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II

Von Schlaflosigkeit gebeugt, stand Columba in der Nacht auf und ging in die Küche hinunter. Wilde Eifersucht quälte sie. Seit einigen Tagen schon schlug der Großvater Pflöcke in die Wände des Portikus, wie er es vor Bannas Hochzeit getan, und sie war mit den Vorbereitungen für das Zuckerwerk fertig. Noch eine Woche, und sie würde eine Frau sein, und doch kam es ihr vor, als sei die Zeit bis Pfingsten noch lang; denn um Pfingsten mußte es schon fast heiß sein, und jetzt hatten noch Wind und Regen die Herrschaft. Nach dem schönen Wetter zu Ostern war der erbetene Regen im Überfluß gekommen, sogar von Schnee begleitet; ohne Unterlaß stiegen graue und rote Wolken vom Meere auf, und auch wenn einmal Sonnenschein über dem Tal lag, sahen Monte Bardia und Monte Albo, Monte Pizzinnu und Monte Gonare von einem Ende des Horizonts bis zum andern durch einen Nebelschleier zueinander herüber wie vier Greise, die mitten im Rauch um einen steinernen Herd sitzen. Und wenn die Sonne wieder erlosch, dann war alles traurig; der Regen strömte rauschend nieder, und die Dorfgassen verwandelten sich in Bäche. Doch dann schien die Sonne wieder, der Himmel sah aus wie ein blau und graues Mosaik, und in der Ferne, gegen Siniscola zu, beleuchtete ein Sonnenstrahl einen grünen Streifen, der aussah wie Wasser, hingegen ein Gerstenfeld mit bereits hohen Halmen war. Alles Buschwerk im Tal stand in Blüte, aber so geduckt, als schämte es sich, daß der Wind es unaufhörlich peitschte. Welch ein trübseliger Frühling! Als wäre die Erde mit den Elementen in Zwietracht geraten: sie hatte sich in den Kopf gesetzt zu lächeln und zu blühen, wie sie es sonst getan – und der Wind ohrfeigte sie wie ein grimmiger Geliebter …

Auch Columba hatte in Haltung und Miene etwas von einer Geprügelten: ihr Rückgrat war ermattet durch die schlaflosen Nächte, ihr Denken nebelhaft, und nichts interessierte sie außer ihrem Kummer. Nicht einmal die Schwatzereien der Nachbarinnen über die drei wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit: die endgültige Rückkehr des alten Arras, das Fest des heiligen Franziskus und das Verschwinden Dionisi Oros, rüttelten sie aus ihrer Versunkenheit auf. Dionisi hatte sich zum Fest des Heiligen begeben und war nicht wiedergekommen; und die neugierigen Weiber, die hin und wieder in seine wie die Höhle eines Wildschweines schwarze und stinkige Hütte eindrangen, kamen mit hochgehobenen Röcken wieder heraus und schüttelten den Kopf.

»Er muß wohl tot sein.«

»Oder er ist mit einem andern Bettler zu den Festen nach Fonni gezogen …«

Man hat ihn hier gesehen, man hat ihn dort gesehen … Man muß ihn ermordet haben … Er wird bei einer Bluttat zugegen gewesen sein, und sie haben ihn totgeschlagen, damit er nichts darüber aussagen kann.

Die Rückkehr Junassiu Arras' brachte den Frauen einige Ablenkung. Seine Verwandten und Freunde hatten eine Sammlung für ihn veranstaltet und von fast allen Hirten des Dorfes eine Ziege oder ein anderes Stück Vieh erhalten; so brachten sie eine kleine Herde zusammen, und er nahm sein früheres Leben als Hirte wieder auf. Nur Sonntags sah man ihn: in der Kirche; ernst und feierlich mit seinem steingrauen Bart, erschien er so ruhig wie ein Patriarch, der friedlich sein Leben unter Kindern und Kindeskindern hingebracht hatte. Nach der Kirche pflegte er sich zu den andern Alten oben auf dem Platze zu setzen oder Jorgi zu besuchen. Als er eines Tages am Hause der Corbus vorbeikam, sah er den Großvater auf seiner Türschwelle sitzen, damit beschäftigt, aus einem Stück Rohr einen Zündholzbehälter zu schnitzen, und grüßte ihn mit einem Kopfnicken. Zio Remundu erwiderte den Gruß, aber über beider Gesicht zuckte ein höhnisches Lächeln; und während die grünlichen Augen des Großvaters den gegabelten Stock betrachteten, den sanften Hirtenstab, zu dem der ehemalige Bandit nach so vielen Jahren wilder Auflehnung zurückgekehrt war, hefteten sich die Schweinsäuglein Zio Junassius auf das Taschenmesser seines alten Feindes, und es war, als sprächen beider Blicke: dahin ist es nun mit uns gekommen!

