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II

Columba eilte das Tor zu öffnen, und der Großvater stieg mit gewohnter Leichtigkeit ab.

»Die Weiber sagten, Junassiu Arras wäre zurückgekehrt«, berichtete Columba, während sie ihm behilflich war die Säcke abzuladen, von denen einer frisches Heu enthielt. Ohne zu antworten, führte der Alte das Pferd in den Hof, nahm ihm den Sattel ab und füllte ihm den Futterkorb. Columba entnahm unterdes dem einen Sack einen noch von Molken tropfenden frischgeformten Käse und ein mit Asphodelosblättern bedecktes Holzgefäß voll Weichkäse.

Banna kam herbei, den Großvater zu begrüßen und ihm zu berichten, was die Frauen über Junassiu Arras' Rückkehr gesagt. Doch er zog schweigend den Mantel aus, hing ihn an einen Pflock im Portikus und ging und setzte sich ans Feuer. Sein mit einem seitwärts geschlossenen schwarzen Sammetwams bekleideter, noch immer aufrechter Oberkörper zeigte die schlanken, ein wenig harten Formen eines sehr jungen Mannes. Zweimal warf er jetzt mit verächtlicher Miene den Kopf auf.

»So, der Feigling ist zurückgekehrt? Wohl bekomm's ihm! Ein Müßiggänger mehr im Dorfe.«

Columba richtete die Abendmahlzeit her: einen Korb Brot, dazu Quark und eine Schüssel Salat. Sie brannte darauf, dem Großvater zu sagen, was sie wußte – aber vor Banna wollte sie nicht sprechen, weil sie gewiß war, daß unangenehme Erörterungen folgen würden. Sie schwieg, auch als die Schwester dem Großvater erzählte, wie der Doktor seine Magd erschreckt, und daß Giuseppa Fiore Columbas Anzug kritisiert habe, der ihr zufolge für die Braut eines Witwers unpassend sei.

Der Alte kaute das harte Brot mit seinen vollkommen erhaltenen Zähnen und entgegnete mit einem Sarkasmus, der wie Verachtung des höherstehenden Menschen gegenüber aller Engherzigkeit des Nächsten erschien: »Giuseppa Fiore ist wie die Schnecke; wo sie vorüberkriecht, läßt sie ihren Geifer zurück. Und dem Doktor, dem alten Narren, wird man wohl nächstens die Spannkette anlegen müssen.«

Nur als die Rede auf Zuanpedru Cannas kam, nahm sein herbes Gesicht einen sanfteren Ausdruck an, und sein Ton klang ernsthaft.

»Der ist gut, meine Enkelin, und sie tun recht daran, ihn zu loben; was kann dir daran liegen, daß er Witwer ist? Er wird dich doppelt respektieren, weil er bei sich denken wird, wenn ich sie schlecht behandle, so wird sie sagen, meine erste Frau habe gut daran getan, zu sterben.«

»Und er hat keine Kinder,« fügte Banna hinzu, indem sie aufstand, um zu gehen. »Das ist gerade so gut, als wenn er Junggeselle wäre. Sie reden auch nur aus Neid.«

Großvater und Enkelin verharrten eine Weile schweigend. Im Hof hörten sie das Pferd das frische Heu wiederkäuen und mitunter das Pflaster stampfen. Der Wind hatte sich gelegt, aber die Abende waren noch zu kühl, als daß die Leute sich auf der Straße versammelt hätten.

Der Alte bückte sich über den Herd, faßte mit den Fingern eine glühende Kohle und legte sie auf seine Pfeife; dann nahm er das Mundstück zwischen die Zähne, und während er darauf achtete, ob der Tabak Feuer fing, sagte er: »Ja, der Doktor ist immer ein Narr gewesen; wenn aber andere so etwas tun, dann bellt er von oben herunter wie ein Hund.«

Aber Columba war zerstreut; sie kauerte vor dem Alten am Boden und schürte das Feuer; und ohne aufzublicken, murmelte sie: »Großvater, ich muß Euch etwas sagen … Die Schwester des Kommissars hat Martina gesagt, Jorgeddu wäre krank vor Herzeleid, weil ich ihn verleumdet hätte …«

Es war, als würfe die Glut der Pfeife mit einemmal ihren Widerschein über des Alten Gesicht; seine dunkle, mit Adern so dick wie Wurzeln durchsetzte Hand krampfte sich zusammen und packte das Knie wie eine Adlerkralle den Felsen.

