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Sie standen auf der Brücke der Winde. Ein schmaler, kaum anderthalb Meter breiter Holzsteg. Unmittelbar zu ihrer Rechten erhob sich leicht überhängend die Felswand. Eiserne Träger waren in die Wand eingelassen und trugen den Steg. Wie Menschen einmal ohne den Steg hierhergekommen sein und diese Träger eingesprengt haben mochten, davon konnte sich John Workmann keine Vorstellung machen. Zur Linken schloß ein einfaches Holzgeländer den Steg ab. Etwa vier Meter unter ihm stand glasig grün das klare Flußwasser und quirlte in eigentümlicher Unruhe hin und her. Die Luft war mit feinem Wassernebel und Gischt durchsetzt. Der Holzsteg triefte vor Feuchtigkeit und auch die Felswand zu ihrer Rechten. Über alldem lag ein trübes, unbestimmtes, grünliches Licht. Denn kaum zehn Meter zur Linken von der Brücke entfernt stand es wie eine mächtige, nur schwach durchsichtige Wand. Aber eine Wand, die dauernd ein derartig donnerndes Krachen verbreitete, daß eine Verständigung von Mund zu Mund nur möglich war, wenn der eine dem anderen die Worte unmittelbar ins Ohr schrie. Das war der Niagara-Fall, der amerikanische Fall, der sich da in einer Breite von mehr als 300 Metern über eine Höhe von 50 Metern hinabstürzte. Der Name ist indianisch und bedeutet »donnerndes Wasser«.
Sie standen auf der Brücke der Winde, die in den schmalen Raum zwischen der überhängenden Felswand und dem Fall selbst hineingebaut ist. Was sonst kaum bei einem Wasserfall möglich ist, das konnte bei diesem größten und gewaltigsten Falle der zivilisierten Welt geschehen. Man konnte unter den Fall treten, konnte sich die unendlichen dort niederstürzenden Wassermengen gewissermaßen von der Innenseite ansehen.
Und als jetzt die Mittagssonne hinter einer dunklen Wolke hervortrat und den Fall voll bestrahlte, da schien die Wasserwand aus flüssigem Smaragd zu bestehen, und in wunderbarem Farbenspiel strahlte der feine Wassersprüh, der den Raum erfüllte.
Die Brücke der Winde nannte man diesen Pfad, die Höhle der Winde wohl den ganzen Ort. Denn unaufhörlich pfiff von der Landseite her, von welcher die Wanderer den Steg betreten hatten, ein scharfer, brausender Zugwind herein. Die stürzenden Wasser saugten ja stets Luft an, rissen sie in den Strudel nach außen mit hinweg und erzeugten so hinter dem Wasservorhang ein Vakuum, in welches von der Landseite her ständig neue Luft nachströmte.
Mr. Reppington und John Workmann standen wohl eine halbe Stunde am Ende des Pfades mitten unter dem Falle und bewunderten dies gigantische Naturschauspiel. Dann kehrten sie langsam zum Ufer zurück und gaben die wasserdichten Gummimäntel bei dem Wärter am Eingange wieder ab. Hier war es etwas leiser, aber immer noch laut genug. Denn der Donner der Fälle erfüllte die Luft weithin, und der an der Außenseite der stürzenden Wassermassen emporstiebende Gischt erhob sich mehr als hundert Meter in die Luft. Erst als der Wärter die Tür seines Hauses zuzog, wurde es möglich, sich ohne Schreien zu verständigen.
Mr. Reppington drückte dem Wärter außer der vorschriftsmäßigen Taxe noch ein Extratrinkgeld von mehreren Dollars in die Hand. Das machte den alten Mann redselig, und während er die Mäntel wieder sorgfältig in einen großen Schrank verstaute, begann er allerlei Erinnerungen und Neuigkeiten zum besten zu geben.
Von Charles Blondin erzählte er, der vor sechzig Jahren auf einem gespannten Seil über den Fall geschritten sei und dabei sogar noch einen anderen Mann in einer Karre vor sich hergeschoben habe. Und dann von den vielen Tollkühnen, die es wieder und immer wieder versucht hätten, in einer Boje oder einem Faß über die Fälle zu fahren, und die doch alle ein elendes Ende gefunden hätten . . .