* * *

Columba zündete Feuer an und machte Kaffee. Der Großvater war draußen, und seine Matte lehnte aufgerollt in der Ecke hinter dem Herd, als wache auch sie und warte auf die Rückkehr des Alten. Der Wind heulte im Hofe, und als Columba die Tür öffnete, um im Portikus Holz zu holen, wehte ihr ein Geruch von Feuchtigkeit entgegen, der sie an den Geruch von Jorgis Kammer erinnerte. Sie faßte das Holz, hielt ihr Kopftuch, das der Wind davontragen wollte, mit den Zähnen fest und schloß die Tür hinter sich; aber der Geruch verfolgte sie, und sie sah ihn vor sich, klein und wachsbleich im Gesicht wie ein totes Kind, unbeweglich auf sein weißes Bett hingestreckt. Ja, sie hatte es getan: sie war zweimal zu ihm gegangen: das erstemal in der Osternacht, ohne zu wagen die Schwelle zu überschreiten; dann eines Morgens in der Frühe, ehe die Nachbarinnen aufstanden. Er schlief und war so klein, daß selbst Petru ihm wohl helfen und ihn heben konnte … Und sie war geflohen, ohne ihn zu wecken, und hatte in ihrem Hause alle Räume durchwandert, als wolle sie ihren Jorgi von ehedem suchen, den, der sie geküßt und beschimpft, beleidigt und verlassen hatte. Aber sie fand ihn nicht mehr, er war für immer verschwunden, der dreiste Student, der Feind Großvater Corbus; er war tot, vielleicht an seinem Stolz und seinem Zorn erstickt; und der ihr jetzt Tag und Nacht im Sinne lag, war ein anderer, ein kleiner, schwacher Jorgi, ein sterbendes Kind. Aber der Gedanke, daß Jorgi sterben könnte, ohne ihr zu verzeihen, und die Erinnerung an die andere mit sich nehmen würde ins Jenseits, peinigte sie mehr als die Vorstellung, Petrus Hoffnung könnte sich verwirklichen.

All das hielt sie indes nicht ab, die letzte Hand an die Vorbereitungen für die Hochzeit zu legen. Auch jetzt trank sie ein paar Tassen Kaffee, stellte das Licht auf einen Stuhl beim Feuer und fing an zu nähen. Der Hund Bannas, der auch des Großvaters Haus bewachte, heulte von Zeit zu Zeit, andere Hunde antworteten, und der Wind im Tal schien der Widerhall dieser Klagen. Columba hob den Kopf und mußte an die schrecklichen Nächte ihrer Kindheit denken, wenn die Mutter angstvoll auf den Wind horchte, der Unheil kündet … Und dann gedachte sie ihres nächtlichen Beisammenseins mit Jorgi, ihrer Angst vor Entdeckung, und meinte noch seinen leichten Schritt auf der Straße zu hören, wenn er zu ihr kam, so leise, daß das Klopfen ihres Herzens ihr stärker deuchte.

Aber täuscht ihr Herz sie jetzt? Wieder schlägt es wie zu jener Zeit, so laut, daß die Schritte, die sie zu hören meint – nein, die sie wirklich vor ihrer Tür hört, leiser erscheinen. Auf einen Augenblick senkt sich ein Schleier über ihre Augen und trennt sie von der Gegenwart: er ist da, er klopft an die Tür: wieder gesund – oder vielleicht tot? Auf jeden Fall ist er aufgestanden und ist da, wie einst, und ruft sie.

Mit einem Satz ist sie an der Tür und öffnet, ohne nur zu fragen, wer da sei.

»Zia Colù, ich bin's! Ich sah hier Licht und dachte, vielleicht muß sie Brot backen. Gebt mir ein wenig Feuer, meinem Herrn ist es schlecht, und unsere Kohlen sind so feucht, daß sie nicht brennen bei dem verfluchten Wetter. Habt Ihr Euch erschrocken?«

Petru kam herein mit einem Tiegel in der Hand und ging direkt auf den Herd zu.

»Bleibst du auch nachts da? Was hat er denn?« fragte Columba mit heiserer Stimme.