»Und darum bist du so schlecht aufgelegt?« fragte er, seinen Zorn bemeisternd.

»Ja, darum, Großvater!«

»Und was kann dir daran liegen, was sie sagt?«

»O, mir liegt daran! Nur den Toten liegt nichts daran, was die Lebenden sagen!«

»Die Schwester des Kommissars wohnt im Hause Giuseppa Fiores, das mußt du nicht vergessen!«

»Ich vergesse es nicht. Jener Schlange muß man ihre Giftzähne ausreißen.«

»Was willst du machen? Wäre ich jung, so würde ich sagen: ich werde Giuseppa Fiores Pferd die Zunge abschneiden, um sie für ihre üble Nachrede zu bestrafen. Aber ich bin alt, liebe Tochter; ich bin alt – und sie reden schon genug über mich!«

»Das ist wahr, Babbo Corbu! Alle reden Böses von uns. Alle glauben, auf mir herumtreten zu können, weil wir alleinstehen … Ihr seid alt, wir sind Frauen, und Ignassiu, Bannas Mann, zählt für nichts: er denkt nur an seine Kühe und Ziegen. Niemand achtet uns, alle verleumden uns. Alle möchten, wir wären tot … Ja, und ich werde auch wohl bald sterben, ich fühle, hier im Herzen fühle ich es …«

»Columba, wirst du verrückt? Warum redest du so?«

»Weil ich vor Ärger umkomme, Babbo Corbu! Weil ich nicht mehr kann. Euch sage ich es, andern nicht: ich bin's müde!«

Sie setzte sich auf die Erde und ließ den Kopf auf die Brust sinken, mutlos, müde, so müde, daß sie sich nicht mehr aufrechthalten konnte.

Die kleinen grünen Augen des Alten verdunkelten sich. »Columba,« sagte er, »so redet eine Braut? Ein Mädchen, das sein Hochzeitskleid im Kasten hat? Und warum das? Wegen des leeren Geschwätzes der Klatschbasen! Gut, sage mir, was möchtest du, um zufrieden zu sein?«

Daß das, was geschehen ist, nicht geschehen wäre! hätte sie schreien mögen – aber sie wagte es nicht. »Ich wollte, ich wäre schon verheiratet,« sagte sie stattdessen, »schon fort von hier: dann würden wir alle ruhiger sein.«

»Aber warum bist du jetzt nicht ruhig? Was fehlt dir, Kind Gottes?«

»Nichts fehlt mir, Babbo Corbu; aber alle haben etwas gegen uns. Sogar Banna kann mich nicht leiden, ich weiß es. Wir sind nicht wie Schwestern, sondern wie Nachbarinnen, die etwas miteinander zu teilen haben und bereit sind zu streiten. Sogar Dionisi Oro, der schmutzige Bettler, der ohne uns Hungers sterben würde, er sogar redet Böses von uns. Und doch glaube ich … daß er's gewesen ist, der das Geld gestohlen hat …«

»Tausendmal schon hast du mir das gesagt, meine Enkelin! Er oder ein anderer: was liegt daran? Der Brigadiere hat bei Dionisi Haussuchung gehalten … wie bei andern; er hat nichts gefunden und nun sein Herz in Ruhe gesetzt Und ich habe getan wie er, ich denke nicht mehr daran. Höre, mein Eidechslein, laß uns eines tun: auch nicht mehr davon reden! Und wenn die Leute tuscheln, so laß sie tuscheln: es ist der Neid, der an ihnen nagt. Sieh, wenn der Wind vorüberfegt: der Staub fliegt auf und wirbelt umher – das Gestein rührt sich nicht. So ist es auch mit den Leuten: die sich rühren und klatschen, sind das schlechteste Gesindel. Und wenn du dir in den Kopf setzest die Welt zu ändern, dann wirst du vor der Zeit graues Haar bekommen. Tu' du das deine und suche nur die Zustimmung deines Gewissens; und wenn dein Gewissen dir nichts vorwirft, so geh deinen Weg weiter und denke: Reden die Leute Böses von mir, so ist das ein Zeichen, daß sie mich für glücklich halten!«

Er spuckte in die Asche, schlug die Beine übereinander und kreuzte die Arme in würdevoller und stolzer Haltung. Man hätte glauben sollen, er habe während seines langen Lebens nur großmütige, edle Handlungen vollbracht und die öffentliche Meinung verachtet – und doch zitterte seine Rechte immerfort.