»Und nun das Neueste, Gentlemen, morgen wird der tolle Sullivan aus Oswego es wieder versuchen. Er ist schon hier in Niagara Falls City. Er und seine Tonne . . .«
John Workmann kannte die Geschichte. Seit vierzehn Tagen waren die Zeitungen der Gegend voll davon. Dieser Sullivan war ein früherer Artist, der aus irgendwelchen unbekannten Gründen ebenfalls auf die tolle Idee verfallen war, sich in einem besonders konstruierten Faß durch die Fälle schleudern zu lassen.
Die Zeitungen hatten das Bild des Mannes in allen erdenklichen Aufmachungen gebracht, erst in gewöhnlichem Zivil, dann in dem Trikot, welches er während der Fahrt tragen würde, dann in seinen verschiedenen Nummern auf der Varietébühne und schließlich die berühmte Tonne selbst. Das war ein schmales, bojenartiges Faß von reichlich sechs Fuß Länge. Aus starken Eichenbohlen gefügt und innen mit einer kräftigen Polsterung versehen.
»Morgen soll die tolle Fahrt also losgehen. Ich möchte sie doch gern mit ansehen«, sagte John Workmann, als sie ihrem Hotel zuschritten.
Mr. Reppington zuckte mit den Achseln. »Sie werden die Tonne einen Moment in blitzartiger Fahrt die Fälle hinabstürzen sehen, und der arme Narr wird sich dabei bis auf einige Beulen und mangelnde Luft noch ganz wohl befinden. Etwa 500 Meter unterhalb der Fälle wird die Tonne aller Wahrscheinlichkeit nach wieder auftauchen und nun wird alles darauf ankommen, ob die Freunde des Mannes das Faß im Laufe der nächsten Viertelstunde herausfischen und in Sicherheit bringen. Geschieht das, dann kann er sogar gerettet werden. Geschieht es nicht, so treibt das Faß in den fünf Kilometer unterhalb der Fälle liegenden whirl-pool. Hier bildet der Fluß einen seeartigen Strudel von unerhörter Gefährlichkeit. Seit Menschengedenken ist erst ein einziges Mal ein Fahrzeug, das in diesen Wirbelpfuhl geriet, wieder glücklich ans Land gekommen. Da kann die Tonne Wochen, ja Monate hindurch im Kreise treiben und jede Rettung ist ausgeschlossen. Aber wir bleiben ja noch 48 Stunden, haben also Zeit, das Abenteuer mit anzusehen.«
John Workmann konnte den Gedanken an den kühnen Abenteurer nicht loswerden. Immer mehr verdichtete sich der Entschluß in ihm, den Mann aufzusuchen und nach allen Regeln geübter Journalistik auszufragen. Mr. Reppington dagegen hatte mehrere andere Dinge vor. Nachdem sie ihr dinner eingenommen hatten, erschien er wieder, mit Botanisiertrommel und Schmetterlingsnetz ausgerüstet, und forderte John Workmann auf, ihn zu begleiten. Der war erstaunt, den Oberingenieur wieder in der Verkleidung eines Professors der Botanik zu erblicken, aber er fragte nicht weiter, weil Mr. Reppington allzu vieles Fragen nicht liebte. Zur gegebenen Zeit würde der schon sagen, was zu sagen war.
Mr. Reppington war als Naturforscher angetan, aber er schien heute noch mehr mit der Geographie vorzuhaben. Auf einer der elektrischen Bahnen, die von Niagara Falls City ausgehen, fuhren sie die Fälle und den Fluß aufwärts bis zum Ontariosee und dann diesen an der amerikanischen Küste entlang bis halbwegs Olcott. Dort wanderten sie das Seeufer entlang, und an mehr als einer Stelle zog Mr. Reppington seine Karten zu Rate. John Workmann konnte sehen, daß er an verschiedenen Stellen Gelände mit grünen Linien umrahmt hatte und nun an einzelnen Stellen rote Striche hinzufügte.
Die Sonne stand schon tief, als sie sich auf den Heimweg machten. Erst bei Dunkelheit erreichten sie die elektrische Bahn und am späten Abend waren sie im Hotel.
Mr. Reppington sprach nicht viel, nur einen Satz, aber der gab John Workmann zu denken.
»Wenn die Stadtverordneten von Bay City mir Schwierigkeiten machen, dann geht es auch ganz gut am Ontario.«
Da merkte John Workmann, daß Mr. Reppington als kluger Mann mehrere Eisen im Feuer habe.
