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Vor vier Tagen hatte der »Abraham Lincoln« den Hafen von New York verlassen. Mit einer Stundengeschwindigkeit von sechzehn Knoten pflügte der schöne, große Doppelschraubendampfer die Fluten des Atlantik, den Kurs nach Süden gerichtet. Jetzt lagen die Bahamainseln hinter ihm, und dicht am Kap Sable an der Südspitze Floridas vorbei wurde der Kurs auf Südwest gesetzt.
Auf dem Promenadendeck des Schiffes lag Mr. Webster bequem in einen Liegestuhl ausgestreckt und ließ sich behaglich von der Sonne bescheinen. Wenige Schritte von ihm entfernt, ging John Workmann auf und ab, ein offenes Buch in der Hand, und war eifrigst mit Lernen beschäftigt. Lernen war vielleicht nicht einmal das richtige Wort. In Deutschland würden Altersgenossen von John Workmann dafür wahrscheinlich »büffeln« oder »ochsen« oder zum mindesten »pauken« gesagt haben.
Jetzt kam er wieder an James Webster vorbei.
»Andelante, Senor, andelante!« rief ihm der ermutigend zu. John Workmann nickte und schritt weiter. Dabei bedeckte er Teile des Buches bald mit der Hand und gab sie bald wieder frei, während seine Lippen Worte murmelten: El padre, der Vater, del padre, des Vaters, al padre, dem Vater, el padre, den Vater, los padres, die Väter, de los padres, der Väter, a los padres, den Vätern, al padres, die Väter.
John Workmann büffelte in der Tat. Er lernte mit Gewalt spanisch. Diese Reise führte ihn ja zum erstenmal über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus und brachte ihm die neue Erkenntnis, daß in der Welt noch andere Sprachen als die englische gesprochen werden. Auf den Rat Websters hatte er sich noch in New York einen spanischen Sprachführer gekauft, und seit das Schiff den Hafen von New York verlassen hatte, war er eifrigst dabei, spanisch zu lernen. Wohl kamen ihm dabei manche spanische Brocken zustatten, die er von den Rinderhirten hinter Chikago aufgeschnappt hatte. Aber begreiflicherweise konnte das nicht allzuviel sein. Bisher hatte er noch kaum Gelegenheit und Zeit gefunden, Sprachstudien zu treiben. In den Vereinigten Staaten wurde englisch gesprochen. Von seiner Mutter hatte er deutsch, die Sprache seines verstorbenen Vaters, gelernt. Andere Sprachen? Die Italiener in New York, die Dagos, die da Stiefel putzten und mit Apfelsinen handelten, galten fast sowenig wie die Neger und Chinesen. Es lag kein Grund vor, sich mit ihrer Sprache zu beschäftigen. Und die Franzosen? Was John Workmann davon in New York kennengelernt hatte, wo sie meist als Kellner in den vornehmen Restaurants arbeiteten, hatte ihn auch nie auf den Gedanken kommen lassen, sich mit der französischen Sprache näher einzulassen. Die Spanier freilich, das waren schon andere Kerle. Er entsann sich einiger Kalifornier unter den Cowboys auf der Farm im Westen. Sie sprachen nur wenige Brocken eines recht schlechten Englisch. Aber reiten konnten die! Und den Lasso gebrauchen ebenfalls!
John Workmann blieb mit seinem Buch vor Mr. Webster stehen.
»Mr. Webster, ich fürchte, ich werde noch nicht spanisch können, wenn wir in Valparaiso landen.«
»Andelante, Don Juan, andelante«, lachte Webster. »Vorwärts, mein junger Freund, nur munter vorwärts. Sie haben den Kopf dazu, um eine Sprache in vierzehn Tagen wenigstens so weit zu erlernen, daß Sie sich mit ihr ein Frühstück bestellen und eine Eisenbahnfahrkarte kaufen können. Das ist immerhin schon einiges und fürs erste genug. In zwei Stunden laufen wir den Hafen von Havanna an und bleiben bis heute abend dort liegen. Sie haben den ganzen Nachmittag für sich. Benutzen Sie die Gelegenheit. Gehen Sie dort an Land. Besuchen Sie eine der Tabaksplantagen in der Nähe der Stadt und gewöhnen Sie Ihr Ohr an die spanischen Klänge. Es ist viel wert, daß man nicht nur aus dem Buche lernt, sondern das Volk selber reden hört.«
»Und Sie, Mr. Webster? Sie kommen doch hoffentlich mit und begleiten mich bei dieser ersten Tour in fremdes Land.«
»Nein, Mr. Workmann, das will ich nicht tun. Erstens ist es Ihnen ganz nützlich, wenn Sie sich einmal allein zwischen die Spanier wagen und selber zu schwimmen versuchen Ertrinken werden Sie dabei nicht, denn Cuba gehört der Union. Zum mindesten alle Beamten, alle Policemen und die Leute in jeder Postoffice müssen englisch können. Und außerdem . . . außerdem, Mr. Workmann, habe ich noch einen anderen Grund, nicht an Land zu gehen. Ich kann es natürlich nicht verhindern, daß man mich hier an Bord sieht. Aber unter unseren Passagieren ist Gott sei Dank niemand, der mich kennt. In Havanna könnte ich aber doch dem einen oder anderen in die Arme laufen, der genauer über meine Tätigkeit als Prospektor unterrichtet ist. Es gibt noch mehr als genug Gelegenheiten, erkannt zu werden. Man soll die Götter nicht versuchen.«
Diese Begründung leuchtete John Workmann ein, und er drang nicht weiter auf die Begleitung Websters.