Columba murmelte mit gesenktem Kopf: »Aber mein Gewissen ist nicht ruhig, Babbo Corbu! Ich fürchte immer, wir haben uns geirrt … Auch heute habe ich wieder gesucht … Und wenn das Geld noch im Hause wäre? Wenn wir es wiederfänden? Wie froh wäre ich! Dann könnte er nicht mehr sagen, wir hätten ihn verleumdet und krank gemacht …«

Der Alte antwortete nicht; und sie erhob ihr blasses Gesicht, und einen Augenblick sahen sie einander in die Augen wie zwei zum Ausfall bereite Gegner.

»Columba,« sagte er dann und biß die Zähne zusammen, »du wirst verrückt! Reden wir ein für allemal deutlich miteinander. Ich habe niemand verleumdet, und wenn du das Wort noch einmal aussprichst, dann schlage ich dir den Kopf ein mit meinem Stock. Aber streiten will ich nicht. Höre also: Im ersten Augenblick nach der Tat, im ersten Zorn mag ich vielleicht den Namen jenes Unglücklichen genannt haben; aber nachher … zum Teufel! Habe ich ihn vielleicht angezeigt? Habe ich vielleicht zu irgend jemand von der Sache gesprochen? Wenn die Leute eine so geringe Meinung von ihm hatten, ihn dessen fähig zu halten – was kann ich dafür?«

»Ihr habt immer über ihn gespottet, Babbo Corbu; und Schwester Banna hat eine Zunge wie eine Schlange. Sie hat mit den Nachbarinnen zusammen ihm Böses nachgesagt, und so habt ihr beiden Tag für Tag an seinem Übeln Ruf gearbeitet …«

Der Alte hob den Stock.

»Prügelt mich nur, schlagt mir den Kopf entzwei,« sagte sie in wachsendem Zorn. »Aber zuerst will ich reden. Er ist unschuldig, und wir haben ihn verleumdet, wir, ja wir, denn auch ich habe gegen ihn gesprochen, und die Leute wissen das und fangen an, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und der Tag wird kommen, da sie alle gegen uns schreien und sagen werden: sie haben ihn umgebracht, sie haben ihn in ihr Haus gelockt wie in einen Hinterhalt und ihn hinterrücks überfallen, weil sie ihn haßten …«

»Du hast ihn ins Haus gelockt, nicht ich,« sagte der Großvater, sich zur Ruhe zwingend. »Du hast ihm nachts die Tür aufgetan und ihn in dein Zimmer eingelassen wie ein verworfenes Frauenzimmer. Damals schon hätte ich dir den Kopf einschlagen sollen, aber ich war feige und ließ dich tun, wie du wolltest. Weil du eine Waise warst, und deine Mutter, als sie starb, es mir ans Herz gelegt hatte, dich gut zu behandeln. Ah, nein, ein Mädchen, das bei Tag den Mund nicht auf tut und nachts ihren Geliebten einläßt, darf man nicht gut behandeln! Es ist der Ruin des Hauses, und du bist der Ruin des meinen gewesen!«

Zweimal berührte er mit dem Stock ihren Kopf, und sie zitterte so, daß sie nicht mehr sprechen konnte.