Lange Zeit lag er in dieser Nacht noch wach. Der Donner der Fälle hinderte ihn am Einschlafen, und in Gedanken suchte er das Spiel des Oberingenieurs zu ergründen. Der hatte in der Umgebung von Bay City in langen Tagen das geeignetste Gelände ausgesucht, hatte sogar die Zufahrtswege studiert und fuhr jetzt an die Fälle, um hier neue Grundstücke und neue Möglichkeiten ausfindig zu machen. Sicherlich doch nur zu dem Zweck, um an der anderen Stelle nicht gebunden zu sein.
John Workmann begann zu begreifen, daß die Abwicklung eines großen industriellen Geschäftes nicht so einfach sei, wie der Verkauf von Zeitungen auf dem Broadway. In seinen Gedanken erschienen die Stadtverordneten von Bay City und tanzten schließlich um Mr. Reppington einen Wirbeltanz, um ihm seine Pläne am Ontario zu entreißen. Und dann war es wieder der whirl-pool, und Mr. Reppington verwandelte sich in eine Tonne und schwamm mitten im Pool . . . und dann war John Workmann doch eingeschlafen.
Die Morgensonne des nächsten Tages lag goldig über den Fällen. Sie beschien den weißen Gischt, der wie ein wunderbares hin- und herwogendes Riesengebilde unterhalb der Fälle stand. Sie ruhte auf den grünen Wäldern zu beiden Seiten des Flusses und vergoldete die weißen Bauten der Kraftwerke unterhalb der Fälle, in denen ein Bruchteil dieser gewaltigen Naturkraft in nutzbringende, elektrische Arbeit verwandelt wurde.
John Workmann und Mr. Reppington schritten über die leicht schwingende Seilbrücke, welche vom amerikanischen Ufer her zu dem winzigen, mitten im Falle liegenden Eiland, der Ziegeninsel, führt. Hier hatten sie nach allen Richtungen hin einen wunderbaren Rundblick. Nach der amerikanischen Seite hin den mehr als 300 Meter breiten amerikanischen Fall. Nach der kanadischen Seite hin den horse-shoefall, so genannt, weil die Kante, über welche das Wasser hier in die Tiefe stürzt, wie ein Hufeisen gebogen ist. Während die Breite des kanadischen Falles, geradlinig von Ufer zu Ufer gemessen, kaum mehr beträgt als diejenige des amerikanischen, ergibt sich so infolge der Ausbuchtung eine Breite des Falles von beinahe 600 Metern.
Tosend und donnernd stürzen die Wassermassen zu beiden Seiten von Goat-Island in die Tiefe und reißen in jeder Sekunde eine halbe Million Kubikmeter mit.
Flußaufwärts, in der Richtung vom Lake Erie, sah man den Fluß in wirbelnden Stromschnellen herankommen. Hatte er doch hier, die letzten tausend Meter vor dem Absturz, bereits ein Gefälle von reichlich fünfzehn Metern. Soweit das Auge sehen konnte, war er hier schon eine kochende und strudelnde Wassermasse, die den Fällen zurannte. Jedes Boot, jedes Lebewesen, welches hier in das Wasser geriet, war rettungslos verloren.
Und dann der Blick stromabwärts nach dem Lake Ontario hin. Nur gelegentlich gab es einen Durchblick durch den weißen Sprühregen, der sich noch haushoch über die höchsten Spitzen der Ziegeninsel erhob. Dann aber sah man nach kurzem, fürchterlichem Wirbel den Fluß ruhig und majestätisch dahinziehen. Es schien, als ob der fürchterliche Sturz ihm alle Kraft genommen habe. Aber diese Ruhe war nur scheinbar. Dort, in einer halben Meile Entfernung, wo der breite Strom beinahe rechtwinklig nach Osten umbog, da gab es einen neuen Strudel und Wirbel. Da mahlten die wilden Wasser Tag und Nacht und zerschliffen und zertrümmerten jeden festen Körper, bevor sie ihn endlich wieder ausspien.
Es war um die neunte Morgenstunde, und allmählich begann sich die Insel zu füllen, zeigten sich an den Ufern schwarze Mengen von Menschen. Von allen Seiten, von Buffalo, Erie und Cleveland, von Rochester und Oswego brachten die Züge sie heran. Aus dem klassischen Viertel von New York kamen sie, aus Syrakuse, Ithaka, Marathon, Neapel und Attika. Von der anderen, der kanadischen Seite aber brachten sie die Bahnen von Sant Thomas, Stratford und Toronto heran.