Zwei Stunden später kam die cubanische Hauptstadt in Sicht. Die Steilküste hob sich weiter und weiter über den Horizont, und dann grüßten die Türme des alten Castillo del Morro von rechts herüber, die Wachttürme jenes uralten, schon im 16. Jahrhundert von den Spaniern erbauten Kastells, während der »Abraham Lincoln« durch die schmale Einfahrt hindurch in die Bucht steuerte und beim Zollhause festmachte.
Mit anderen ging auch John Workmann an Land. Er durchwanderte die engen und krummen Straßen der Innenstadt und stand wie taub in dieser spanisch redenden Menge. Bis er sich kurz entschlossen in einen der zahlreichen Kraftwagen setzte, die am Bahnhof standen, und dem Chauffeur seinen Wunsch zu erkennen gab, eine Tabaksplantage zu besichtigen. Das ging besser, aber auch anders, als er gedacht hatte. Kaum hatte er seine Absichten mit Hilfe des neuerworbenen Spanisch zum Ausdruck gebracht, als der Chauffeur ihm in einem ganz brauchbaren Englisch antwortete.
John Workmann fragte, warum der andere denn Englisch spräche.
Nun, weil der Herr doch sicher ein Nordamerikaner sei.
John Workmann ging nicht weiter auf die Sache ein. Er sah einerseits die Anschauung Websters bestätigt, daß man überall in der Welt auch mit Englisch durchkommt, doch fühlte er sich andererseits in seinem Stolze als angehender perfekter Spanier ein wenig geknickt. Aber das glich sich wieder aus, denn der Chauffeur versprach, ihn zu der Plantage eines gewissen Mr. Fairfax zu fahren, der selber Nordamerikaner sei und ihm die Besichtigung sicher gestatten würde.
Geschickt wand sich der Wagen durch die engen Straßen der Altstadt, rollte dann durch die breiten Promenaden der neuen Vorstadt im Südwesten, kreuzte die alte Wasserleitung, welche die Spanier hier nach dem Vorbilde der altrömischen Aquädukte von den Bergen her nach Havanna gebaut hatten, folgte noch ein Stück Weges der Westbahn, und dann führte die Landstraße durch endlose Tabaksfelder. Es war gerade um die Zeit der Ernte, und die weiten Flächen boten ein eigenartiges Bild. Vor mehreren Tagen hatte man die für die Ernte reifen Stauden dicht über dem Erdboden mit dem schweren Erntemesser, der Machete, angeschlagen, so daß sie wie halbgefällte Stämme nach der einen Seite hin umlagen. Es schien John Workmann, als sei ein Sturmwind über diese Felder dahingerast und habe alle diese Pflanzen umgelegt.
Nun hielt der Wagen vor dem Hauptgebäude der Farm, einem zweistöckigen, im Bungalowstile erbauten Hause, welches die Verwaltungsräume enthielt. Mr. Fairfax, der Besitzer dieser und vieler anderer Farmen, war nicht anwesend. Der schaukelte auf seiner kostbaren Yacht irgendwo im Karibischen Meer zwischen Honduras und Venezuela. Aber der erste Administrator, Mr. Walthour, empfing John Workmann und gestattete ihm den Besuch der Felder. In Begleitung eines Assistenten der Plantage, der ihm als Mr. Fox vorgestellt wurde, machte John Workmann sich auf den Weg.
Sie brauchten nicht lange zu gehen. Bald war ein Feld erreicht, auf dem ein Dutzend der dunkelhäutigen cubanischen Eingeborenen, Angehörige jener eigenartigen, aus Spaniern, Indianern und allerlei sonstigen Völkerschaften entstandenen Rasse, eifrig bei der Arbeit waren, die geknickten Pflanzen ganz abzuschlagen und auf die Erntewagen zu verladen. Dabei erklärte Mr. Fox:
»Es hat seine guten Gründe, Mr. Workmann, daß wir die Pflanzen nicht sofort von den Feldern abernten, sondern in diesem halbgefällten Zustande noch eine halbe bis eine ganze Woche auf dem Felde lassen. Dabei bilden sich unter dem Einflusse der verringerten Saftzirkulation gerade diejenigen Stoffe, die schließlich unserem Tabak das Aroma verleihen und ihn besonders wertvoll machen. In den nördlichen Ländern muß man das Blatt für Blatt besorgen. Dort werden die Blätter von unten her eingeknickt und nach geraumer Zeit abgeerntet. So geht es dort bei jeder Staude allmählich von unten nach oben. Wir sind hier in der glücklichen Lage, die ganze Pflanze auf einmal in dieser Weise zu behandeln.«
John Workmann hatte den Arbeiten der Eingeborenen mit Interesse zugesehen.
»Well, Mr. Fox. Und was geschieht nun weiter?«
»Das werden wir gleich sehen. Jetzt ist dieser Wagen voll beladen und fährt zu den Trockenschuppen. Wir werden uns draufsetzen und mitfahren. Dann brauchen wir das Stück nicht zu laufen.«
Es war eine ziemlich hohe, zweirädrige und mit Maultieren bespannte Karre, die hier als Erntewagen diente. Mit einem kühnen Satz schwang sich Mr. Fox auf den Berg der aufgeladenen Tabakstauden und zog John Workmann hinter sich her. Unter den Zurufen eines braunhäutigen Fuhrmannes zogen die Maultiere an, und in flottem Trabe ging es über Stock und Stein bis zu den Schuppen, die sich in der Nähe des Hauptgebäudes befanden. Es waren eigenartige Holzbauten, eigentlich nur Schuppendächer auf gemauerten Steinpfeilern. Die Dächer jalousieartig eingerichtet, daß man sie durch die einfache Bewegung eines Gestänges öffnen oder schließen konnte. Während John Workmann fragend auf diese eigenartige Konstruktion blickte, erklärte Mr. Fox weiter.