»Ah, jetzt schweigst du? Bin ich's gewesen, der ihn ins Haus gelockt? Sag diesen Unsinn noch einmal! Wenn du das Gedächtnis verloren hast: um so schlimmer für dich; aber ich bin nicht kindisch geworden. Er war's, der uns haßte, der Lump in Strümpfen, und sich über uns lustig machte und uns verließ! Hättest du ihn nicht heimlich eingelassen und ihm gezeigt, daß du nicht auf dich hältst, so hätte er dich respektiert. Eine Frau muß immer Frau bleiben, besonders wenn sie einen Namen trägt wie den deinen. Aber du hattest das vergessen, scheint's; du hattest vergessen, daß du die Enkelin Remundu Corbus bist, die Tochter Battista Corbus. Deine Mutter hast du dir nicht zum Vorbild genommen, die, damit die Familie bestehen blieb, ihren Vetter heiratete, den Sohn meines Bruders; nein, du warfst deine Augen auf den Sohn eines Ziegenhirten, ein Studentlein ohne Haus und ohne Hirn, einen verkommenen Burschen, der weder deinem Stamm, noch deinem Stande angehört. Und darum ist dir ganz recht geschehen, und du brauchst jetzt nicht zu plärren …«

»Ach, wir haben ihn umgebracht?« fuhr er dann fort, ohne auf Columbas Einrede zu achten. »Nein, das hat er selbst getan, durch seine Laster und seine Ausschweifungen. Und du brauchst keine Angst zu haben: der stirbt nicht! Das ist alles nur Verstellung, und wer weiß, wer weiß, was er plant. Er hält sich in seiner Höhle verborgen wie ein tückischer Gedanke im Sinn eines bösen Menschen; und eines Tages wird er herauskommen und eine Geißel werden. Genug, reden wir nicht mehr von ihm,« sagte er und schlug mit dem Stock auf den Herdstein. »Nur eines will ich dir noch sagen: willst du ihn heiraten? Es steht dir frei. Habe ich dir je gesagt, du solltest es nicht tun? Ja, das war mein Unrecht: gegen dich bin ich immer schwach gewesen, ich Remundu Corbu. Auch in bezug auf Zuanpedru Cannas habe ich dir deinen Willen gelassen. Als er das erstemal fragte, hast du nein gesagt, das zweitemal aber ja. Reut es dich jetzt? Du bist immer noch frei, davon abzustehen, und brauchst auf niemand zu hören …«

»Einmal,« fuhr er fort, einigermaßen besänftigt durch die demütige und kummervolle Haltung Columbas, die ganz in sich zusammengesunken am Herde kauerte, »in meinen guten Tagen, als ich noch Flechsen hatte wie ein Hirsch, kam ich durch den Wald von Dorgotori. Und da sehe ich einen Mann, der Besenkraut schneidet. Ich gehe meines Weges, aber er ruft mich an: ›Heil, alter Freund, Heil!‹ Nun, und erkenne ich nicht in ihm einen Freund aus meiner Kindheit, den Sohn Sadurru Chessas aus Tibi? Sein Vater war ein reicher Mann, und der Sohn hatte studiert, um Doktor zu werden. Aber er hatte auf den Rat dieses gehört, auf den Rat jenes, sein Studium aufgegeben, sich dem Handel gewidmet, allerlei Gewerbe getrieben und schließlich sein ganzes Erbe verzehrt, so daß er vollständig ins Elend geriet und zuletzt Besenbinder wurde! – Und darum sage ich dir, mein Täubchen, tue was du willst und höre auf keines Menschen Rat.«

Columba antwortete nicht; sie war wieder in ihr hergebrachtes Stummsein versunken, doch es schien, als hätten die Worte des Großvaters sie beruhigt, und ihr Gesicht hatte wieder den gewohnten Ausdruck angenommen.

»Geh, geh zu Bett,« ermahnte er, indem er sich vorbeugte, um eine zweite Kohle zu nehmen, denn die Pfeife war ihm ausgegangen; »schlafe sieben Stunden und du wirst sehen, daß die Grillen verflogen sind. Am Palmsonntag kommt Zuanpedru Cannas für das Aufgebot, und dann kommt der Hochzeitstag heran und ihr geht fort; dann wirst du ihn in seiner Schäferei besuchen, seine Kühe zählen, und er wird dir den Lohn für die Knechte einhändigen. An Sorgen wird es dir auch dann nicht fehlen; aber kommen einmal Grillen, so machst du dir nichts mehr daraus.«

Gehorsam wie ein Kind stand Columba auf, zündete ihr Öllämpchen an und ging und schob einen eisernen Riegel vor die Haustür.