»Nein, nachts bin ich fast nie da, aber es war ihm schon gestern schlecht, und da sagte Donna Mariana, ich sollte da schlafen. Sie hat uns auch eine Spirituslampe geschenkt, aber ich fürchte mich sie anzuzünden: sie könnte explodieren, und dann wäre es gewiß, als hätten wir den Teufel im Haus. Ist Euch auch schlecht?«

»Ich bin aufgestanden, weil ich zu tun hatte. Nimm nur, nimm,« sagte sie und schob mit der Schaufel die Glut in den Tiegel. »Aber was hat er?«

»Weiß ich's? Er ist jetzt verwöhnt. Ich will ihm ein wenig Kaffee machen.«

Von der Tür aus sah sie die kleine, dunkle Gestalt an der Mauer entlanggehen; der Wind trug einige Funken aus dem Tiegel davon, die Hunde heulten in der Finsternis wie verdammte Seelen.

»Ich gehe!« sagte Columba zu sich selbst, trat hinaus und wollte die Tür hinter sich zuziehen; aber der Wind riß sie ihr aus der Hand und stieß sie wieder auf, als wolle er ihr bedeuten, daß sie unrecht tue, das Haus zu verlassen.

»Jorgi wird sterben! Darum heulen die Hunde so. Madonna mia del Consolo, er ist durch meine Schuld krank geworden, und eine Fremde sorgt für ihn, eine, die ihn nicht als Kind gekannt, die nicht mit ihm getanzt hat …«

Sie setzt sich wieder zum Feuer und verbirgt das Gesicht in den Händen. Und da sieht sie ihn wieder vor sich: klein, blaß, mager, die Stiefmutter prügelt ihn, und er läuft davon, die Gasse hinauf, und oben kehrt er sich um und lacht und weint zu gleicher Zeit; und sie, Columba, beugt sich aus dem Fenster und sieht ihm spöttisch nach …

»Als Kind war ich böse,« denkt sie in einem Moment lichten Bewußtseins, »ich hatte Freude daran, wenn die Stiefmutter ihn schlug. Und jetzt? Ist es noch ebenso. Und Banna ist so böse wie ich, und der Großvater noch schlimmer … Wir haben auf die arme Waise losgeschlagen und sie so weit gebracht … Und die Fremde …«

Der Gedanke an die Fremde ließ sie erbeben; aller Trotz, aller Groll, die sie gegen Jorgi genährt, kehrten sich jetzt gegen jene.

»Aber ich gehe hin und nehme ihn ihr wieder; ich gehe, und sobald er mich sieht, wird er die andere vergessen. Sie kann ihn nicht lieb haben: sie haben mir gesagt, sie wäscht sich die Hände, wenn sie ihn nur angerührt hat, und sie wacht nicht bei ihm. Ich kann hundert Nächte, tausend Nächte bei ihm wachen, ohne müde zu werden, bis er wieder gesund ist. Und dann? Und mein Bräutigam? Ach, er soll sich zum Teufel scheren …«

Jetzt meint sie auch ihren Verlobten zu hassen. Und wieder steht sie auf, schiebt den Arbeitskorb mit dem Fuß beiseite und geht an die Haustür. Der Wind und die Hunde heulen immer kläglicher: vielleicht stirbt Jorgi jetzt … Columba schließt die Türe, kämpft ein wenig gegen den Wind und geht an der Mauer entlang, wie sie Petru tun sah … Ihr Kopftuch flattert gegen die Mauer wie ein großer schwarzer Vogel; aber als sie die Ecke des Hauses und damit Jorgis Höfchen erreicht hat, packt sie ein heftiger Windstoß und treibt sie – als hätte er seine Meinung geändert – dorthin, der kleinen, dunkeln Tür zu, ihrem Schicksal zu.

* * *

Bei dem kleinen Kochherd kauernd, wartet Petru darauf, daß der Kaffee kocht; als Columba in die Tür tritt, schreit er laut auf vor Überraschung.

Jorgi sieht auf, schweigend und ohne sich zu regen: er meint eben, er träume noch und eine der Gestalten seiner Fieberphantasien käme auf ihn zu in der nur von einem Lichtstümpfchen erhellten Kammer.

Columba zog sich das Kopftuch über die Augen, um ihre Verwirrung zu verbergen; aber vor dem Bett angelangt, sank sie in die Knie, barg ihr Gesicht in die Decke und brach in so heftiges Weinen aus, daß Jorgi und Petru denselben Gedanken hatten: sie sei verrückt geworden.

