichten Erderschütterungen, von denen hier im Durchschnitt jährlich fünfzig, also jede Woche eine, stattfinden.«

»Was sagen Sie, Mr. Webster? Fünfzig Erdbeben in jedem Jahr?«

»Nicht Erdbeben, Mr. Workmann. Keine Terremotos. Nur Erderschütterungen. Temblores, wie sie hierzulande sagen. Sie kennen das noch nicht und behalten darum die ruhigen Nerven. Sie denken noch, das müßte jedesmal so harmlos vorübergehen, wie die geringfügige Erschütterung, die ein fahrender Zug verursacht. Wenn Sie aber erst einmal ein Terremoto mitgemacht hätten, würden Sie anders darüber denken. Da nimmt die Erschütterung in wilden Stößen zu, bis die Erde wie ein bewegtes Meer hin- und herschwankt. Da brüllt unterirdischer Donner aus der Tiefe. Da kann der Boden jeden Moment unter Ihren Füßen auseinanderklaffen und ein Abgrund Sie verschlingen. Wenn es beginnt, wenn die ersten leisen Erschütterungen sich zeigen, dann kann noch niemand sagen, ob es beim harmlosen Temblor bleibt, oder ob ein gefährliches Terremoto daraus wird.«

John Workmann war den Worten Websters mit wachsendem Staunen gefolgt.

»Oh! Ist das wirklich so? Ist das so schlimm hier?«

»Es ist schlimm genug, Mr. Workmann, und zwar gerade darum, weil man immer auf dem Pulverfaß sitzt, niemals weiß, wie sich die Dinge weiterentwickeln. Chile ist nun einmal das klassische Erdbebenland. Ganze Landstriche, ja ganze Provinzen sind hier plötzlich von den unterirdischen Kräften erschüttert, in die Höhe gehoben und auch zerstört worden. So ist bei dem fürchterlichen Erdbeben des Jahres 1822 die ganze Küste bei Valparaiso auf eine Länge von mehr als 100 Kilometern um einen vollen Meter gehoben worden. Sie können sich vorstellen, daß danach von Valparaiso und seinen Nachbarorten nicht viel mehr als ein Trümmerhaufen übriggeblieben ist.

Im übrigen senkt sich der Boden ebenso häufig, wie er sich hebt. Bei dem großen Erdbeben von 1751 versank die ganze Stadt Concepcion im Meer. Sie wurde landeinwärts wiederaufgebaut und im Jahre 1835 durch ein anderes Erdbeben nochmals völlig in Trümmer gelegt. Oh, ich versichere Ihnen, Mr. Workmann, die Einwohner von Chile brauchen sich über einen Mangel an Abwechslung nicht zu beklagen. Die Erde bebt bald hier und bald dort. Steigt bald in die Höhe und versinkt bald in die See. Alles in schöner Abwechslung und Reihenfolge. Manchmal aber kommt es auch noch ganz anders, wie z. B. bei dem großen Erdbeben von 1847. Da stieg in der Provinz Talca ein flaches Weidegelände von einigen Quadratkilometern im Laufe von 24 Stunden wie eine gewaltige schwankende und zitternde Blase 100 Meter in die Höhe. Dann aber riß der emporgezerrte Boden in der Mitte auseinander und verwandelte sich in einen Vulkan, der wochenlang kochenden Schlamm und schweflige Dünste auswarf. Dabei sank das Land wieder zurück und nach einem Monat war auch diese Überraschung zu Ende.

O ja, Mr. Workmann! Wer längere Zeit in Chile lebt, der kann allerlei erleben. Wir sind hier auf einem sehr unruhigen Boden. Nicht nur in politischer, sondern auch in geologischer Beziehung. Nun, in drei Tagen werden wir jedenfalls wissen, woran wir mit unserem Goldvorkommen sind.«


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