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Zweiter Teil


I

Die Hochzeit Columbas war auf Pfingsten festgesetzt, doch schon seit dem März war alles bereit.

Manche hatten an dieser Heirat etwas auszusetzen, vor allem aus Neid, denn der Bräutigam war ein rechtschaffener und wohlhabender Mann; dann aber auch, weil sich wirklich einiges dagegen einwenden ließ: er war Witwer, aus einem andern Dorfe, klein von Gestalt und zwanzig Jahre älter als Columba. Und sie hätte wenigstens erst den unglücklichen Jorgeddu solle sterben lassen …

Den ganzen geschlagenen Tag saß Banna vor ihrer Tür in der Sonne, nähte grobe Leinwandhosen für ihren Mann und redete nur noch von der Heirat ihrer Schwester, von dem Hause, dem Vieh, den Knechten, den Tancas, den Gemüsegärten und der Hürde des Bräutigams; spielte aber eine gute Nachbarin auf Giorgio Nieddu an, so seufzte sie, zog sich einen Zipfel ihres Kopftuches übers Gesicht und antwortete nicht.

Auch Columba pflegte mit einer Näherei an der Hoftür oder auf der Veranda zu sitzen, unbeweglich und mit gesenktem Kopf, als arbeite sie schlafend.

Eines Tages gegen Sonnenuntergang hörte sie jemand an die Haustür klopfen und ging zum Fenster, um zu sehen, wer es sei. Eine große blasse Frau mit einer Adlernase und großen schwarzen Augen sah zum Fenster hinauf, indem sie mit beiden Händen eine Corbula ein aus Asphodelos geflochtener Korb auf ihrem Kopfe festhielt.

»Zia Martina Appeddu, seid Ihr's?« sagte Columba hinunter. »Ich komme gleich.«

Sie ging hinunter und öffnete die Tür, die sie seit dem Vorfall immer verschlossen hielt, und die Frau, Ärztin und Kostümnäherin bückte sich, um mit ihrem Korb eintreten zu können, und bekreuzte sich, damit sie nicht auf der Schwelle stolpere und ein böses Vorzeichen vermeide.

»Columba, liebe Seele, ist deine Schwester nicht da? Ich möchte, daß auch sie bei der Übergabe der Sachen zugegen wäre.«

Columba erwiderte in hartem Ton: »Die Sachen sind mein, und es ist nicht nötig, daß alle Welt dabei sei, wenn ich sie in Empfang nehme. Kommt hinauf in mein Zimmer.«

Sie ging wieder nach oben, und die Frau folgte ihr. Das Zimmer, das auf die Veranda ging, war geräumig und niedrig, mit einem hohen und harten, unten von einem Volant aus rot und weiß karriertem Zeug umgebenen Bett; zwölf alte Stühle aus Nußbaumholz mit Strohsitzen standen symmetrisch an den weißgetünchten Wänden: drei an jeder Seite der hohen dunkeln Kommode, und drei an jeder Seite einer schwarzen, geschnitten Truhe.

Eine beinahe unheimliche Ordnung herrschte in dem großen Zimmer, das früher das der Mutter Columbas gewesen war und jetzt wie unbewohnt aussah.

Zia Martina stellte ihren Korb auf die Truhe und nahm die ihn bedeckende Serviette ab; ein Haufen von schwarzen, grünen und gelben Kleidungsstücken kam zum Vorschein.

»Da! Und mögest du es in Fröhlichkeit tragen, bis du hundert Jahre wirst,« sagte sie in gerührtem Ton, nahm das Brautkleid Columbas heraus und hielt es mit ihren mageren Händen in die Höhe: einen Rock aus schwarzem Wollstoff mit grünem Rand, dann ein Leibchen aus gelbem Tuch und violettem Sammet und schließlich ein Mieder aus grünem Sammet und Goldbrokat.

»Niemand, meine weiße Taube Colomba = Taube, niemand hätte sie dir so machen können. Sieh nur: ist es nicht, als hätten die Feen sie genäht? Und sieh diese Hemden: sehen sie nicht aus wie Wolken? Und die Stepperei am Leibchen: hast du je ihresgleichen gesehen? Wenn du mir sagst, daß du solche schon gesehen hast, dann verstopfe ich mir den Mund mit Werg und tue ihn nicht wieder auf. Aber was hast du, meine Taube? Du bist ja ganz blaß, ist dir nicht wohl? Oder bist du mit den Sachen nicht zufrieden?«

Columba betrachtete und betastete das Mieder, drehte und wendete es im hellen Licht und schien in der Tat nicht zufrieden. Eine Falte stand zwischen ihren schwarzen Brauen, und als die Frau ihre Blässe erwähnte, schlug sie die ein wenig trüben Augen auf und sogleich wieder nieder und sagte ärgerlich: »Jetzt sagt Ihr mir schon zum viertenmal ich sähe schlecht aus, Zia Martì! Wollt Ihr mir vielleicht ein Zaubermittel eingeben?«

»An manchen Tagen bist du wirklich wie behext. Aber messen lassen willst du dich ja nicht, und du weißt doch, wenn deine Arme kürzer geworden sind, so ist das ein Zeichen, daß dir ein Käuzchen über den Kopf geflogen ist, und daß du dich darum verzehrst …«

»Laßt nur; ich bin nicht behext, Zia Martì! Eure Zaubermittel müßt Ihr schon für andere machen.«

»Gib nur acht, daß du nicht eines Tages zu diesen Zaubermitteln deine Zuflucht nehmen mußt! Deine selige Mutter dachte anders als du.«

»Ja, ich erinnere mich: sie ging zu Euch. Und was habt Ihr für sie getan? Nichts!«

»Weil sie nachher zum Doktor ging! Die Doktors sind es, die die Leute umbringen mit ihrem Gift. Ja, ich sage es ganz laut: in jeder Arznei ist Gift, überall ist der Totenkopf drauf. In alten Zeiten kurierten sich die Menschen mit Kräutern, mit Aufschlägen, Wasser und Gebet.«

»Und starben doch!«

»An Altersschwäche! Wieviel Jahre zählte Noah? Und Jakob und Elias? Sag' es, wenn du's weißt. Sie brachten es auf neunhundert Jahre. Und Doktors gab es nicht. Und manche Krankheiten, die sie erst erfunden haben, waren damals unbekannt oder unter ihrem rechten Namen bekannt und deshalb heilbar. Aber die Krankheit von dem da … wer kannte die?«

Sie deutete mit dem Kopfe nach dem Nachbarhofe hinüber; und Colomba, die noch immer die Kleider betrachtete, schlug nochmals die ein wenig trübe blickenden Augen auf und antwortete nicht.