»Die Stauden müssen erst einen Trockenprozeß durchmachen, bevor wir sie der Gärung unterwerfen. Sie dürfen dabei der Sonne ausgesetzt werden, aber nicht dem Regen und Tau. Deshalb diese Dächer, die geöffnet die Sonne heranlassen, die wir aber sofort schließen, sowie Regen kommt.«
Gemeinsam schritten sie durch die weiten, luftigen Schuppen, in denen Tausende und aber Tausende der geernteten Stauden diesem Trockenprozeß unterworfen wurden. Es war deutlich zu merken, daß hierbei irgendeine tiefgehende chemische Umsetzung stattfand. Während die frisch aufgehängten Pflanzen und Blätter geruchlos waren und eine trockene stumpfgrüne Oberfläche zeigten, boten die Pflanzen, bei denen die Trocknung weiter vorgeschritten war, einen ganz anderen Anblick dar. Sie zeigten eine klebrige, mit gelben Flecken bedeckte Oberfläche und einen eigenartigen strengen, aber noch nicht an Tabak erinnernden Geruch.
»Wir trocknen hier noch nach der alten, in langen Jahren bewährten Weise«, erklärte Mr. Fox. »Auf anderen Plantagen gibt es bereits geschlossene Trockenhäuser mit Heizung. Es geht dort sehr schnell und sehr gut mit dem Trocknen. Aber wenn die Temperatur nicht haarscharf abgepaßt und innegehalten wird, ist der ganze Tabak verdorben und es gibt keine richtige Fermentation mehr.«
»Fermentation? Was bedeutet das?« fragte John Workmann.
»Die Fermentation ist mit das wichtigste bei der ganzen Tabaksfabrikation«, erklärte Mr. Fox. »Sie sahen ja schon, daß solch Tabaksblatt den Teufel im Leibe hat. Bereits hier beim einfachen Trocknen geht allerlei darin vor. Noch viel stärker aber tritt das bei der Fermentation oder Gärung ein, die wir uns jetzt in den nächsten Schuppen betrachten wollen.«
Sie betraten den nächsten Schuppen, der einen festen Betonboden besaß. In endlosen Reihen lagen dort dicht geschichtete Haufen der vorgetrockneten Tabaksblätter, die Haufen unter sich beinahe mathematisch gleich, die Blätter fest aufeinandergepreßt. Sie schritten die Reihe entlang und blieben schließlich stehen, wo Eingeborene im Begriff waren, einen Haufen auseinanderzunehmen. An der Außenseite des Haufens waren die Blätter nach wie vor grün. Aber schon wenige Zentimeter in das Innere des Haufens hinein zeigten sie gelbe Farbe und noch tiefer nach innen waren sie dunkelbraun.
»Fühlen Sie die Blätter einmal an«, sagte Mr. Fox.
John Workmann legte seine Hand auf die frische tiefbraune Fläche, welche die Eingeborenen gerade freimachten, und zog sie im Augenblick zurück.
»Hallo, Sir!« schrie er. »Das ist ja unangenehm heiß.«
»Genau 63 Grad Celsius, Mr. Workmann«, sagte sein Führer. »Das ist die Kunst des Fermentierens, die Temperatur gerade so weit und nicht weiter steigen zu lassen. Wenige Grade mehr, und das Aroma ist zerstört. Einige Grade zuwenig, und der Tabak gärt nicht richtig aus. Die Arbeiter hier sind wirkliche Virtuosen in dieser Kunst. Umsonst ist die Havannazigarre nicht in der ganzen Welt berühmt.«
John Workmann sah, wie die Arbeiter die Blätter des aufgenommenen Haufens, soweit sie aus dessen Mitte stammten, dunkelbraun und gut durchgegoren waren, auf kleine Handwagen luden und zu größeren Schränken fuhren.
»Was geschieht dort mit dem Tabak, Mr. Fox?«
»Er kommt in die Kühlschränke, um schnell abgekühlt zu werden. Erst die vollkommen erkalteten Blätter werden zum zweitenmal in Stapel gesetzt und machen noch eine Nachgärung durch. Dann folgt die Trocknung, die letzte Trocknung, die Sie in dem folgenden Schuppen sehen können, und dann endlich ist der Tabak zur Verarbeitung reif. Er kommt entweder hier in die Zigarrenfabriken oder er wird in Ballen verpackt und nach Europa verfrachtet, um dort verarbeitet zu werden. Besonders Bremen bezieht große Mengen von unseren Tabaken. Aber auch Amsterdam ist ein guter Kunde.«
»Bietet es denn besondere Vorteile, den Tabak unverarbeitet nach Europa zu bringen, um dort erst Zigarren daraus zu machen?« fragte John Workmann.