»Columba,« fragte der Alte noch, »hast du Martina Appedu bezahlt?«

»Sie wollte es nicht.«

»Gut, schicke ihr morgen, was sie zu bekommen hat, und laß sie nicht wieder rufen.«

»Der Teufel soll sie holen!« fluchte Columba, und ihr Gesicht verfinsterte sich aufs neue.

Und sobald er allein war, nahm auch das Gesicht des Alten einen düstern Ausdruck an, und wieder packte er sein Knie mit der zusammengekrampften Hand. Remundu Corbu, sagte er ärgerlich zu sich selbst, du bist alt und noch immer unklug: du darfst das Mädchen nicht allein lassen, sonst bist du verloren. Zu sehr hast du sie sich selbst überlassen, jetzt ist es an der Zeit aufzupassen. Jeden Windstoß hält sie für eine Stimme und zittert wie Espenlaub. Es ist, als läge ein böser Zauber über ihr!

Er glaubte nicht an Zauberei, aber seit einiger Zeit fühlte er sich jedesmal, wenn er zu Hause war, so bedrückt, als hätte jemand wirklich dort einen Zauber verübt: sollte man vielleicht an seinem Herde eine der mit Nadeln gespickten Figürchen aus Kork niedergelegt haben, wie auch Martina Appedu sie bereitete, und die dem, unter dessen Füßen sie verborgen sind, Unglück bringen, ihn verzehren und langsam zu Tode quälen? Columba war beständig schlechter Laune, und auch Banna erschien häufig sorgenvoll: und der Alte wurde an die traurige Zeit erinnert, als seine Tochter krank lag und man den einen Tag hoffte, sie würde genesen, den andern Tag fürchtete, sie stürbe. Aber nicht einmal zu jener Zeit hatte er die Unruhe empfunden, die Columba ihm jetzt verursachte. War es doch, als läge ein Verhängnis über dem Mädchen, und wo sie vorüberkam, da verblieb ein Gefühl von Trauer. Weshalb? das wußte der Großvater sich nicht zu erklären, aber er erinnerte sich, daß Giuseppa Fiore, als sie von dem Liebesverhältnis Columbas mit dem Studenten gehört, zu den Alten oben auf dem Platze gesagt hatte: Remundu Corbu hat Sünden abzubüßen!

Sünden? Nein, ich habe keine Sünden begangen: ich weiß, warum ich getan, was ich getan habe! Und was hat man mir nicht getan? Sollte ich mich vielleicht zu Boden schlagen lassen? Wenn Gott mich in die Welt gesetzt hat, so war's, um zu leben, und wenn er mir Füße gab, so war's, um zu gehen, und Hände, um Hindernisse fortzuräumen.

Er erhob sich und ging hinaus, nach seinem Pferde zu sehen. Es war ein altes Tier mit verstümmelten Ohren und narbenbedeckt, das mehr als einen Messerstich von den Feinden des Alten abbekommen hatte; und darum war es ihm lieb, und als er den heißen Atem des treuen Tieres an seiner Wange fühlte, verspürte er ein Gefühl von Zärtlichkeit.

»Ja, wir sind alt,« sagte er, ihm den Rücken klopfend, »aber unsere Haut ist hart … Und wenn es nötig ist, traben wir auch heute noch …«

Er ging wieder ins Haus, verschloß die Tür und legte sich auf die Matte. Wenn ihn etwas beunruhigte, entkleidete er sich niemals und zog die Matte dem Bett vor, vielleicht aus alter Gewöhnung, für alle Fälle bereit zu sein. Jetzt bedrohte ihn zwar nichts: die Seinen waren gesund, die Geschäfte gingen gut, und Columba würde einen reichen Mann heiraten. Und doch hatte er ein Gefühl von Ruhelosigkeit, wie es das Nahen einer Gefahr mit sich bringt.