»Also, Columba mia, du bist nicht zufrieden mit den Sachen? Du brauchst wirklich nicht zu messen und zu messen, du weißt schon, daß sie dir sitzen wie angemalt. Und du wirst aussehen wie ein Bild. Und nun erzähle mir von Zuanpedru Cannas. Fürchtest du dich nicht, in ein fremdes Dorf zu ziehen?«

»Wie kann es für mich fremd sein, wenn dort mein Haus ist?«

»Und was für ein Haus! Ich habe sagen hören, man muß das Kreuz schlagen, ehe man eintritt, so schön ist es. Aber gib acht, daß du das Hemd nicht fallen läßt! Du mußt nichts fallen lassen, das ist ein schlechtes Vorzeichen. Remundu Corbu wird dich ungern fortlassen; doch er ist wirklich ein Mann und wird nicht klagen, wenn sie ihm seinen Flügel nehmen, denn er ist wie ein alter Adler. Du dagegen Columba, du wirst weinen … Was meinst du?«

Doch statt zu antworten, fragte Columba die Frau wieviel sie zu bekommen habe und öffnete die Kommode, um das Geld herauszunehmen.

»Gehst du vielleicht schon morgen, daß du mich gleich bezahlen willst? Das hat Zeit!« rief Zia Martina; und da Columba darauf bestand, nahm sie ihren Korb und ihre Serviette und tat, als wollte sie gehen, ohne nur zu antworten. Da nahm das Mädchen sie beim Arm und führte sie in die Küche.

»Nein, zuerst müßt Ihr Kaffee trinken. Setzt Euch und rührt Euch nicht.«

Und während Columba Kaffee machte, schwatzte die Frau weiter, mit gekreuzten Beinen auf dem Boden sitzend und die Hände unter dem schwarzen Rock, der ihr als Mantel diente. Wie fast alle Frauen der Gegend sprach sie mit dramatischer Betonung, in unbewußter Verstellung ihre Äußerungen der Verwunderung, der Geringschätzung, des Mitleids übertreibend; und auf ihr charakteristisches Gesicht trat bald ein verächtlicher, bald ein zärtlicher und demütiger Ausdruck.

Zuerst kam ein langes Loblied auf den Bräutigam, seinen Reichtum, seine Güte; dann ein strenger Kommentar zu dem Tadel der Übelwollenden und schließlich ein weiteres Loblied auf Zio Remundu, den klugen und starken »alten Adler«, und auf Banna und ihren Mann.

»Wenige Frauen kommen Banna, deiner Schwester gleich: eine gute Gattin und eine gute Schwester, und an Gewandtheit der Hände und der Zunge tut es ihr niemand zuvor. Das ist wirklich eine Frau!«

»Und was bin ich, Zia Martì? Ein Mann?« fragte Columba spöttisch, indem sie sich mit dem Präsentierteller in der Hand vor der Frau verbeugte; und sie hatte noch nicht ausgesprochen, als Zia Martinas Gesicht bereits ekstatische Bewunderung ausdrückte.

»Du, Columba? Du brauchst den Mund gar nicht aufzutun! Als deine Mutter dich mit der Schwester zugleich geboren hatte, sagte sie: Mag Banna die Zunge haben, Columba hat die Augen. Deine Augen reden, und man braucht dicht nur anzusehen, um zu begreifen, wer du bist.«

»Und doch verstehen mich nicht alle!« sagte Columba und schlug die Augen nieder, als fürchte sie, die Frau könnte in ihren Gedanken lesen.

Aber Zia Martina betrachtete sie, schlürfte langsam ihren Kaffee und sagte: »Da wir allein sind, will ich dir etwas erzählen, und ich erzähle es dir, weil du schlecht aufgelegt bist: es wird dich zerstreuen. Höre. Meine Tochter Simona …«

»Wie geht es Simona?« unterbrach Columba und stellte das Teebrett auf den Herd. Doch beim Gedanken an die von einem unheilbaren Augenleiden heimgesuchte Tochter schlug die Frau mit dem Ausdruck ergebenen Schmerzes die Augen nieder und murmelte: »Sie sieht fast gar nicht mehr. Der Wille des Herrn geschehe! Also,« fuhr sie dann in ihrem gewöhnlichen Ton fort, »gestern war Simona allein zu Hause, und wer kommt? Rate doch! Nein, du kannst es nicht raten, Columba, weil du dich nicht um die Angelegenheiten des Dorfes bekümmerst und nicht weißt, was vorgeht. Also du mußt wissen, daß dieser Tage die Schwester des Kommissars angekommen ist, um das Dorf zu sehen und sich zu amüsieren. Es ist ein kleines, aber gut gewachsenes Fräulein, das umherspringt wie ein Zicklein. Ihr Kleid ist so eng wie ein Sack und ihr Hut so groß wie ein Korb; das mag ganz gut sein für die Sommersonne, aber doch nicht jetzt, wo es beinahe noch kalt ist. Na, so werden sie's ja in der Stadt wohl tragen, aber die Jungens hier sind ungezogen, und wenn sie sie sehen, schreien sie: O, o, sie hat sich einen großen Korb auf den Kopf gesetzt …«

»Ich habe sie gesehen,« sagte Columba, um abzubrechen, weil sie begierig auf die ihr von der Frau versprochene Geschichte wartete, sicher, daß es sich um Jorgi handle. »Sie kam hier vorbei mit ihrem Bruder und dem Priester.«

»Ah, sie kam hier vorbei? Gingen sie vielleicht dorthin … zu dem Kranken?«

Columba winkte nein.