»Ja und nein, Mr. Workmann. Es bietet den Vorteil, daß der Einfuhrzoll, den alle europäischen Staaten erheben, für Rohtabak viel geringer ist als für fertige Zigarren. Aber es bietet den Nachteil, daß die Tabakballen auf der langen Seereise nach Europa in Schiffsräumen von unkontrollierbarer Temperatur und unkontrollierbarem Feuchtigkeitsgehalt eine dritte Nachgärung durchmachen, die ihnen ganz bestimmt nicht zum Vorteil gereicht. Eine Importzigarre bleibt eben eine Importzigarre. Wir gehen darin so weit, daß unsere besten hier in Havanna fertiggestellten Zigarren sorgfältig in Stanniol eingewickelt werden, um jede Luftfeuchtigkeit von ihnen abzuhalten. Ja, die allerteuersten Zigarren kommen sogar in Glasröhren, die mit Korken verschlossen werden.«
Sie waren auf ihrer Wanderung bis zum Packraum gekommen, in dem der fertige Tabak teils für die Seereise verpackt, teils zum Versand in die Zigarrenfabriken vorbereitet wurde.
»Hier ist unsere Arbeit zu Ende«, sagte Mr. Fox. »Jetzt beginnt die Tätigkeit der Zigarrenfabriken. Dort werden die Blätter entrippt, geschnitten und für die weitere Verarbeitung vorbereitet. Das müssen Sie in solcher Fabrik besehen.«
John Workmann zog die Uhr.
»Die Zeit wird nicht langen, Mr. Fox. Mein Schiff geht in anderthalb Stunden. Aber nehmen Sie meinen besten Dank für Ihre freundliche Führung und Erklärung. Ich würde mich freuen, Ihnen gleiche Dienste leisten zu können, wenn Sie einmal nach New York kommen.«
Noch ein letzter Händedruck, und John Workmann fuhr den Weg nach Havanna bis zum Zollhause wieder zurück.
»Nun, Mr. Workmann, haben Sie eine Plantage besucht?« empfing ihn James Webster an Bord.
»Ich habe es getan, Mr. Webster. Es war sehr interessant, aber leider hatte ich gar keine Gelegenheit, mein Spanisch an den Mann zu bringen.«
»Schadet nichts«, lachte Webster. »Sie werden dazu in Chile noch mehr als hinreichend Gelegenheit finden. Lernen Sie nur bis Valparaiso in demselben Tempo weiter, in dem Sie von New York bis Havanna gelernt haben.«
Eine halbe Stunde später verließ der »Abraham Lincoln« den Hafen, nahm seinen Weg nach Westen, bog um Kap San Antonio, die Westspitze von Cuba, und setzte dann den Kurs wieder nach Süden nach Colon hin.
Am Nachmittage des zweiten Tages kam die Küste von Colon in Sicht. Die Landenge von Panama war erreicht. Langsam und majestätisch lief der »Abraham Lincoln« in die erste Schleuse jener gewaltigen Schleusentreppe ein, um fünfzig Meter über die Spiegelhöhe der Karibischen See emporzusteigen.
John Workmann stand neben James Webster an der Reling und betrachtete mit Staunen das geradezu gigantische Betonmauerwerk dieser Schleusentreppe. Er kannte die riesigen Wolkenkratzer von New York ebensogut wie die ungeheuren Fabriken von Ford, Armour und anderen. Aber das hier schien ihm noch viel gewaltiger und riesenhafter, rief den Gedanken an verhaltene Kraft und unbeugsame Stärke in ihm hervor. Mr. Webster sah sein Staunen und lächelte.
»Well, Mr. Workmann, dieser Schleusenbau muß sogar dem blasiertesten New Yorker imponieren. Ein einziger massiver Betonblock, eine Meile lang und zweihundert Meter breit.«
John Workmann betrachtete immer noch staunend die mächtigen Betonmauern, zwischen denen das Schiff jetzt in die Höhe stieg, während die Schleusenkammer sich allmählich füllte und die steigenden Fluten seinen gewaltigen Rumpf mit nach oben nahmen.
»Ich staune in der Tat, Mr. Webster. Ein derartiges Betonbauwerk habe ich noch nie gesehen. Das ist ja ein ganzes Gebirge.«
»Muß es auch sein, Mr. Workmann. Bedenken Sie, daß diese Schleusentreppe den großen Stausee, den Chagressee, gegen die Karibische See hin abriegelt. Es wäre gar nicht auszudenken, wenn dieser Betonberg einmal nachgäbe und der Stausee in das Meer stürzte.«
»Schon recht, Mr. Webster, aber waren dafür solche Massen notwendig?«
»Sie waren notwendig, Mr. Workmann. Vergessen Sie nicht, daß wir gerade hier auf einem stark vulkanischen Gebiet sind. Die alte Landenge, die Nord- und Südamerika zusammenhalten muß, wird dabei übel geschunden und gequetscht. Alle Augenblicke gibt es Erschütterungen und Erdstürze. Die Nordamerikaner haben das am Culebradurchstich kennengelernt, wo ihnen einmal in einer einzigen Nacht zehn Millionen Kubikmeter Gestein in den schon fertigen Kanal rutschten. Sie haben es dann weiter kennengelernt, als der Boden des neuen Stausees fortwährend Risse bekam und der See nach unten hin wegsickerte. Wer hier bauen will, der muß doppelt und dreifach so sicher und stark bauen wie anderswo.«