»Zia Colù … Zia Colù …« sagte der Knabe zitternd und brachte nichts mehr heraus. Jorgi faßte sich endlich so weit, daß er mit der belegten Stimme des Fiebernden murmelte: »Petru, zünde die Kerze an und geh einen Augenblick hinaus …«

Da hob Columba den Kopf und sprang auf. »Warum schickst du ihn fort? Es ist mir ganz gleich, ob er mich sieht … er und die andern, es ist mir gleich …«

»Gut, dann beruhige dich! Was willst du?«

»Wissen, wie es dir geht …«

»Siehst du das nicht? Und jetzt ist dir das eingefallen, um diese Stunde?«

Welch kalte, schneidende Bitterkeit in seinem Ton! Ach, das war noch immer ihr stolzer Giorgio, der sie auch jetzt noch demütigte; doch wenn er da in seinem fieberheißen Bett noch immer der selbe war – sie war eine andere, sie war klein und schwach geworden, und ihre zerknirschte Seele beugte und demütigte sich wie ein vom Wind geknickter Zweig.

Petru stellte die Kerze auf das Tischchen, und Jorgis Gesicht erschien blaß und abweisend. Columba trocknete sich die Augen mit dem Hemdärmel und preßte die zitternden Knie gegen das Bett. »Ja, um diese Stunde!« stammelte sie. »Ich weiß, es ist Nacht, aber für mich ist es alles eins. Die Nacht ist schlimmer noch als der Tag …«

»Was willst du?« fragte er nochmals, und sein Ton klang weniger hart.

»Daß du mir verzeihst!«

»Hundertmal schon habe ich dir verziehen. Geh, geh wieder nach Hause!«

»Das ist nicht wahr, nein, du hast mir nicht verziehen, sonst würdest du mich jetzt nicht fortschicken … Und du bist doch von mir gegangen und nie wiedergekommen …«

»Du mußtest kommen, Columba!«

»Ich fürchtete, du würdest mich fortjagen, und nun tust du es ja auch! Warum?«

Er zögerte mit der Antwort: was sollte er auch sagen? Daß ihm nichts mehr an ihr lag? … »Du mußtest früher kommen, viel früher, und du wußtest das. Jetzt …« sagte er und hob die Hand, als wollte er auf etwas deuten, das in der Luft zerstoben sei.

»Jetzt … du kannst wieder gesund werden, wenn du Ruhe hast, sagt der Doktor. Ich will dich pflegen … du sollst sehen! Ja, der Doktor sagt, eine große Freude könnte dich wieder gesund machen. Und darum bin ich gekommen … Siehst du? Ich bin hier … deine Columba! Sag, Jorgi, erkennst du mich?«

Er betrachtete sie voller Mitleid: sie war es ja, die phantasierte!

»Ich werde nicht wieder gesund, Columba! Aber das tut nichts, mache dir deshalb keine Sorge; geh, sei ruhig und denke nicht mehr an mich … Warum ist es dir jetzt auf einmal in den Sinn gekommen, dich um mich zu bekümmern?«

»Ich habe immer an dich gedacht … Aber du liebtest mich nicht wie ich es wollte. Du hast mich immer beschämt und herabgesetzt: ich war für dich ein unwissendes Geschöpf … Nun, ich bin's ja auch, und du magst es mir immerhin vorwerfen, nur mich nicht fortschicken! Jorgi, verzeihe mir: ich stehe hier wie eine, die dem Tode nahe ist und zu dem geht, der ihr ein Heilmittel geben kann. Ich bin kränker als du, ich hasse alle … alle, die uns zugrunde gerichtet haben … Hätten sie uns in Ruhe gelassen, dann wäre nichts geschehen … das weiß ich, und du mußt nicht glauben, ich wäre so dumm. Ich kann nicht sprechen, aber denken … Hier drinnen« – sie drückte beide Hände an den Kopf – »hier drinnen brennt es immerzu … und mitunter möchte ich diesen verwünschten Kopf gegen einen Stein schlagen. Ja, wenn du bei mir warst, dann schwieg ich, aber so vieles kam mir in den Sinn: und du verstandest das nicht, du meintest, ich sei dumm, böse und heuchlerisch. Und darum hattest du mich nicht lieb. Auch an dem Tage, da du von Nuoro zurückkamst und ich dir jene schreckliche Sache erzählte, auch da wolltest du mich nicht anhören, und ich konnte nicht sagen, was ich sagen wollte … sonst stände ich jetzt nicht hier, um diese Zeit, und du wärest nicht so … so krank und hilflos wie ein kleines Kind.«

Tränen des Mitleids feuchteten ihre Wangen, und sie versuchte nicht mehr sie zu verbergen, und auch er fühlte, wie sein Mitleid für sie wuchs.