»Nun, höre. Du weißt, der Kommissar und seine Schwester wohnen bei Giuseppa Fiore. Diese hat dem Mädchen – sie heißt Mariana – schon alle Geschichten aus dem Dorf erzählt und ihr gesagt, daß Simona und ich deine Hochzeitskleider nähen. Nun will das Mädchen sich auch ein Kostüm machen lassen, für den Karneval scheint's, denn Geld hat sie … Genug, wer gestern zu meiner Tochter kam, war diese Donna Mariana. Sie wollte dein Kostüm sehen, fragte wieviel man für ein solches ausgeben müßte, und wie die Stickerei, das Nähen und das Steppen gemacht wird. Und sie fragte auch Simona, was ihr fehlte, und dann sagte sie: ›Jetzt sind solche Krankheiten leicht zu heilen, man braucht nur nach Rom zu gehen!‹ Nach Rom, Columba mia! Als wenn wir ihr Geld hätten. Genug, darüber brauchen wir nicht weiter zu reden. Und Simona, die fromme Seele, sagte: ›Ich bin wohl schlimm daran, doch andere sind noch unglücklicher als ich,‹ und nannte Jorgi Nieddu. Und das fremde Mädchen sagte: ›Auch diese Krankheit ist heilbar, er muß nur nach Rom gehen.‹ Ja, du mit deinem Rom, geh in Frieden, sage ich. Und Simona, meine Tochter, sagte: ›Unmöglich, unmöglich!‹ Und das fremde Mädchen sagte: ›Die Krankheit des Armen ist ein Nervenleiden und nichts anderes. Ich kenne die ganze Geschichte, ich weiß, daß ein Mädchen, das er liebte, ihn verleumdet hat, und daß er vor Herzeleid krank geworden ist.‹«

Columba biß sich die Lippen, um nicht zu antworten, aber sie war leichenblaß geworden, und ihre Augen funkelten vor Ärger.

»Wäre ich zu Hause gewesen, so hätte ich ihr ein Wort gesagt,« fuhr Zia Martina fort, indem sie die Tasse auf den Boden stellte; »ich hätte ihr gesagt: ›Sie heißen Fräulein Mariana, nicht wahr? Gut, Fräulein Mariana, Sie sind hierhergekommen, um sich zu amüsieren, also amüsieren Sie sich und hören Sie nicht auf die Geschichten Giuseppa Fiores, und ehe Sie von Columba Corbu sprechen, gehen Sie doch hin und sehen ihr einmal ins Gesicht, wie man den Himmel ansieht, um zu wissen, was für Wetter es ist.‹ Aber ich war ja nicht zu Hause, und Simona, die gute Seele, kann nicht reden. Sie hat nur gesagt: ›All diese Sachen sind gerade für Columba Corbu; es ist ihr Brautkleid.‹ Da rief das fremde Mädchen: ›Wie kann sie nur, nachdem sie einen zugrunde gerichtet, der sie liebte, jetzt leichten Herzens einen andern heiraten?‹«

Columba sprang auf und schrie: »Verflucht! Was kümmert sie sich nicht um ihre Sachen? Ich … ich …«

Sie schwieg plötzlich, weil sie die Stimme ihrer Schwester hörte. Und die hohe, selbstbewußte Gestalt Bannas erschien in der Tür. Sie war sonntäglich gekleidet, weil sie von einem Besuch zurückkam, und hielt die Hände in den mit Sammet besetzten Seitenschlitzen ihres Rockes, der vorn gleichsam eine schmale Schürze bildete.

»Seid Ihr da, gute Seele?« sagte sie zu Zia Martina, und die kräftigen weißen Zähne, die grünlichen Augen in dem dunkeln Gesicht blitzten förmlich. »Habt Ihr die Sachen gebracht?«

»Ich habe sie gebracht.«

Columba bemerkte, daß Banna, obwohl sie lächelte, sie mit einiger Unruhe betrachtete, weil sie wohl erriet, daß Zia Martina ihr etwelche Klatschereien zugetragen hatte.

»Zia Martina sagt, Giuseppa Fiore hätte sich über meinen Anzug aufgehalten; sie fände ihn nicht passend für ein Mädchen, das einen Witwer heiratet,« sagte Columba und bückte sich, um die Tasse vom Boden zu nehmen.

Bei dem Namen Giuseppa Fiore fuhr Banna auf wie ein Füllen, das die Peitsche bekommen. »Sie täte besser, an ihre eigenen Gebrechen zu denken. Warte nur, sobald ich sie sehe, werde ich ihr antworten …«

»Liebe Seele!« schrie die erschrockene Frau. »Du wirst mich doch nicht zugrunderichten? … Giuseppa Fiore ist rachsüchtig!«

»Was kann sie uns antun?« entgegnete Banna. »Sie lebt nur in der Hoffnung, uns Böses zuzufügen; aber uns kann sie nichts anhaben.«

»Ja, Ihr seid reich, Ihr seid mächtig. Aber ich? Sie hat den Kommissar im Hause und vermag gegen uns Arme alles. Mir kann sie Böses zufügen, euch nicht. Liebe Seele, du wirst mich doch nicht ruinieren?«

»Nun, so bereitet doch ein Zaubermittel, das ihr die Zunge und die Füße bindet!«

Die Frau stand auf, hob den leeren Korb auf ihren Kopf und hüllte sich in ihren Rock. »Banna, liebe Seele, könnte ich Zaubermittel bereiten, so hätte ich nicht die Finger über und über von der Nadel zerstochen.«

»Nun, zeigt mir einmal die Kleider; ich weiß, daß sogar die Schwester des Kommissars sie besehen hat, so schön sind sie,« sagte Banna, sich mit ihrem stolzen Schritt zum Gehen wendend. Und besänftigt folgte Zia Martina ihr.

Columba blieb in der Küche; sie schien ruhig, gleichgültig, so gleichgültig, daß nicht einmal ihr Brautkleid sie interessierte. Doch während sie das Kaffeegeschirr forträumte, blieb sie plötzlich an der Hoftür stehen, als horche sie auf eine ferne Stimme, und ihr Kopf sank plötzlich auf die Brust herab. Eine Art Hellsichtigkeit, die sie seit einiger Zeit beunruhigte, ließ sie Jorgi erblicken, wie die Nachbarinnen ihn beschrieben: unbeweglich auf seinem Lager liegend, zum Skelett abgemagert. Ihr Herz klopfte heftig, ihre Augen verschleierten sich.