Er mußte wieder an Junassiu Arras denken, und noch zwischen schlafen und wachen war er bemüht, das Wort »Feigling« zu murmeln und verächtlich zu lächeln; aber auch die Erinnerung an seinen ehemaligen, jetzt unschädlichen Feind verursachte ihm an jenem Abend ein unbestimmtes Unbehagen. Wie fast alle alten Leute, schlief er schlecht und erwachte auch jetzt nach wenigen Stunden. Das Feuer war erloschen und der Wind rüttelte an der Hoftür. Ihm war kalt; er streckte den Arm aus, um einen Sack herbeizuziehen und sich damit zuzudecken; doch diese Bewegung genügte, den Schlaf vollends zu verscheuchen. Und von neuem verspürte er jenes beklemmende Gefühl, unter dessen Druck er eingeschlafen war.

»Columba …« murmelte er. Ja, Columba war seine fixe Idee – alles andere zählte wenig. Die Vergangenheit war eben vergangen, und eine Zukunft gab es für ihn nicht mehr. Wenn Columba heiratete und fortzog, dann mochte er fortan auch im Gehen schlafen und seine Gedanken wiederkäuen wie das Rind das frische Heu, etwas anderes gab es dann für ihn nicht mehr …

Aber wird Columbas Hochzeitstag je kommen? Das ist der Gedanke, der den Alten beherrscht. Columba steht noch unter dem Druck ihres traurigen Abenteuers mit dem Studenten, und das ist der böse Zauber, der die ganze Familie bedrückt.

Der Großvater wirft sich hin und her auf seiner Matte und fängt wieder an mit sich selbst zu reden: Alter Greis, weißt du was? Als Banna dir sagte, daß Columba den Sohn des Ziegenhirten bei Nacht einließ, da hättest du sie gleich beide mit einem härenen Strick peitschen müssen. Du hingegen hast die Sache gehen lassen, und der Student ermangelte der Achtung gegen dich, die Leute lachten über dich und sagten: du tust gut daran, dir einen flotten Burschen ins Haus zu nehmen; er wird dein Geld verstreuen wie der Wind die Blätter. Und Giuseppa Fiore sagte: Remundu Corbu hat Sünden abzubüßen! …

Plötzlich riß er die Augen auf. Ringsum war es finster, aber dort vor dem Herd sah er noch das blasse, spöttische Gesicht Giorgios, seine blitzenden Augen, und empfand noch deutlich die Geringschätzung, die die Anwesenheit und die Worte des Studenten ihm einst erregt … Ach, er ist also noch immer da, mitten unter ihnen, er ist immer der Stärkere und wird sie schließlich aus dem Hause treiben!

Babbo Corbu, sagt die traurige Stimme Columbas, ich wollte, ich wäre schon fort, dann würden wir alle ruhiger sein …

Was tun, um ihr Ruhe zu schaffen? Im Grunde macht sich der Alte nicht viel aus der eigenen Unruhe: er hat so bewegte Tage gesehen! Aber die beständige Traurigkeit Columbas kann er nicht ertragen. Was tun? Weiter nach dem Dieb forschen? Aufs neue alle Spelunken in der Nachbarschaft durchsuchen? Wozu? Um sich zwecklos neue Feinde zu machen? Das Geld ist verschwunden; und ob Giorgio, ob der Bettler, ob ein anderer es genommen: auch wenn es sich wiederfände, würde das nichts mehr bessern. Da liegt das Übel nicht: das hat tiefere Wurzeln, sie reichen viel, viel weiter, und Abhilfe gibt es nicht. Auch wenn der Großvater in die Kirche gehen, mitten unter den Leuten niederknien und schreien würde: Jorgi ist unschuldig! Ich habe ihn beschuldigt, ohne seiner Schuld gewiß zu sein: was würde es helfen? Die Leute würden lachen, aber der Haß zwischen dem Alten und dem Jungen bliebe derselbe, und dieser würde weiterhin Zwietracht in die Familie bringen wie zuvor, und Columba würde sich weiter grämen. Besser die Sache gehen lassen. Die Zeit bringt Rat für alles. Columba wird mit ihrem reichen Mann fortziehen, und für sie wird ein neues Leben anfangen; der Großvater wird sie oft besuchen, ihre Kinder auf seinem Stock und seinem Pferde reiten lassen und die Knechte lehren, aus dem frischen Käse Schäfchen und Vögel für die Enkel zu machen. Die traurigen Zeiten sind vorüber …

Er versuchte wieder einzuschlafen, aber er konnte kein Auge zutun: seine Lider zuckten, und sein Rückgrat war wie zerschlagen vor Müdigkeit.