»Aber sagen Sie mir doch, Mr. Webster, warum man den mächtigen See aufgestaut hat, wenn die Bodenverhältnisse so unsicher sind. Warum hat man dann nicht das ursprüngliche französische Projekt durchgeführt, welches einen Kanal im Niveau des Meeres ohne alle Schleusen vorsah?«
»Warum? . . . Warum? . . . Weil das französische Projekt nicht durchführbar war. Denken Sie allein an die Flutverhältnisse. Hier bei Colon steigt die Flut höchstens auf einen halben Meter, in Panama dagegen fast sechs Meter. Außerdem liegt zwischen den beiden Fluten eine Differenz von neun Stunden, so daß praktisch beinahe Flut auf der einen und Ebbe auf der anderen Seite zusammenfallen. Nun stellen Sie sich einen offenen Kanal vor, der auf sechzig Kilometer Länge eine Höhendifferenz von sechs Meter hat. Es würde sehr starke Strömungen geben. Nein, Mr. Workmann, ohne Schleusen, wenigstens ohne Flutschleusen, würde die Sache unter gar keinen Umständen gehen.«
»Nun ja, Mr. Webster. Das zugegeben. Aber man hätte doch einen Niveaukanal mit Flutschleusen bauen können, ebenso wie man es bei Suez getan hat.«
»Da vergessen Sie jemand, Mr. Workmann, der bei dieser Angelegenheit auch noch ein sehr wichtiges Wort mitzureden hat.«
»Und wer sollte das sein?«
»Das ist der Chagresfluß, Mr. Workmann. Der Chagresfluß, der bei Culebra seitlich von den hohen Bergen herabkommt. Neun Monate im Jahre ein harmloses Flüßchen. Drei Monate hindurch ein zerstörendes Ungeheuer, das riesenhafte Wassermengen zu Tale bringt. Der Rio Chagres hat schon den Franzosen schweres Kopfzerbrechen bereitet. Sie wollten ihn durch einen gigantischen Staudamm in den Culebrabergen absperren und seine Fluten in einem anderen Flußlauf zur See leiten. Die Amerikaner haben sich das Leben viel leichter gemacht. Dadurch, daß sie auf den Niveaukanal verzichteten und durch die Schleusentreppe den Rio Chagres aufstauten, haben sie viel Geld und Arbeit gespart. Erstens brauchten sie natürlich das am Culebrapaß mehr als hundert Meter hohe Gebirge nicht bis zum Meeresniveau abzutragen. Weiter aber bildete nun der aufgestaute Chagresfluß über eine Länge von mehr als dreißig Kilometern einen See, der ohne weiteres für die größten Schiffe zu befahren ist. Über diese Strecke hin haben sich die Amerikaner also alles Baggern und Graben erspart, und dafür kann man schon ein paar Schleusen mit in Kauf nehmen. Aber das ist noch nicht alles. Der Stausee, den wir bald durchfahren werden, hat eine solche Fläche, daß er den gelegentlichen Wasserüberfluß des Rio Chagres aufnehmen kann, ohne merklich zu steigen. So kann man ohne Übertreibung sagen, daß die Amerikaner hier drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen haben.«
Während Mr. Webster seine Erklärungen gab, war der »Abraham Lincoln« von Schleuse zu Schleuse emporgestiegen. Immer wieder hatte sich ein Schleusentor geöffnet, und die starken Treidellokomotiven, die seitlich auf den Schleusenmauern entlangliefen, hatten das Schiff in die nächste Kammer geschleppt. Jetzt öffnete sich die letzte Schleusentür. Breit, fast wie ein Meer lag der Stausee vor ihnen. In langsamer Fahrt ging es über den See, in dem das Fahrwasser durch große Bojen markiert war. Und nun begannen die Ufer dieses Sees näher zusammenzurücken. Jetzt war das Wasser nur noch 200, jetzt nur noch 100 Meter breit. Der See ging allmählich in den Kanal über. Dicht kamen die Ufer nun zusammen, und John Workmann staunte über diese Tropenvegetation. Eine solche Fruchtbarkeit, Üppigkeit und Urwüchsigkeit hatte er in den Wäldern Nordamerikas nie zu sehen bekommen.
James Webster schlug ihm auf die Schulter.
»Was, Mr. Workmann! Das sind Palmen! So etwas gibt es im Zentralpark von New York nicht. Das sind Bäumchen! Man kann fast zusehen, wie sie wachsen.«
John Workmann schwieg. Zu groß war der Eindruck, den diese Pracht des Tropenwaldes auf ihn machte. James Webster aber sprach weiter.
»Ich sah die Landenge, als die Nordamerikaner hier mit ihren Arbeiten anfingen. Die französische Gesellschaft war ja schon 1888 zusammengebrochen. Man hatte alles Material, Bagger, Dampfboote, Eisenbahnloren hiergelassen, und der Urwald hatte fünfzehn Jahre Zeit, sich dieser Sachen auf seine Weise anzunehmen. Ich sah damals in der Gegend von Buena Vista eine Eisenbahnlore, die vollkommen zwischen zwei großen Eukalyptusbäumen eingeklemmt und ein Stück mit emporgehoben worden war. Die Amerikaner hatten das französische Material mit übernommen und wollten davon gebrauchen, was eben noch zu gebrauchen war. Sie waren damals gerade bei der Arbeit, jene Bäume mit Dynamit zu sprengen und die Lore herunterzuholen. Der Aufenthalt im Urwald hatte ihr merkwürdig wenig geschadet.