Doch es war nur ein Augenblick: dann erhob sie wieder den Kopf und hantierte weiter. Stolz und Zweifel nagten an ihr. Ihr beständiger Gedanke war: Entweder hat er es wirklich gestohlen, oder er hat das alles nur zum Vorwand genommen, mich zu verlassen.

Der Großvater und Banna hatten recht: Er hatte mich nicht lieb, nein, nein! Hätte er mich geliebt, so hätte er sich anders benommen, während ich … Ach, ich liebte ihn so, daß ich ihm auch verziehen hätte, hätte er wirklich gestohlen! Aber er konnte mich nicht leiden. Nachdem wir uns zuletzt gesehen, wartete ich immer darauf, daß er wiederkäme; aber er ging lieber den andern Weg, um nicht hier vorbeizukommen. Also soll er sich nur mit seinem Schicksal und seinem Elend abfinden, mit seinem Hochmut und seiner Verkehrtheit Ich will nicht mehr an ihn denken, für mich ist er tot. Ihm geschieht ganz recht, ganz recht! Er hat es selbst gewollt. Dachte ich vielleicht an Zuanpedru Cannas? Er hat zuerst von ihm gesprochen und mir geraten, ihn zu heiraten. Gut, ja, jetzt nehme ich ihn, und du magst vor Wut umkommen! Du hast es ja nicht anders gewollt! Von dir habe ich nur Ärger und Demütigung erfahren. Gleich von Anfang an: wenn du nachts hierherkamst, dann zitterte ich vor Angst, und du hattest deine Freude daran! … Und so hat er mich immerfort geärgert, dem Großvater widersprochen, über Banna Böses geredet, mir zu verstehen gegeben, sie sei in ihn verliebt gewesen und suche ihm nun zu schaden, weil ihre Liebe sich in Haß verwandelt habe … Und all das andere noch! Nie hat er mir geschrieben: als ob ich nicht lesen könnte! Und über meine Briefe lachte er. Ja, er lachte über mich; er hat sich gegen mich benommen, als wäre ich seine Feindin. Zur Feindin hat er mich gewollt, und Feindin bleibe ich ihm nun … Ist er krank, so ist das seine Schuld, nicht die meine … Und was kommt jetzt jene fremde Müßiggängerin daher und redet über mich? Hat sie zu Hause nichts zu tun, daß sie hierherkommt, in dieses Felsennest, und sich um die kümmert, die sich nicht um sie kümmern? Wenn sie mir unter die Hände kommt, dann kratze ich ihr die Augen aus; ich erlaube niemand, mich zu bekritteln, niemand, hast du gehört, Columba Corbu? schloß sie, sich an sich selbst wendend. Nicht einmal du sollst dich bekritteln: was du getan hast, hast du wohlgetan …

Die Rückkehr der beiden Frauen brach den Faden ihrer Gedanken ab. Banna hielt noch immer die Hände in den Seitenschlitzen ihres Rockes und lächelte, doch mit ernstem, beinahe düsterm Blick.

»Meine Schwester, du kannst zufrieden sein, die Kleider sind so schön wie gemalt. Ich habe sie in die Truhe gelegt, denn Sachen wie die wirft man nicht umher.«

»Ich habe sie nicht umhergeworfen. Und übrigens, wenn die hin sind, kann ich mir neue machen lassen. Zuanpedru Cannas kann mir soviel Geld geben wie ich will.«

Es lag etwas Bissiges in ihrem Ton, und Banna war im Begriff, ihr ebenso zu antworten; doch die Anwesenheit Zia Martinas und noch andere Gründe hielten sie zurück. Sie seufzte nur und sagte: »Ja, er ist reich, du Glückliche, reich und auch gut!«

»Und auch gut!« entgegnete Columba, und ihre Stimme klang gereizt. Banna begriff, was dieser Ton bedeutete, und die Vermutung, die Näherin habe durch irgendwelche Mitteilung die Schwester erregt, wurde ihr fast zur Gewißheit. Doch gerade deshalb wollte sie mit der Frau gut Freund bleiben. Unter dem Vorwand, ihr ein Mieder zeigen zu wollen, nahm sie sie mit hinüber in ihre Wohnung – in Wahrheit, damit sie nicht länger mit Columba alleinblieb, und um sie mit Bequemlichkeit ausfragen zu können.

Wiederum allein, nahm Columba ihre Näherei zur Hand und setzte sich an die Hoftür. Doch ihre Erregung nahm noch immer zu, und mit einemmal fragte sie sich, warum sie Zia Martina nicht widersprochen, die ihr die Worte der Fremden wohl nur hinterbracht hatte, um sie zu ärgern. Ach, Banna hatte ihr nicht die Zeit dazu gelassen, sonst hätte sie der bösen Zunge, der Hexe, gründlich ihre Meinung gesagt. Aber vielleicht ist sie noch bei Banna und setzt ihre bösen, falschen Reden fort! Und von Zorn überwältigt, wirft Columba das Tuch, an dem sie stickt, auf die Erde, stößt vor Hast den Nähkorb um und eilt nach der Haustür: Die verwünschte Fremde … was geht das sie an? Was weiß man denn von ihr? Sie hat vielleicht jemand umgebracht … Und die Hexe … Und Banna, die Aufpasserin! Aber jetzt, jetzt werde ich es euch einmal sagen …

Sie reißt die Türe auf – aber weiter kommt sie nicht: Margherita, die Magd des Doktors, stürzt schwer atmend auf sie zu.

»Ist Zia Martina hier?« fragte sie leise. »Sie haben mir gesagt, sie brächte Sachen hierhin. Wenn sie noch da ist, so ruf sie mir gleich. Schnell! Und wenn sie bei Banna ist, so geh mit mir hinauf!«

Columba betrachtete sie, trotz ihrer Verwirrung lächelnd.