Das Unternehmen des tollen Sullivan war nicht umsonst Wochen hindurch in der Presse besprochen worden. Nicht zu Tausenden, sondern zu Hunderttausenden kamen die Bürger der United States of North America, die Bürger von Usona, wie sie sich in den letzten Jahren gern zu nennen pflegten, und von der anderen Seite the subjects of his majesty, die Untertanen seiner Majestät, wie die Kanadier nicht ohne eine gewisse Ironie von den Bürgern der großen Republik genannt wurden.
Von der Menge dicht zusammengedrängt, standen John Workmann und Mr. Reppington auf der dem Hufeisenfall zugewandten Seite der Insel und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Alle alten Instinkte und Erinnerungen an das hastende Leben und Treiben auf dem Broadway wurden in John Workmann lebendig.
»Sehen Sie diese Riesenmenge, Mr. Reppington. Hunderttausende, die hierherkommen, von weither kommen, um den einen Mann zu sehen. Es ist doch etwas Großes um einen mutigen Mann . . .«
Aus der Nachbarschaft drangen andere Stimmen an John Workmanns Ohr.
»Zehn Dollars gegen einen, daß er nicht wieder lebendig aus der Tonne kommt.«
Die angelsächsische Wettlust war erwacht. Man wettete für oder gegen das Leben eines Menschen ebenso leidenschaftlich, wie sonst wohl irgendwo auf Sieg oder Platz eines Pferdes. Wetten in allen Preislagen und mit allen Schikanen wurden angeboten und angenommen. Aber die Dinge standen für Sullivan nicht gut. Es wurde höchstens 1:10 für den Fall seiner Rettung geboten. Nur wenige berufsmäßige Buchmacher fanden sich, denn es bot sich ihnen kaum eine Gelegenheit, sich durch Gegenwetten gegen Verluste einzudecken, ihr Buch rund zu machen, wie der technische Ausdruck lautet. Aber es kamen doch viele Millionen Dollar und Schillinge zusammen, die von der hunderttausendköpfigen Menge auf das waghalsige Unternehmen riskiert wurden, als mit dem zehnten Glockenschlage ein Zittern höchster Erregung durch die Menge ging. Mit dem zehnten Glockenschlage wurde vier Kilometer stromaufwärts der Mann in seiner Tonne in den Fluß gesetzt. Man hatte provisorisch eine Telefonleitung von jener Stelle bis zu den Fällen gelegt und so die einzige, bei dem ständigen Donnern der stürzenden Wassermassen mögliche Verständigung geschaffen.
Mr. Reppington zog seine Präzisionsuhr und John Workmann warf einen Blick darauf. Gerade in diesem Moment stieg in Niagara Falls City eine gewaltige amerikanische Flagge in die Höhe. Hochrufe durchbrausten die Menge. Die Flagge war das verabredete Zeichen, daß die Tonne im Wasser lag.
Von nun an schienen die Minuten zu kriechen. Alle Blicke waren stromaufwärts gerichtet, Mr. Reppington behielt seine Uhr in der Hand.
10 Minuten nach 10 . . . 11 Minuten . . . 12 Minuten.
Eine Woge von Schreien und Rufen ging durch die Menge. Ein kleiner, blauroter Fleck wurde noch weit stromaufwärts sichtbar. Noch eine Minute und noch eine. Da war das Ganze deutlich zu erkennen. Das hellbraun glänzende Oberteil einer Faßboje ragte etwa einen halben Meter aus den Fluten empor. Auf ihr ein meterhoher Stab und an diesem das star-spangled banner. Eine Flagge, die im Luftzug nach hinten wehte, während die Boje mit Eisenbahngeschwindigkeit auf die Fälle zutrieb. Geradenwegs auf Goat-Island trieb die Boje hin und verlangsamte hundert Meter vor der Insel ihre Fahrt. Einen Moment schien die Tonne stillzustehen und sogar eine rückläufige Bewegung zu machen. Sie war in den Strudel geraten, der sich gerade oberhalb der Ziegeninsel bildet; dort, wo die mittelsten Wasser des Stromes sich entscheiden müssen, ob sie über den amerikanischen oder den kanadischen Fall in die Tiefe stürzen, machte auch die Boje einen Augenblick halt und fuhr einmal einen kleinen Kreis aus. Dann entschied sie sich für den horseshoe-fall. In weitem Bogen steuerte sie dem Hufeisenfall zu, während ihre Geschwindigkeit raketenartig wuchs. Den Bruchteil einer Hundertstelsekunde stand sie, von Wasser beinahe frei, auf der glasig-grünen Kante des Falles. Dann schoß sie wie ein Phantom in die Tiefe und war in dem kochenden Strudel verschwunden.