Eine andere Szene, die mir unvergeßlich ist, sah ich in der Gegend von Corgona. Da hatten die Franzosen aus irgendwelchen unbekannten Gründen den eisernen Schornstein eines großen Baggers abgenommen, einen Schornstein, wenigstens sechs Meter hoch und fast einen Meter weit, und hatten ihn in den Urwald gestellt. Wie das Weitere nun geschehen ist, läßt sich schwer sagen. Als ich vorbeikam, da wuchs aus dem Schornstein heraus ein hoher Palmenbaum und wiegte seine Krone zehn Meter über dem Schornstein im Winde. Irgendwie muß jedenfalls eine Palmenfrucht in den Schornstein gefallen sein. Aber daß dort, wo es doch reichlich eng und dunkel ist, aus der Frucht ein Baum sprießen und sich sechs Meter hoch zu Sonne und Licht hinarbeiten konnte, das bleibt das Rätselhafte und ist nur durch die unerhörte Lebenskraft des Tropenwaldes erklärbar.«
Immer näher waren während der Fahrt die Kanalufer zusammengetreten und gleichzeitig auch immer steiler geworden. Jetzt passierte der »Abraham Lincoln« den Durchstich von Culebra. Voller Staunen starrte John Workmann auf die Felsenhänge und auf die Berge, die fast unmittelbar vom Kanalufer an mehrere hundert Meter in die Höhe stiegen, um in weiterer Ferne Höhen von tausend und mehr Metern zu erreichen.
»Hat das Menschenkraft vermocht? Haben Menschen und Maschinen zusammen ermöglicht, diesen Riesenberg zu durchstechen?« fragte er James Webster.
Der lachte. »Lassen Sie sich nicht bluffen, Mr. Workmann. Vergessen Sie nicht, daß wir durch den Culebrapaß fahren. Es war hier die einzige mögliche Stelle für den Durchstich, an dem sich die Gebirgskette bis auf hundert Meter Meereshöhe absenkt. Es bleibt trotz alledem aber immer noch eine recht achtbare Leistung. Wenn man die Kubikmeter mitrechnet, die noch nachträglich von diesen Hängen niedergestürzt sind, so haben die Amerikaner hier etwa 100 Millionen Kubikmeter ausgebaggert und weggeschafft.«
Weiter zog der »Abraham Lincoln« seinen Weg, und allmählich wurden die Berge zu beiden Seiten des Kanals wieder flacher. Stunde auf Stunde verrann, und dann war die andere Schleusentreppe auf der Seite von Panama erreicht. In umgekehrter Folge wiederholte sich hier das Schauspiel. Von Schleusenkammer zu Kammer stieg der »Abraham Lincoln« hinab. Noch wenige Meter im Niveaukanal, und das Schiff fuhr aus den Molen hinaus und durchfurchte die Fluten des Stillen Ozeans.
Am übernächsten Tage, als das Schiff die Höhe der Galapagosinseln erreicht hatte, kam seine königliche Majestät Neptun, der Gott der Meere, in höchst eigener Person an Bord, um Erkundigung einzuziehen. Die salzige Majestät wünschte zu wissen, wer von den Passagieren schon einmal den Äquator gekreuzt habe und wer noch nicht.
John Workmann saß neben Mr. Webster auf dem Promenadendeck, als der Minister Neptuns an sie herantrat, der trotz einer mächtigen Flachsperücke und trotz eines noch mächtigeren Flachsbartes unschwer als der dritte Maschinist des »Abraham Lincoln« zu erkennen war. John Workmann war erstaunt. Er hatte zwar in manchen Reisebeschreibungen von der berühmten und berüchtigten Äquatortaufe gelesen, aber er war der Meinung, daß das ein alter und längst abgeschaffter Brauch sei, der nur noch in den Geschichtsbüchern umherspuke. Während er James Webster fragend anblickte, zog der seine Brieftasche, entnahm ihr ein Dokument, faltete es auseinander und übergab es dem Minister. Der nahm es würdevoll entgegen, entfaltete es und las mit halblauter Stimme, so daß John Workmann jedes Wort verstehen konnte.
»Taufzeugnis. Wir, Neptunus, der König aller Meere und Seen, aller Ströme und Flüsse, aller Bäche und Weiher, aller Laken, Pfuhle, Pfützen und Tümpel, beurkunden hiermit und bekräftigen durch unser beigefügtes großes Staatssiegel, daß der amerikanische Bürger, James Webster, an Bord unseres guten Schiffes »Queen Mary« beim Passieren des Äquators die Taufe empfangen hat. Und hat derselbige auch den Betrag für die Taufgebühren in voller Valuta an unseren Finanzminister entrichtet.«
»Es ist gut, Bürger Webster«, sagte der flachsbärtige Gesandte Neptuns. »Du hast die heilige Taufe bereits empfangen und bist in unsere Staaten aufgenommen worden. Doch vergiß nicht, daß sie im Taufschein bei jeder neuen Kreuzung des Äquators gegen die üblichen Gebühren visiert werden muß.«
»Ich weiß es, Eure Exzellenz«, sagte James Webster, ohne eine Miene zu verziehen, drehte seinen Taufschein um und wies dem Flachsbärtigen die Rückseite.
»Oh, oh«, sagte der und zog die Brauen zusammen. »Schon sechsmal visiert. Schon sechsmal über die Linie gekommen. Gut so, brav so. Mein königlicher Herr wird seine Freude an dir haben. Aber wie steht es denn mit deinem jungen Begleiter?«
»Ich muß Euer Exzellenz leider die Mitteilung machen, daß er zum erstenmal in seinem Leben die Linie kreuzt. Er muß erst durch die Taufe in das Reich seiner salzigen Majestät aufgenommen werden.«
Der andere nickte. »Es ist gut. Wir werden das Nötige veranlassen und die Zeremonie morgen vormittag vornehmen lassen.«
Mit diesen Worten wandelte der Abgesandte Neptuns würdevoll weiter. Es dauerte eine Weile, bis John Workmann sich von seinem Staunen erholt hatte.