»Warum? Ist deinem Herrn etwas zugestoßen?«

»Still! Daß dich niemand hört!«

»Es ist kein lebendes Wesen da; die Weiber sind alle Wurzeln und Grünzeug suchen gegangen. Denn leben müssen sie nun einmal,« entgegnete Columba, die für ihre Nachbarinnen keine große Achtung empfand. Aber in dem Augenblick kam der taube Bettler aus seiner Höhle und setzte sich vor die niedrige Tür. Sein borstiges Gesicht, die Haare, die Lumpen, die ihn nur unvollständig bedeckten: das alles hatte nur eine Farbe, gleichsam als hätte er sich, wie er da war, in ein Schlammbad getaucht; auf dem Rücken hing ihm ein mit einer Schnur befestigter Sack, und der Zipfel seiner langen Mütze war voll von allen möglichen Dingen. Jeden Augenblick bekreuzte er sich mit einer dunkeln Medaille, die er auf der Brust trug, und auf die beiden Mädchen schien er gar nicht zu achten; dennoch sagte die Magd kein Wort mehr, sondern bedeutete Columba nur durch Zeichen, mit ihr zu Banna zu gehen.

Columba schloß die Tür und erstieg vor Margherita die feuchte Treppe der Schwester: auf dem Vorplatz tropfte Wasser aus einem auf einer Bank stehenden Kübel, und die Magd ergriff die zum Trinken dienende langgestielte Korkschale und trank hastig.

»Zia Martina,« sagte sie, als sie in die anstoßende Küche trat, wo die beiden Frauen noch heimlich miteinander schwarten, »Ihr müßt gleich mit mir kommen und für jemand Schreckwasser bereiten.«

»Für deinen Herrn vielleicht?« fragten die Frauen lachend.

Um sich aber vor den Schwestern Corbu ein Ansehen zu geben, faßte die Näherin das Mädchen bei den Armen und sagte: »Du bist's, die sich erschreckt hat, ich sehe es dir am Gesicht an! – Was ist geschehen?«

Margherita widersprach: »Nein, ich schwöre es Euch bei meiner Seele, ich bin's nicht! Man hat mich geschickt … eine Freundin. Und nun macht, kommt!«

»Du bist es selbst! Du zitterst ja vor Schreck. Setz' dich. Ich kann das Wasser auch hier bereiten: je eher du es trinkst, je besser. Gebt mir ein klares Glas und ein wenig Brunnenwasser … Ich suche unterdes die sieben Kohlen …«

Während Columba ein Glas füllte, bückte Zia Martina sich über den Herd, wühlte mit den Fingern in der Asche und suchte sieben kleine, ausgeglühte Kohlen hervor.

Banna trat zu Margherita und sagte sanft: »Herzchen, was haben sie dir getan? Ist es der Narr gewesen, dein Herr?«

Da legte die Magd, die noch am Türpfosten lehnte, das Gesicht auf den Arm und brach in Weinen aus; und Columba, das Glas in der Hand, stand vor ihr und betrachtete sie und vergaß ihr eigenes Leid angesichts eines so heftigen Schmerzes.

»Was hat er dir getan? Sag' es mir,« beharrte Banna. »Liebe Seele, du bist hier wie unter Schwestern. Sprich doch, sprich!«

»Hat er dich in sein Zimmer eingeschlossen?« fragte Zia Martina und richtete sich auf, die sieben Kohlen auf der flachen Hand.

»Nein, nein … was sagt Ihr nur? Er ist ein rechtschaffener Mann,« schrie Margherita, das verweinte Gesicht erhebend. »Er respektiert mich wie ein siebenjähriges Kind …«

»Was hast du denn gehabt? Ich muß es doch wissen, damit ich die Beschwörung vornehmen kann; also sag's, und sonst geh' und hänge dich auf …«

Inzwischen warf sie die Kohlen eine für eine in das Glas, dieses gegen das Licht haltend; das Wasser trübte sich, und die Kohlenstückchen kamen an die Oberfläche: der Schreck mußte also arg gewesen sein.

»Also gut,« schluchzte Margherita, »er hat mich einen Geist sehen lassen.«

Columba lächelte, Banna lachte, die Näherin schlug spöttisch ein Kreuz; aber trotz ihrer scheinbaren Ungläubigkeit schauderten alle drei.

Und die Magd fuhr fort: »Ihr glaubt es nicht, und doch ist es wahr, so wahr wie ich hier stehe. Er war in seinem Studierzimmer, im Dunkeln, heute eben … Da ruft er mich, ich gehe schnell hinein und sehe ihn ganz schwarz vor einer roten Laterne und hinten an der Wand ein weißes Gespenst … Mehr weiß ich nicht, liebe Schwestern. Ich lief schnell fort und zu Euch, Zia Martina …«

»Aber warum tat er das?«

»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Vielleicht weil er nicht will, daß ich an Geister glaube, noch an Gott, noch an Christus. Gestern sagte er, es gäbe keine Geister, und wenn er wollte, könnte er mir weismachen, ich hätte einen gesehen, wenn es auch nicht wahr wäre …«

»Na, dann wird's schon so sein, du Einfaltspinsel!« sagte Zia Martina, immer noch das Glas betrachtend, in dem die Asche wie ein Wölkchen herumschwamm. »Was brauchst du dich denn da zu erschrecken?«

»Ja … ich schwöre Euch, ich habe den Geist gesehen … er war ganz lang und weiß und bewegte sich … Liebe Seele, was sollte es sonst gewesen sein?«

Sie zitterte noch immer; es war nichts anderes zu tun, als ihr das Wasser einzugeben. Zia Martina stellte das Glas auf den Boden, ging siebenmal darum herum und murmelte ihre Beschwörung:

Uno – ung est Deus,
Duos – duos su chelu e sa terra,
Tres – la Trinidade,
Battor – sos battor Vangelos Eins – einer ist Gott, Zwei – zwei sind Himmel und Erde, Drei – drei die Dreieinigkeit, Vier – die vier Evangelisten..

Und so fort bis zwölf: die zwölf Apostel, in deren Namen sie dem Teufel gebot zu entweichen und die junge Magd nicht weiter zu schrecken; dann hob sie das Glas auf ihre Handfläche und reichte es Margherita.

Das Mädchen blies auf den Trank, damit die Kohlen zu Boden sänken, trank, hustete, weil die Asche sie im Halse kragte, spuckte aus und fühlte sich alsbald ruhiger.