Auf einmal krähte ein Hahn, und der Alte tat seine gegenwärtigen Sorgen ab und überließ sich den Erinnerungen an die Vergangenheit; und wie stets fand er darin eine gewisse Ruhe, wie einer, der aus der Strömung eines Flusses in stilles Wasser gelangt und nun sein leichtes Boot treiben läßt. Das Krähen des Hahnes erinnerte ihn jedesmal an das durch die Stille des Waldes schallende Schreien seiner Frau, als man sie überfallen hatte … Seine Frau! Mitunter nachts, wenn er in seinem Bette schlief und aufwachte, meinte er, sie müsse noch neben ihm liegen, hart und stark, wie sie gewesen. Ja, das war eine Frau! Nie Tränen, nie Bitten noch Klagen! In der traurigen Zeit war sie gewesen wie eine stählerne Stange, die sich nicht biegt; aber als die Zeit des Friedens gekommen war, war sie auf einen Strich zerbrochen.

Hinter der Frau, die einen Gang hatte wie Banna: fest auftreten und die Hände in den Rockschlitzen, zog eine lange Prozession vorüber: Freunde und Feinde, Richter und Priester; ein tiefer Wald tat sich auf, der Trab eines Pferdes erklang, der Knall einer Büchse; dann verwandelte sich das Bild: ein Leichenbegängnis, eine Frau mit aufgelöstem Haar, die um Rache schrie: Zia Giuseppa Fiore, die vor ihrem Herde kauerte und von Zeit zu Zeit einen Schrei ausstieß wie der Uhu auf dem Ast; und Junassiu Arras eilt von Fels zu Fels, den Ranzen auf dem Rücken …

Und dann erschien ein einsames Kirchlein mit blumenumkränztem Altar und einem zu Füßen des Altars auf den Teppich gelagerten Christus. Der Bischof von Nuoro, stattlich und schön, teilte mit zwei Fingern den Segen aus, und Männer und Frauen zogen an dem Christus vorüber und schworen, allen Haß und jeden Gedanken an Rache abzutun; sie küßten die blutigen Füße des Herrn, und dann gingen sie auf den grünen Platz hinaus und tanzten und schmausten … und blickten mißtrauisch auf den, dem sie Frieden geschworen hatten …

So trug der Strom der Erinnerung den Alten dahin; und wie über den Wasserspiegel in der Dämmerung, so lagen auch über diesen Erinnerungen himmelblaue und rote Lichter, heller Schein und dunkle Schatten … Er war überzeugt, niemand ein Unrecht zugefügt zu haben: er hatte sich nur verteidigt, wie ein rechter Mann es muß … Und dann sah er noch eine andere Kirche: ein dunkler Christus blickte von der Kanzel herab, und es war, als spräche er: Hier ist einer, der wie Judas seinen Bruder verraten will … Und Junassiu Arras weinte: das war die komischste Erinnerung seines Lebens, und noch jetzt, im Halbschlummer, mußte Remundu Corbu lächeln …

Und doch, so wahr Gott lebt, seit jenem Augenblick war ich ihm nicht mehr böse! Ebensogut könnte ich Dionisi Oro böse sein … Und doch: die Erinnerung an den Bettler weckte ihn aus seinem Halbschlaf, und ein unbehagliches Gefühl überkam ihn. Das Boot war ans Ufer gelangt, und jetzt mußte er an Land gehen, zur Wirklichkeit, zur Gegenwart zurückkehren.

Und wieder hörte er die traurige Stimme Columbas sagen: Ich meine, Babbo Corbu … es könnte doch Dionisi Oro gewesen sein. Warum laßt Ihr nicht noch einmal nachsuchen?

Er setzte sich auf und kratzte sich die Wange. Verwünscht seien die sieben Todsünden! Wenn ich Martina Appeddu sehe, schlage ich ihr die Zähne ein und sage ihr: was brauchtest du das Mädchen noch zu beunruhigen?

Wieder krähte der Hahn. Der Alte erhob sich und ging und sah nach seinem Pferde in dem stillen Hof, unter den grünlichen, wie im Wind erschauernden Sternen.


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