»Ich verstehe noch immer nicht, Mister Webster, was der Unsinn zu bedeuten hat. Ich las, daß es bei dieser sogenannten Taufe ziemlich roh hergehen soll. Die Täuflinge werden mit ranzigem Fett und schlechter Schmierseife eingeschmiert, kopfüber ins Wasser geworfen und dergleichen mehr. Ich glaube, daß ich nicht stillhalten werde, wenn man etwas Derartiges bei mir versucht.«
James Webster lachte lange und herzlich, und es dauerte geraume Zeit, bis er zum Antworten kam.
»Dear Mr. Workmann, Sie dürfen die Dinge nicht tragisch nehmen. Für die eigentliche Schiffsbesatzung ist die Äquatortaufe immer noch in der alten, ziemlich ruppigen Weise in Gebrauch. Aber da trifft sie nach Lage der Dinge ja nur Heizer, Trimmer und Schiffsjungen, die das erstemal über den Äquator kommen. Na . . . und Heizer und Trimmer sind eben keine blütenweißen Engel. Da geht es natürlich etwas derb zu.
Die Passagiere dagegen und namentlich die Kajütspassagiere werden ganz anders behandelt. Da kommt es hauptsächlich auf die Taufgebühren an, von denen sich die Schiffsbesatzung nach vollbrachter Tat einen guten Tag macht. Ich empfehle Ihnen, 5 Dollar für die Untertanen seiner Königlichen Majestät zu geben, und Sie werden morgen Ihren Spaß an der Sache haben.«
Der nächste Tag kam mit klarem Himmel und ruhiger See. Jetzt thronte König Neptun unmittelbar vor der Kommandobrücke auf einem mächtigen Speckfaß, das mit Flachs, Algen und einigen alten Teppichen zu einem Thron umgebaut worden war. Ihm zur Seite seine holdselige Gemahlin Amphitrite, deren körperliche Formen und Rundungen mit sehr viel Werg und Sachverständnis herausgearbeitet worden waren. Aber es gab unter den Passagieren Skeptiker, die in Amphitrite einen Kajütssteward wiedererkennen wollten. Das königliche Gefolge war um die Majestäten herum aufgebaut. Da stand der neptunische Barbier mit fürchterlichen Vatermördern, einem unglaublichen krachgrünen Frack und einem grauen Zylinder, der den Schornsteinen des »Abraham Lincoln« ernstlich Konkurrenz machte. An der linken Seite hing ihm als Amtszeichen eine riesenhafte Klistierspritze herab. In der Rechten trug er ein hölzernes Rasiermesser von übergroßen Dimensionen. Und dann war da der Finanzminister Seiner Majestät, dessen Kostümierung derjenigen des Hofbarbiers kaum etwas nachgab. Der hatte eine große Rolle in der Hand und begann nun mit gewichtiger Stimme, die merkwürdig an diejenige des ersten Bootsmannes erinnerte, die Namen der Täuflinge zu verlesen.
John Workmann hörte seinen Namen nennen. Gleichzeitig gab ihm James Webster einen kleinen Stoß.
»Treten Sie vor, Mr. Workmann und machen Sie gute Miene zum bösen Spiel. Es ist ja alles nur Scherz.«
John Workmann trat auf die Gruppe Neptuns zu und wurde sogleich vom Hofastronomen angesprochen.
»Seine Königliche Majestät sind erfreut, einen Neuling in ihrem Reiche begrüßen zu können, und haben Befehl gegeben, demselben den Äquator durch das Fernrohr zu zeigen.«
Dabei bedeutete man John Workmann, auf einem Stuhl Platz zu nehmen, der vor einem großen, auf einem Dreibein montierten Fernrohr stand. Der Hofastronom trat hinter ihn, rückte ihn vor dem Rohr zurecht, und nun erblickte John Workmann wirklich das helle Gesichtsfeld des Rohres, durch das sich mitten hindurch ein dicker gelber Streifen wie eine gerade Linie zog. Man zeigte ihm einen vor die Fernrohrlinse gespannten Bindfaden als den Äquator. Und außerdem war das Ganze noch eine Geschichte mit doppeltem Boden, wie er gleich merken sollte.
Besorgt und belehrend fragte ihn der Hofastronom, ob er den Äquator auch ganz genau und scharf sehen könne, rückte dabei an dem Rohr, manipulierte an einigen Schrauben herum und plötzlich floß John Workmann eine ganz gehörige Portion Wasser, die in dem Rohr gesteckt hatte, zum Teil ins Gesicht und zum Teil in den Ärmel des rechten Armes, den er gerade am Rohr hatte.
Verdutzt fuhr er zurück und sprang auf. Aber schon trat ein anderer Minister Neptuns auf ihn zu, verkündete, daß die Äquatortaufe an dem amerikanischen Bürger John Workmann formgerecht vollzogen sei, und überreichte ihm einen Taufschein von ähnlicher Art wie jenes Dokument Websters. Er schüttelte sich und barg seinen neuen Taufschein an einem trockenen Platze seiner Kleider. Gehörig naß war er bei der Geschichte geworden. Aber die Tropensonne, die trotz aller Sonnensegel auf das Deck niederbrannte, ließ ihn die Durchnässung nur als eine angenehme Erfrischung fühlen. So blieb er neben James Webster stehen, um den weiteren Verlauf der Zeremonie zu beobachten.