»Und jetzt höre,« sagte Zia Martina und nahm ihren Korb wieder auf. »Ich habe dir den Trank bereitet, und wohl bekomm er dir; aber dein Übel, Margherita, steckt wo anders, das steckt dir hier, im Kopf, dein Herr hat dich angesteckt mit seiner Narrheit. Höre mich: Verlaß das Haus, sonst wird er dich am Ende zugrunderichten. Addio, Banna, addio, Columba, haltet Euch wohl.«

Befriedigt ging sie hinaus; und während Banna noch Margherita zusprach, stieg auch Columba die feuchte Treppe hinunter und sagte zu der Näherin: »Wenn Ihr die Fremde seht, so sagt ihr in meinem Namen, sie solle sich um ihre Sachen kümmern …«

Doch Zia Martina dachte an anderes; an der Tür hielt sie an und sagte: »Ihr, Schwestern Corbu, seid Zeugen, daß das Mädchen mich aufgesucht hat; ihr seid Zeugen.«

Sie warf dem Bettler einen Soldo zu, und während auf der stillen Straße die eintönige Stimme des Mannes erklang, der dem heiligen Elias für das empfangene Almosen dankte, kehrte Columba in ihr Haus zurück und schloß sorgfältig die Tür.

Der Vorfall mit der Magd interessierte sie in einem gewissen Grade. In der Regel hatte sie genug mit sich selbst zu tun, und nur wenn sie aller Gesellschaft aus dem Wege gehen und sich ganz in ihre Gedanken vertiefen konnte, empfand sie die Ruhe dessen, der nichts mehr hofft. Heute aber floh sie auch dieser Trost. Sie ging in dem großen, schweigsamen Hause umher und wieder in ihr Zimmer, und hob den Deckel der Truhe, in die Banna ihren Brautanzug gelegt. Die untergehende Sonne schien durch die nach der Veranda offenstehende Tür gerade auf die Truhe: zwischen dem schwarzen Wollstoff sah der rote Besatz aus wie Blutflecken, und das gelbe Tuch hatte einen schwachen Goldglanz; und ein lilafarbenes Röschen hob sich von dem grünen Sammet ab wie von einem grünen Wiesengrund …

Und von neuem versank die Braut in schmerzliche Träumerei; es war ihr, als sähe sie den Kranken, und sie dachte daran, wie er ihr einst gesagt: Solange wir hier im Dorfe sind, mußt du die Landestracht tragen, um den Großvater nicht zu kränken; wenn wir aber, wie ich hoffe, in einer Stadt leben werden, dann wirst du dich als Dame kleiden, mit Hut und Schleier … Und braun und schlank, wie du bist, wirst du darin sehr hübsch aussehen … braun und zierlich wie die Braut im Hohenlied Salomonis … Ja, er legte Wert auf diese Dinge und sagte immer: der Schleier verschönert die Frauen.

Und sie hatte von den Kleidern und Schleiern geträumt, die ihm gefielen; und als sie vor wenigen Stunden die Fremde in ihrem engen Kleid und wehenden Schleier gesehen, hatte die Erinnerung an jene Träume sie gedemütigt und beschämt. Ja, beschämt! Dir geschieht ganz recht, du Törin, sagte sie zu sich selbst. Du dachtest daran, deine Tracht aufzugeben, deinem Stamm untreu zu werden, den Großvater zu kränken, und das alles um einen Mann, der dich gering achtete. Dir geschieht ganz recht! Und jetzt gräme dich und denke Tag und Nacht an die Beschämung, die er dir bereitet hat, indem er dich verließ …

Sie ließ die Truhe offenstehen, trat an die Brüstung der Veranda und stützte die Ellbogen fest auf das verwitterte Geländer; und indem sie sich unter dem auf die Stirn herabgeglittenen Kopftuch mit den Fingern in die Haare fuhr, murmelte sie: »Es ist ein Nagel, ein Nagel!«

Ja, es war ihr, als hätte man ihr einen Nagel mitten in den Kopf geschlagen: jener Gedanke … immer wieder jener Gedanke!

Über die dunkeln Dächer der Häuschen breitete die Sonne immer rosigeren Schein; kleine Wolken, gelb und rot gleich Blumen, stiegen hinter der Kirche auf; es war, als kämen sie aus dem Tal und brächten den Duft der Narzissen und wilden Rosen mit. Sie liebte den Frühling … Und wie war es so fröhlich gewesen, wann er zu Ostern ins Dorf kam! Und jetzt? Jetzt liegt er da wie in einer Gruft und kann sich nicht rühren: all sein Hochmut ist dahin! … Um so schlimmer für ihn! Die Leute sagen, seine Lasterhaftigkeit habe ihn zugrunde gerichtet, denkt Columba und zieht sich das Kopftuch noch tiefer über die Augen, wie um den Hof, die Galerie, die Abendwolken nicht mehr zu sehen. Seine Laster? Nein, sie weiß, daß das nicht wahr ist. Jorgi war ein braver Junge: tausendmal hätte er sie mißbrauchen können und hat es nicht getan. Wenn sie allein waren, so war er beinahe kalt; er redete ihr von Dingen, die sie nur undeutlich verstand wie ein Kind, dem man Geschichten für Große erklärt; er erzählte ihr harmlose Liebesgeschichten, deklamierte ihr Gedichte vor, von denen nur einzelne Verse klar wie Glockenläuten oder Falkenruf in ihrer Seele erklangen, während das übrige ihr vorkam wie das sanfte, doch verworrene Rauschen des Flusses.

Ja, er war fast so kalt, fast so schüchtern gewesen wie jetzt der Witwer, der noch nicht gewagt hatte, sie zu küssen … Aber der Witwer war scheu, weil er sich vor ihr, die ihn nicht liebte, fürchtete. Jorgi hingegen … Jorgi hatte sie wahnsinnig geliebt, und ein Mann ist nie scheu einem Weibe gegenüber, das ihn liebt …

Aber er liebte mich nicht, darum war er kalt … Oh!

Sie richtete sich auf, schloß die Läden, schloß die Truhe, und ihre Lippen nahmen wieder den verächtlichen, harten Zug an, der ihrem Verlobten bange machte. Und der Nagel quälte sie weiter: er war wie ein verbogener Stift, um den sich all ihre Gedanken drehten.