»Petru,« sagte er noch einmal zu dem begierig lauschenden Knaben, »höre, geh hinaus; wir haben über Dinge zu reden, die du nicht zu hören brauchst.«

»Aber ich sage nichts weiter, Zio Jò! Ich schwöre es Euch auf mein Gewissen, und Zia Columba kann es bezeugen, daß ich nie den Mund aufgetan habe. Sprecht nur … Und wollt Ihr jetzt den Kaffee oder nicht? Ecco! Nachher wird Euch besser sein.«

Er goß den Kaffee in die zersprungene Tasse, Jorgi versuchte sich aufzurichten, und Columba, immer noch schluchzend, stützte seinen Kopf mit der einen Hand und hielt ihm mit der andern die Tasse an die Lippen. Er ließ es geschehen, trank, fühlte sich erquickt und gewillt, auch sie zu trösten.

»Nimm du auch ein wenig Kaffee, Columba, und setze dich; aber vor allem beruhige dich. Mir tut der Kopf weh, ich habe Fieber und kann dich nicht weinen sehen … Wieviel Uhr ist es?« wandte er sich dann an Petru. »Mir scheint, es wird schon Tag: wenn du jetzt die Milch holtest?«

Der Knabe begriff, daß er sich unbedingt entfernen mußte, nahm die Milchflasche und ging. Da schien auch Columba ruhiger und sicherer zu werden; sie setzte sich auf den Schemel und legte ihre Hand auf die Jorgis; aber instinktmäßig zog er die seine zurück: und daraus, mehr als aus irgendwelchem Wort, erkannte sie, daß sie nichts mehr miteinander gemein hatten.

»Du sagst, ich wollte dich fortjagen,« hob er, dem Faden ihrer Gedanken folgend, an. »Das ist nicht wahr. Es ist mir lieb, daß du gekommen bist. Ich werde sterben, und es ist besser, daß ich in Frieden mit allen scheiden kann. Aber ich will nicht mehr mit dir streiten. Du mußtest früher kommen, jetzt ist es zu spät: du schadest mir und dir …«

»Ich bin frei,« rief sie mit ihrem alten Stolz, »und kann tun, was mein Herz mir sagt!«

»Das mußtest du früher tun: jetzt ist es zu spät.«

»Warum zu spät? Weil du krank bist? Aber ich werde hierbleiben und dich pflegen: wärest du nachher krank geworden, wäre ich dann nicht ebensogut bei dir gewesen?«

»Nein, Columba, du verstehst mich nicht,« sagte er traurig.

»Ich verstehe dich wohl! Du hast mich nicht mehr lieb, das willst du sagen. Und du hast recht: ich habe dich zugrunde gerichtet. Aber du stehst allein, liebes Herz; wer pflegt dich? Ein armer, unwissender und schwatzhafter Knabe. Auch wenn du mich nicht mehr lieb hast, bleibe ich doch bei dir … Ich will deine Magd sein, und mit der Zeit wirst du mich auch wieder lieb haben … Um deinetwillen verlasse ich sie alle, meine Verwandten, den Bräutigam, den Großvater, alle, alle … wie du es wolltest …«

»Aber jetzt will ich es nicht mehr! Damals war ich gesund. Wärest du damals gekommen, so wäre ich vielleicht nicht krank geworden.«

»Wer weiß! Vielleicht hätte der Ärger doch nicht aufgehört. Wäre ich gekommen, so hätte die Verleumdung kein Ende genommen …«

Sie verstummte, als falle es ihr schwer, an jenen Vorfall zu rühren, und sie war sehr verwundert, daß Jorgi ganz ruhig darüber zu sprechen vermochte.

»Nein, das ist nicht richtig. Wärest du gekommen, so wäre ich nicht krank geworden; ich hätte die Kraft gefunden zu kämpfen. Um jene Verleumdung habe ich mich nie bekümmert; die mußte, wie alle Verleumdungen, mit der Zeit hinfällig werden. Denn die Wahrheit existiert, Columba! Wer hat zum Beispiel dich getrieben um diese Stunde hierherzukommen? Die Wahrheit! Und deshalb freut es mich, daß du gekommen bist! Auch dein Großvater wird kommen und deine Schwester und alle meine Feinde, alle die mich verleumdet haben! Wärest du gleich zu mir gekommen, so wäre diese Freude, die ich jetzt allein empfinde, uns beiden gemeinsam zuteil geworden und ich nicht erkrankt … Aber es tut nichts … Ich bin auch so zufrieden, es tut mir nur leid für dich. Du leidest, armes Kind, aber auch du mußt dich zusammennehmen, und du begreifst …«

Ja, sie begriff; verworren zwar, doch sie begriff.