Bei den Passagieren ging es glimpflich zu. Unerschöpflich waren die Tricks und Erfindungen, die sich der Hofstaat Neptuns ausgedacht hatte, um die Täuflinge, die ja alles Vorangehende mit angesehen hatten und gehörig auf ihrer Hut waren, doch immer wieder zu überlisten und gründlich einzuweichen. Da gab es das berühmte Muschelhorn Neptuns, auf dem der Täufling blasen sollte und dabei seinen Guß abbekam. Es gab einen Sextanten, mit dem der Täufling sich durch Messung der Sonnenhöhe selbst davon überzeugen sollte, daß sie auf dem Äquator waren, und im entscheidenden Augenblick wurde der Sextant ein Springbrunnen.
Schließlich aber waren alle Passagiere, die zum erstenmal über die Linie kamen, getauft, und nun kam die Mannschaft dran. Hier ging es nach jenem alten rauhen Brauch zu, der eine Parallele nur bei einigen christlichen Sekten findet. Hier galt der Grundsatz: Es genügt nicht, dem Täufling ein wenig Wasser auf die Stirn zu träufeln. Er muß vielmehr mit dem ganzen Körper in das heilige Wasser hinein und dreimal kräftig untertauchen, wenn die Zeremonie die gewünschte heilkräftige Wirkung haben soll.
Und so geschah's denn auch. Jetzt bekam der Hofbarbier Arbeit. Nach dem alten Brauch wurden die Täuflinge auf eine Planke gesetzt, die quer über einem Bassin lag, mit einem fürchterlichen Maurerpinsel eingesalbt, mit dem hölzernen Messer geschabt und durch eine jähe Wendung der Planke rücklings in das Bassin befördert.
Der »Abraham Lincoln« befand sich nun auf der südlichen Halbkugel und zog tagaus, tagein seine Bahn weiter nach Süden. Auf die Küste von Ecuador folgte diejenige von Peru, und in Lima legte das Schiff für einen Tag an. Nachdenklich stand James Webster an der Reling und betrachtete die Anden, die hier dicht an die Küste herantreten und die Höhe der europäischen Alpen schon bedeutend überschreiten. Während das Schiff wieder aus dem Hafen hinausglitt, wies er John Workmann die einzelnen Zacken und Gipfel, überall in diesen Bergen war er gewesen, hatte er geschürft und auch mancherlei gefunden.
»Dort oben«, sagte er und zeigte mit der Rechten auf einen zackigen Gipfel, »dort oben habe ich Kupfer und Wolfram gefunden. Und dort habe ich an der eigentlichen Quelle des Maranon, des Amazonenstromes gestanden. Hier ganz dicht an der Westküste, so daß man von seiner Quelle aus den Pacific sehen kann, entspringt der Riesenfluß, um in einem 5000 km langen Lauf quer durch den ganzen Kontinent bis zum Atlantischen Ozean zu strömen. Maranon ist die bessere Bezeichnung dafür.«
»Warum das?« fragte John Workmann.
»Das ist lateinisch, Mr. Workmann. Ich verstehe selber kein Latein, aber im Spanischen heißt's auch nicht viel anders und bedeutet: Meer oder nicht Meer. Als die alten Jesuitenväter nach Narajo am Atlantik kamen, da fuhren sie den Strom viele hundert Kilometer hinauf und wußten immer noch nicht, ob sie sich auf einem Strome oder noch auf dem offenen Meere befanden. Immer noch waren die beiden Ufer des Amazonas so weit voneinander entfernt, daß man das eine aus dem Gesicht verlor, wenn man sich dem anderen näherte. Da standen die frommen Väter, staunten und sprachen in ihrem Jesuitenlatein: mare an non (Meer oder nicht). Danach trägt der Fluß noch heute den Namen.«
Weiter ging die Fahrt. Auf die peruanische Küste folgte ein Stückchen bolivianischen Gestades. Hier legte der »Abraham Lincoln« in Antofagasta an, gab Post und einige Passagiere von Bord, um dann sofort die Reise nach Süden anzutreten. Nun hatten sie bereits seit zwei Tagen die chilenische Küste am Osthorizont neben sich. Immer höher wurden die Gebirge, immer weiter blieben sie über die offene See hin sichtbar, obwohl das Schiff seinen Kurs weitab vom Lande hielt.
John Workmann hatte seine Zeit während der Reise nicht verloren. Der spanische Sprachführer kam nur selten aus seiner Hand. Schon bald nach dem Passieren des Panamakanals hatte er den ersten Versuch gemacht, mit Webster, der diese Sprache vollkommen beherrschte, spanisch zu reden. Es war über Erwarten gut geglückt. Auch hier zeigte es sich wieder einmal, daß ein junger Mensch mit einem einigermaßen hellen Kopf und Lust und Liebe zur Sache eine europäische Sprache doch in überraschend kurzer Zeit lernen kann.
Als der »Abraham Lincoln« neun Tage, nachdem er den Panamakanal passiert hatte, im Hafen von Valparaiso festmachte, ging John Workmann mit einem ganz anderen Sicherheitsgefühl an Land, als vordem in Havanna. Jetzt lag ihm der Klang der spanischen Sprache bereits im Ohr, und er stand keineswegs mehr wie ein Taubstummer zwischen der dortigen Bevölkerung.