Und wieder ging sie durch die öden Zimmer, in denen eine Staubschicht auf den alten, von der Zeit und dem aus der Küche in alle Räume eindringenden Rauch geschwärzten Möbeln lag. Das Schlafzimmer des Großvaters war ganz voll von Gewehren, von Leppas große Messer., von Säcken und roch nach dem Schafstall; von der Decke hingen Bündel von gelben, getrockneten Trauben und von rötlichen Birnen herab.

Columba ging an die Rückwand und schob daran: eine kleine Tür tat sich kreischend auf und ließ einen dunkeln Gang erkennen, den zwei schwarze Truhen fast völlig einnahmen. Aus der einen davon war die Geldkasse verschwunden, und Columba tat sie wiederum auf und suchte darin herum, als hoffte sie noch den Schatz zu finden: Nichts! Sie öffnete die andere: Nichts! Sie reckte sich in die Höhe, um auf den Mauervorsprung sehen zu können, kletterte schließlich eine kleine Leiter hinauf und gelangte in einen engen Zwischenraum, der durch eine Falltür mit dem sehr niedrigen Dachboden des Hauses in Verbindung stand. Sie hob die Falltür, und ein spärliches gelbes Licht erleuchtete den geheimnisvollen Raum. In einem Winkel lag eine Binsenmatte, auf der vielleicht ein Bandit seinen unruhigen Schlummer geschlafen hatte, und daneben befanden sich verrostete Eisen, ein Eimer, eine alte Büchse, eine Nische mit einer kleinen schwarzen Figur des heiligen Franziskus und einem erloschenen Lämpchen.

Columba hob die Matte in die Höhe, durchspähte das alte Gerümpel, dann zog sie die Leiter herauf, lehnte sie an die Falltür und stand auf dem Dachboden.

So mochten wohl bei Überfall und Gefahr ihre Vorväter sich verborgen haben oder geflüchtet sein, zu den wilden, aber auch heldenhaften und großen Zeiten, als Haß und Rachedurst sie verzehrte. Jetzt waren die Zeiten andere; die Leute haßten einander noch immer, aber sie führten nur ihre Schlauheit und Hinterlist ins Feld, die Zunge war ihre Waffe, die Verleumdung ihr Gift.

So wanderte Columba, die einst dem Geliebten alle Geheimnisse des Hauses offenbart, jetzt in den Zimmern, den versteckten Winkeln, ja auf dem Boden umher, nach etwas suchend, das nicht zu finden war. Allemal wenn der Großvater abwesend war, suchte sie, suchte in der Hoffnung, irgendwo der verschwundenen Schatz zu finden; sie wußte, daß sie ihn nicht finden würde, und suchte doch hartnäckig weiter, von einer fixen Idee getrieben, die schon an Monomanie streifte. Voller Staub, Spinnweben und Erinnerungen kam sie dann von ihrem Suchen zurück; aber diese Erinnerungen schienen ihr einer längst vergangenen Zeit anzugehören – denn jetzt fühlte sie sich alt, ganz alt …

Inzwischen war die Sonne untergegangen; über der beinahe schwarzen Hochebene furchte ein dunkelroter Streifen den grünlichen Himmel, und der von einem leuchtenden Stern begleitete Neumond neigte sich schon.

Sie hörte, wie die mit ihren Schürzen voll Bärenfenchel und Meerrettich vom Felde heimgekehrten Nachbarinnen auf der Straße schwatzten; einige hatten bereits Feuer gemacht, und der Rauch stieg aus den schwarzen Dächern auf; andere hatten einen Teil ihrer Ernte Banna zum Geschenk gemacht und empfingen zum Austausch dafür Öl als Zutat zu ihrem Grünzeug. Zu Columba kamen sie nicht, denn die nahm sie nicht gut auf.

Auch sie zündete das Feuer an und stieg in die im Erdgeschoß gelegene Vorratskammer hinab, um Brot zu holen. Der weite, finstere Raum empfing nur durch ein vergittertes Fensterchen ein wenig Licht; er war voll von Getreidesäcken, Körben mit Bohnen und Kartoffeln, Ölbehältern und Hunderten von schwärzlichen und grauen Käsen; von der Decke hingen kleine gelbliche Käschen herab und Blasen mit Fett, die aussahen wie Schneebälle. In einem Bottich mit Salzlake schwammen einige frisch geformte Käse, und ein solcher, weiß und hart wie Marmor, lag noch auf dem Tische, zwischen zwei Holzblöcke gepreßt. Die Herstellung des Käses, der die Haupteinnahmequelle der Familie bildete, besorgte Columba; und trotz ihres Kummers blickte sie auch jetzt, sobald sie die Kammer betrat, in den Bottich und machte einen Rundgang durch die anstoßenden Räume, um sich zu vergewissern, daß alles in Ordnung sei. Damit kein Feuer auskomme, pflegte sie abends im ganzen Hause ohne Licht umherzugehen: sie wußte alles mit den Händen tastend zu finden. Als sie jetzt dem Korb das flache runde Brot entnahm, fiel ihr auf einmal der Vorgang mit Margherita ein. Sie glaubte nicht an Geister und fürchtete sich weder vor den Toten noch vor den Lebenden; und doch verspürte sie an jenem Abend eine gewisse Unruhe. Die roten Kupfergeschirre, ein weißer Mehlsack, die schwarzen Ölbehälter und das Leuchten der phosphoreszierenden Salzlake: alles kam ihr ein wenig unheimlich vor, und ihr Herz klopfte stärker als sonst.

Sie ging eilends wieder hinauf und von der Küche aus hörte sie, wie die Nachbarinnen auf der Straße lauter schwatzten als gewöhnlich.

»Ich will blind werden, wenn es nicht wahr ist! Mit diesen meinen Augen habe ich ihn gesehen: er ist schon zurück.«

»Aber wenn die dreißig Jahre erst am Tag des heiligen Franziskus um sind? An dem Tage wird er wiederkommen, und seine Verwandten und Freunde wollen ihn in Prozession empfangen.«

»Er ist schon gekommen, sage ich euch. Wenn die dreißig Jahre noch nicht ganz verstrichen sind, so wird das Gericht ihn doch um weniger Wochen willen nicht behelligen.«

Columba verstand, daß sie von Junassiu Arras sprachen, und trat an die Tür, um besser zu hören. In dem Augenblick kam Petru aus dem Nachbarhöfchen herausgesprungen und beteiligte sich an der Diskussion.