»Du bist klug,« fuhr er fort, »und das gefiel mir. Wärest du in einem andern Hause geboren – wie glücklich hätten wir sein können! Wie so viele andere, die einander begegnen, sich lieben und eine Familie bilden! Doch es ist nutzlos, jetzt daran zu denken. Und du wirst ja auch nicht unglücklich sein: eine Familie wirst du haben, eine gute Mutter sein und mich vergessen. Geh jetzt wieder nach Hause und sei ruhig. Dein Großvater ist nicht da, nicht wahr? Daß er dich ja zu Hause findet, wenn er wiederkommt … und daß deine Schwester nicht merkt, daß du gekommen bist. Mit der Zeit werden auch sie kommen, aber jetzt muß man sie nicht reizen. Und darum geh!«

»Und wenn ich nun hierbleiben wollte? Was würdest du tun?«

»Ich? Nichts, Columba! Was kann ich tun?« sagte er mit einem Lächeln, das sie mehr kränkte, als irgendwelche Drohung es vermocht hätte. »Ich könnte dich ganz gewiß nicht beim Arm nehmen und an die Tür führen; aber …«

»Ich meine, Jorgi, wenn ich hierbliebe, würdest du mich endlich doch wieder lieb haben …«

»Christus hat uns geboten auch unsere Feinde zu lieben; und ich bin dir nicht böse, aber gerade deshalb sage ich dir: Geh, es ist besser für dich! Dein Platz ist nicht hier. Bliebest du gegen meinen Willen, so müßte ich glauben, du wolltest mich noch weiter quälen, und das ist unnötig …«

Columba schwieg, und einige Augenblicke lang herrschte ein von gemeinsamen Erinnerungen und gemeinsamem Schmerz erfülltes Schweigen, das sie einander näherbrachte als alle zwecklosen Bitten, Versprechungen und Erklärungen. Aus ihrem Traum geweckt, begriff sie, daß sie gehen mußte – doch Mitleid und Eifersucht zugleich hielten sie noch zurück.

»Und was wird aus dir werden, Jorgi? Was willst du tun?«

»Was ich bis jetzt getan habe …«

»Ach, bis jetzt! Du hast gelebt wie ein Verzweifelter, deine Tür verschlossen gehalten …«

»Von nun an wird es anders sein: ich will mit allen Frieden machen, das sollst du sehen, selbst mit dem Großvater. Sag' es ihm nur, wenn er kommen will, soll er doch kommen …«

Columba schüttelte den Kopf; sie saß da zusammengesunken, mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen: »Jetzt sprichst du so, weil du dich freust, ja, ich weiß, du freust dich … Aber wenn du wieder allein sein wirst, wirst du deine Tür wieder zumachen …«

»Nein, nein, du sollst sehen, ich werde nicht mehr allein sein …«

Und wieder schwiegen sie. Keiner von beiden nannte den Namen der Fremden: aber sie war hier, mitten unter ihnen, und er sah sie weiß und lachend, ihre Kleider raschelten leise, und Blumenduft entströmte ihnen. Und nun trat sie hinaus aus seiner Kammer: und sie war es, die den Himmel über der Hochebene silberhell machte und der kleinen Tür den leuchtenden Hintergrund schuf und den Wind zum Schweigen brachte am dämmernden Maimorgen und die Meisen im taufeuchten Gebüsch auf dem Abhang ihren Gesang anstimmen ließ …

Und auch Columba meinte sie zu sehen, weiß und mit glänzenden Augen, wie sie sie an jenem Morgen auf dem Balkon gesehen, und es war ihr, als spräche ihre Stimme: Geh, geh fort! Schämst du dich nicht, hier zu sitzen, nachdem du dich an den andern gebunden hast?

Ja, sie mußte gehen: der Morgen dämmerte, der Großvater konnte von einem Augenblick zum andern zurückkehren, sie hier finden, sie prügeln … Und wie allmählich das Licht durch das Fensterchen und die Spalten in der Tür eindrang, nahm die Wirklichkeit wieder von ihr Besitz.

Da kam Petru zurück. »Der Wind hat sich gelegt, und es wird endlich wieder schön,« berichtete er. »Da ist die Milch, aber Zia Artura hat heute schlecht gemessen.«

Jorgi betrachtete Columba, wie sie so blaß, so elend aussah, und dachte: Warum kam sie nicht früher? Ich hätte mich wirklich so darüber gefreut, daß ich hätte aufstehen können. Jetzt ist es zu spät …

»Wann heiratest du?« fragte er.