200 000 Augen nahmen in diesem Moment die Richtung stromabwärts. Die Spannung, die auf der Menge lag, hatte sich durch den Sturz noch nicht gelöst. Alle Augen warteten darauf, irgendwo aus diesem Schaum die blaurote Flagge auftauchen zu sehen, aber die Gischtwolke machte den Ausblick nicht eben leicht. Jetzt waren diejenigen besser daran, die flußabwärts standen und beim Beginn des Schauspiels entschieden zu kurz gekommen waren. Und jetzt drang von dort unten her ein vieltausendstimmiger Schrei nach oben. Die Flagge war gesichtet worden. Am unteren Rande des Strudels war die Tonne aufgetaucht. Geknickt war der Flaggenstock und halb im Wasser schleifte die Flagge, aber unverkennbar war das blaue Feld mit den weißen Sternen, waren die roten Streifen im weißen Felde. Langsam trieb die Tonne nach dem fürchterlichen Sturz weiter zu Tale, dem Wirbelpfuhl entgegen.
John Workmann stand mit seinem Begleiter in der Menge fest eingekeilt. Sie konnten nichts von alledem sehen, was dort unten, tausend Meter stromabwärts, vor sich ging. Nur die immer aufgeregter werdenden Schreie der Masse drangen zu ihnen, Schreie, aus denen sich erraten ließ, daß dort unten ein starkes Motorboot in den Strom schoß und die Tonne zu fassen versuchte, bevor sie dem verhängnisvollen Wirbelpfuhl in den Rachen geriet. Ein beinahe hysterisches Aufschreien der Menge zeigte an, daß das Boot die Tonne gefaßt hatte und mit ihr an Bord wieder dem Ufer zusteuerte.
Und dann ein letzter erlösender Aufschrei. Die Tonne war geöffnet. Ihr Insasse war zwar ohnmächtig, aber am Leben. Zum erstenmal, seitdem Menschen diese gewaltigen Fälle kannten, war ein lebendiges Wesen unversehrt durch den fürchterlichen Wassersturz hindurchgekommen.
Während das Boot mit dem Geretteten am Ufer festmachte, begann sich die Spannung der Menge zu lösen. Die Hochrufe auf Mr. Sullivan, den Bezwinger des Niagara, den ruhmreichsten Bürger der ruhmreichen Union, erreichten eine Gewalt und Stärke, daß sie sogar das Donnern der Fälle eine kurze Weile übertönten. Händeklatschen, Hüteschwenken und Tücherwinken.
Die Menge hätte sich freilich auch kaum anders benommen, wenn man dort an Stelle des Lebenden eine Leiche aus der Tonne gezogen hätte. Nur in der Bezahlung der Wetten lag der Unterschied. Diejenigen, die einen Dollar auf das Leben von Mr. Sullivan gesetzt hatten, erhielten jetzt zehn dafür. Der Betrag der Gelder, die dort von Hand zu Hand wanderten, stieg in die Millionen, und die Taschendiebe, die sich immer und überall dort einfinden, wo große Menschenmassen zusammenkommen, machten gute Geschäfte.
Es dauerte lange Stunden, bevor die Menge sich so weit löste, daß auch John Workmann und Mr. Reppington zu ihrem Hotel zurückkehren konnten. Nur in kleineren Trupps ließen die Brückenwärter die Leute von der Ziegeninsel an Land gehen. Denn eine Überlastung der langen, schwankenden Seilbrücke mußte ja unabsehbare Folgen haben. Ein Seilbruch mußte Hunderte von Menschen in diese strudelnde Hölle stürzen, und von denen wäre sicher kein einziger lebendig aus dem Sturze entkommen.
Erst in der zweiten Nachmittagsstunde traten sie in die lobby des Hotels, und der Hotelclerk überreichte John Workmann eine Depesche.
Sie kam vom »New York Herald«, hatte eine bezahlte Rückantwort für tausend Worte und enthielt die Aufforderung, über das Unternehmen Mr. Sullivans sofort telegrafischen Bericht zu geben.
Der Zeitungsriese hatte seinen alten Boy nicht vergessen und wußte ihn zu finden, wo immer er auch sein mochte.
Um ¼3 Uhr stand John Workmann im Telegrafenamt und reichte die ersten Blätter seines Berichtes durch den Schalter. Um drei Uhr riefen die Jungen auf dem Broadway bereits seinen Bericht aus, den Bericht des Spezialkorrespondenten über das Abenteuer am Niagara.