»Auch ich habe ihn gesehen, ja! Er saß beim Feuer, die Kapuze über den Kopf gezogen und den Ranzen auf dem Rücken.«

»Ein Zeichen, daß er wieder fort wollte. Nun, Mariazoseppa Conzu, willst du neun Real drei Real = fünf Centesimi. wetten, daß er vor San Francesco nicht endgültig in sein Haus zurückkehrt?«

»Das glaube ich auch,« sagte Petru. Als er Columba erblickte, näherte er sich ihr und fragte leise: »Was wollt Ihr?«

»Wer hat dich gerufen?« entgegnete sie ärgerlich. »Geh!«

Aber er erhob den Kopf, sah sie an, und seine Augen leuchteten im Halbdunkel wie zwei Kohlen unter der Asche.

»Ich meinte, Ihr hättet mich gerufen. Ist Euer Großvater schon zurück?«

»Was geht das dich an?«

»Ich muß eine Kerze kaufen für meinen Herrn,« fuhr er unbeirrt fort, da er aus Erfahrung wußte, daß Columba ihm schließlich doch Gehör schenkte. »Wir haben keine mehr. Der Kasten ist leer; es ist nichts mehr da. Aber vielleicht bekommen wir bald viel Geld …«

Columba sagte kein Wort: sie blickte die Gasse hinauf, ob sie den Großvater kommen sähe, und tat als hörte sie den Weibern zu, die weiter disputierten.

»Ja, wir müssen das Haus verkaufen …«

»An wen?« fragte sie unwillkürlich.

»An den Doktor, Zia mia! Er will es kaufen, um sich das Vergnügen zu machen, mit Rosalia Nieddu, der Stiefmutter meines Herrn, zu streiten, die immer da oben schreit wie eine Eule. Aber ich denke, wenn Zio Jorgeddu stirbt, wird sie wohl nicht mehr singen. Und was meint Ihr?«

»Er wird nicht sterben.«

»Wie, nicht sterben? Möchten wir doch so sicher reich werden, Zia mia! Er wird sterben, und das bald. Was würdet Ihr sagen, wenn er nun gerade an Eurem Hochzeitstag stürbe?«

»Schweig', Dummkopf!«

»Ich meine, das wäre merkwürdig. Ach ja, er ist schon so weiß wie ein Toter, und jetzt ißt er so wenig und schläft fast gar nicht mehr. Bei Tag schlummert er, und nachts liest er. Wieviele Kerzen er verbraucht, Zia mia! Ich sage ihm immer: ›Ihr seid ein Verschwender.‹ Und dann sage ich: ›Und was werden wir tun, wenn wir keine Soldi mehr haben?‹ Aber er liest in seinem Buch und sagt: ›Gott steht selbst den Vögeln bei.‹ Ja, die Vögel haben auch Flügel, und er hat nicht einmal seine Beine. Und er will nichts, von niemand, auf die Gefahr hin, zu verhungern. Nur sagt er, er würde morgen vom Doktor das Geld für das Haus bekommen.«

»Und wenn das auf ist?« fragte Columba leise.

»Er sagt, Gott würde ihn gesund machen oder sterben lassen, und ich meine, er wird sterben …«

»Ist der Priester nicht mehr gekommen?«

»Niemand ist mehr gekommen. Nur … nun, Euch kann ich's ja im Vertrauen sagen, neulich ist Zio Arras gekommen! Er kam von der andern Seite herein, und mein Herr freute sich über den Besuch. Was sie gesprochen haben, weiß ich nicht, denn sie schickten mich fort; und auch wenn ich's wüßte, würde ich's nicht weitersagen, denn ich bin doch kein Spion! Ich sehe alles und schweige, und schwatzhafte Leute kann ich nicht ausstehen. Und auch keine Duckmäuser wie den da!« – Er deutete auf den Bettler, der noch immer vor seiner Tür saß und seine Medaillen küßte. – »Auch der kommt manchmal an unsere Tür, daß Zio Jorgi ihn sehen und hereinrufen soll: dann tut er zuerst, als hörte er es nicht, und dann kommt er leise, leise heran, setzt sich hin und seufzt. ›Warum seufzt Ihr?‹ sage ich dann zu ihm; ›eine Kugel soll Euch in Euren Sack fahren! Geht, Ihr seid reicher als wir.‹ Zio Jorgi will nicht, daß ich so mit ihm rede – aber wenn er fort ist, dann fahre ich mit dem Besen über die Stelle, wo er gesessen hat. Denkt nur, letzthin hat Dionisi Oro so lange gestöhnt, bis mein Herr ihn fragte; und da hat er geklagt, der Steuereinnehmer wolle ihm seine Höhle versteigern lassen, weil er die Steuer nicht bezahlt hat, neunzig Centesimi, mit den Kosten eine Lira und neun Real, ja, wahrhaftig, soviel war's! Nun, und hat der Narr, mein Herr, mich nicht geheißen, den Kasten auftun und sie ihm geben? Da hab' ich aber geschrien: ›Ah, so laßt Ihr Euch das Geld stehlen? Und wer hilft uns hernach? Der Rabe?‹ Und mein Herr sagte: ›Petru, bekümmere dich um deine Sachen!‹ Aber ich habe Dionisi fortgejagt und ihm nachgeschrien: ›Wehe dir, wenn du das Geld nimmst, du Spitzbube!‹ Da hat er sich aus dem Staube gemacht.«

Doch Columba achtete nicht mehr auf das Geschwätz des Knaben, sondern schaute nach dem Großvater aus.

»Da kommt Zio Remundu,« verkündete eine Frau, und Petru machte sich schnell davon, seinen Soldo noch immer fest in der Hand. Und während seine kleine, behende Figur am oberen Ende der Gasse, nach dem leuchtenden Horizont hin verschwand, kam vor dem aschgrauen Hintergrund der unten bereits in Dunkel gehüllten Gasse die Gestalt Zio Remundus zu Pferde heran, zwischen zwei großen, gefüllten Quersäcken sitzend. Und wo er vorüberritt, verbreitete sich der Geruch von Grünzeug und saurer Milch.


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