»Zu Pfingsten. Sonntag in acht Tagen.«

»So bald schon? Und gehst du gleich fort?«

»Gleich.«

»Und wer bleibt bei dem Großvater?«

»Er wird allein sein. Vielleicht wird er sich eine Magd suchen …«

»Ich weiß Euch eine!« sagte Petru prompt, während er die Milch aus der Flasche in den Tiegel goß.

In dem Augenblick ertönte Hufschlag auf der Straße, und Columba sprang auf.

»Er ist es nicht,« sagte Jorgi, der den Tritt von Zio Remundus Pferd wohl kannte. »Aber es ist besser, du gehst. Addio und … viel Glück!«

Columba bedeckte sich die Augen mit dem Zipfel des Kopftuches und reichte ihm die andere Hand. »Addio! Gib mir wenigstens die Hand, Jorgi Nieddu!«

Er nahm die kleine, braune Hand, die ihm einst wie die Rahels geschienen, in seine heiße; aber er dachte dabei an die kleine, weiche, weiße Hand Marianas, und Columba erriet den Gedanken.

»Addio!« sagte sie nochmals und ging schnell hinaus. Im Hofe aber blickte sie um sich, scheu und mißtrauisch wie eine verirrte Hindin: alles um sie her kam ihr fremd vor, und das helle Morgenlicht erregte ihr Staunen. Und sie betrat das alte Haus wieder, wie sie es verlassen hatte: von Mitleid und Eifersucht bedrängt; aber auch da drinnen war es jetzt so hell, und sie verspürte eine Bestürzung, als wenn alle Dinge um sie her sich verwandelt hätten.

* * *

Nachdem Petru die Kerze gelöscht, kochte er die Milch ab und fragte: »Wenn Columba nicht heiratete, wen nähmet Ihr dann lieber, Zio Jò, sie oder die Schwester des Kommissars?«

Aber Jorgi hatte die Augen geschlossen, von dem tiefen Schlaf überwältigt, der ihn nach einer großen Erregung zu befallen pflegte.

Der Wind hatte sich vollständig gelegt, und der Frühmorgen war klar und frisch.

Auf einmal murmelte Jorgi: »Der Großvater, der Großvater!«

Petru meinte, sein Herr spräche im Traum; dann aber hörte er den Tritt des Pferdes in der Gasse und dachte bei sich: Da kommt Zio Remundu zurück; jetzt muß ich einmal hören, was es gibt!

Es war nicht das erstemal, daß er sich dieses Vergnügen gönnte. Nachdem er die Milch vom Feuer genommen und dieses zugedeckt hatte, ging er hinaus und schlich sich behutsam die Mauer entlang an die Tür des Nachbarhauses. Anfänglich hörte er nichts; dann aber klang die Stimme Columbas von weit her, und er konnte nur einzelne Worte unterscheiden; die Stimme des Alten jedoch donnerte in der Küche so heftig, daß Petru sich erschrocken zurückzog.

»Du bist verrückt,« schrie der Großvater, »was hast du diese Nacht geträumt?«

Die Stimme Columbas brummte da hinten, und Petru verstand nichts. Da es ihm aber keine Ruhe ließ, kehrte er in ihren Hof zurück und kletterte auf die Mauer, auf die Gefahr hin, von dem Mädchen gesehen zu werden. Ach, hier konnte er prächtig hören und, wenn er den Kopf ein wenig in die Höhe reckte, auch Columba sehen, die eben den Sattel, das Geschirr, die Säcke an die Pflöcke im Portikus hängte.

»Ja, häßliche Dinge habe ich geträumt!« entgegnete sie. »Mein ganzes Leben ist ein häßlicher Traum. So habt Ihr es gewollt, ja Ihr, Ihr!«

Aus ihrer heiseren Stimme sprach mehr der Schmerz als der Zorn, und das mußte auch der Großvater empfinden, denn er kam wieder heraus und sagte traurig, doch mit einer gewissen Feierlichkeit: »Columba, meine Enkelin, ich hatte schon gesagt, daß ich dich nicht allein lassen dürfte. Wenn du allein bist, schleicht der Teufel um dich herum, und das ist eine schlechte Gesellschaft! Wer ist bei dir gewesen? Was haben sie dir wieder erzählt?«

»Nichts haben sie mir erzählt. Wollt Ihr es hören? Mit diesen meinen Augen … ja, ja, tut, was Ihr wollt, Babbo Corbu, ich fürchte Euch nicht mehr. Ich habe ihn gesehen, den Unglücklichen! Er ist ganz klein, so klein wie ein lahmes Kind, und liegt in seiner Gruft wie ein wundes Lamm. Und Ihr schreit? O, krächzt nur wie der Geier, nachdem er das Lamm geschlagen hat! Gott straft nicht von einem Tage zum andern, aber die Strafe wird kommen!«

»Für dich, du böse Zunge, du verrücktes Geschöpf!«

»Für mich ist sie schon gekommen, Babbo Corbu! Lange schon, und sie wird immer ärger … Ach, Ihr wollt mich nicht mehr allein lassen, weil der Teufel mich plagt? Ihr wißt das also! Ja, der Teufel plagt mich Tag und Nacht und wird mich nicht mehr in Frieden lassen, bis ich sterbe … Aber wer hat es so gewollt? Ihr … Ihr …«

Sie schwankte, hielt sich mit dem Arm an der Mauer, legte das Gesicht auf den Arm und fing wieder an zu weinen. Der Alte schwieg bestürzt; er ging zu seinem Pferde hinüber, klopfte es auf den Hals und kam wieder in den Portikus; seine Finger öffneten und schlössen sich wie Krallen: er schien zu schwanken zwischen dem Verlangen und der Scheu, seine Enkelin zu prügeln.

Und sie weinte, an die Mauer gelehnt, und rief: »Hättet Ihr mich umgebracht, als ich in der Wiege lag, Ihr hättet besser getan! Was habt Ihr nun aus mir gemacht? Sprecht! Ihr habt mich gebunden wie ein Gerstenbündel … jetzt werdet Ihr ja zufrieden sein! Und auch meine liebe Schwester wird zufrieden sein … Ihr werdet uns beide sterben sehen, den unglücklichen Jorgi in seiner finstern Höhle und mich da oben in dem reichen Hause Zuanpedru Cannas'. Und wenn Ihr dann an Eurem öden Herd sitzt, einsam wie ein Bandit in der Felsenwildnis, dann werdet Ihr sagen: so ist es gut …!«

Der Alte stöhnte vor Wut und Schmerz und stürzte auf sie zu mit erhobener Faust. »Genug, Columba! Sei endlich einmal still, oder ich reiße dir deine giftige Zunge aus! Ach,« rief er dann und schlug sich den Kopf mit den Fäusten: »Warum lebe ich noch? Feinde genug hatte ich zu bekämpfen – aber keinen wie du, meine Enkelin … Hätte mich lieber im wilden Wald eine Kugel getroffen und die Krähen mich zerhackt wie ein Stück Vieh! Du hackst schlimmer auf mir herum, Columbè!«

Sie murmelte etwas, aber der Alte schrie wild: »Zum Teufel, jetzt ist's genug!« Und sie schwieg und schluchzte weiter.

Petru auf seiner Mauer verspürte etwas wie Schwindel. Und so viele Jahre darüber hingehen mögen: nie wird er jenen Auftritt vergessen, das Stöhnen des Alten, die Worte und das verzweifelte Weinen Columbas.

Ein wenig ruhiger sagte der Großvater jetzt: »Gut, erinnere dich, was ich dir letzthin gesagt: du bist noch frei, tue, was du willst. Willst du wieder zu jenem unglückseligen armen Schlucker, so geh: ich werde nicht den Mund auftun. Aber es muß endlich ein Ende haben!«

Columba erhob ihr Gesicht und sagte trotzig: »Hätte er mich noch gewollt, so stände ich nicht hier!«

»Also was willst du dann?«

»Nichts für mich! Ich habe ja alles!« entgegnete sie mit düsterem Hohn. »Was sollte mir wohl fehlen? Ihr habt mir ja alles verschafft! … Aber ihm sollt Ihr sein Recht wiedergeben: das will ich!«

Und sie trat drohend vor ihn hin: »Das will ich!«

Aber die Geduld des Alten war erschöpft. Ohne noch ein Wort zu sprechen, hob er die Hand und schlug auf sie los. Petru hörte die Schläge, reckte sich entschlossen über die Mauer und schrie: »Laßt sie! Laßt sie!«

Doch der Alte schien ihn gar nicht zu hören; er schlug weiter auf Columba los und stieß sie vor sich her bis in die Küche. Dann wurde es still, und Petru, dem es leid war, daß er gerufen hatte, und der fürchtete, der Alte möchte kommen und auch ihn prügeln, lauerte noch eine Weile auf der Mauer, dann sprang er herunter und lief in die Kammer, um alles seinem Herrn zu erzählen. Doch der schlief ruhig, und für alle Fälle drehte Petru in der Hoftür den Schlüssel um.


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