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Margherita, des Doktors Magd, ein großes schlankes sechzehnjähriges Mädchen, mit olivenfarbenem Gesicht und schwarzen Augen, größer als der kleine rote Mund, brachte nun jeden Morgen eine Flasche Milch für den Kranken. Der Doktor wohnte nicht weit entfernt in einem zwischen den Felsen erbauten roten Häuschen außerhalb des Dorfes. Giorgio Nieddus Nachbarn, sämtlich sehr arme Leute, die zum Teil von Almosen lebten, murrten, wenn sie Margherita zu dem Kranken gehen sahen. Sie haßten ihn, weil er sie in seinen guten Tagen feige und abergläubisch genannt, und wenn sie jetzt aus Neugier in seine Kammer einzudringen versuchten, dann jagte er sie davon wie Hunde. Nur einer, ein schwerhöriger, halb verwilderter Bettler, der dem Hause der Corbus gerade gegenüber wohnte, fand Gnade bei dem Kranken; freilich fiel der Ärmste ihm nicht lästig: er setzte sich bei der Tür nieder und kam nur herein, wenn er gerufen, sprach nur, wenn er gefragt wurde. Von Giorgio nahm er nie etwas an und er war auch der einzige, der die Magd des Doktors unbehelligt ließ.
Die Weiber dagegen faßten sie beim Arm und sagten: »Gib die Milch lieber mir; hörst du nicht, was ich für einen Husten habe? … Dein Herr redet immer Böses über unser Dorf, aber Geld aufhäufen, das versteht er; ein Haus hat er sich gebaut, Kühe hat er gekauft, eine Kugel soll ihm durch die Wade fahren! Er schenkt niemand was, und wenn sie ihn umbringen; nur Jorgeddu, weil der ein Ungläubiger ist wie er selbst …«
Doch das Mädchen war schweigsamer Art; sie schaute sich mißtrauisch um, machte sich von den Weibern los und antwortete nicht. Nur wenn die Frauen allzu arg auf den Doktor schimpften, dann wurde sie leichenblaß und entgegnete ihnen so scharf, daß jene ihre Schmähungen verdoppelten.
Ihr Keifen drang bis zu Giorgio hinein. Neugierig eilte Petru hinaus, um zu sehen, was es gab, und berichtete dann all die fürchterlichen Dinge, die die Weiber über den Doktor wie über den Kranken gesagt. Giorgio hieß dann Margherita die Milch wieder mitnehmen, aber sie stellte die Flasche auf die Truhe, hüllte sich wieder in ihren schwarzen Rock und ging ohne Gruß von dannen, ohne zu sprechen, manchmal ohne den Kranken nur anzusehen. Er folgte ihr mit bestürztem Blick, und seine Hand erzitterte leicht: jene schweigsame schwarze Gestalt, das arabische Profil, das schöne Gesicht einer Sphinx vom Dorfe riefen ihm die andere zurück, die, die niemals wiederkam.
Eines Tages schickten auch der Priester und Zia Giuseppa Fiore ihre Mägde mit Körben voll Brot und andern Lebensmitteln. Jorgi wies alles zurück. Die Weiber zeigten mehr Neugier als Mitleid, richteten zudringliche Fragen an ihn, und Scham und Zorn vermehrten noch seine Leiden. Es überkam ihn alsdann ein so beängstigender Schwindel, daß er nicht mehr hörte noch sah.
Eines Morgens fand Margherita die Tür verschlossen; wie sie auch klopfte, niemand öffnete. Da stellte sie die Flasche auf die Schwelle und ging. Und am andern Morgen fand sie die Tür noch immer verschlossen und die Flasche davor stehen.
An der Hofmauer lehnte der taube Bettler. »Ist er gestorben?« schrie Margherita ihm ins Ohr.
Der Mann fuhr zusammen. Auf sein geistloses Gesicht trat der Ausdruck kindlichen Schreckens. »Gestorben?« fragte er.
»Ja, ich frage, ob er gestorben ist. Er macht nicht mehr auf. Habt Ihr Petru gesehen?«
»Ich habe niemand gesehen,« sagte der Bettler und bekreuzte sich mit einer schwarzen Medaille, die er auf der Brust trug. »Sant Elia und San Francesco stehen ihm bei! … Man muß also den Priester rufen.«
Margherita eilte erschrocken davon, und ihre dunkle Gestalt verschwand bald am Ende der sonnenhellen Gasse. Das Wetter war schön und mild, und der Doktor im Begriff auf die Jagd zu gehen; kaum aber hatte er die von der Magd gebrachte Nachricht vernommen, so eilte er zu Giorgio. Er mußte erst mit dem Gewehrkolben an die Tür schlagen, ehe Petru sie einen Spalt weit auf tat: drinnen hatte er drei große Steine davorgeschoben.
Mit großen, bangen Augen sah Giorgio nach der Tür und erblickte durch das offengebliebene Pförtchen auf einen Augenblick das sonnige Landschaftsbild.
»Na, was ist denn? Du bist also nicht tot?«
»Es kamen so viele Leute,« sagte der Kranke schüchtern. »Alle wollten mir Almosen reichen und hier eindringen, wie sie tun, wenn einer gefallen ist … Auch Zia Giuseppa Fiore ist wieder gekommen und hat mich gequält. Darum haben wir die Tür zugemacht. Ich will nichts und ich will niemand sehen als Sie, Doktor!«
»Aber, du Unglücksmensch, wenn sie dich doch ausspionieren wollen, dann müssen sie schon herkommen …«
»Der Weg ist beschwerlich: erst hinunter und dann wieder hinauf …«
Der Doktor lachte.
»Und du glaubst, das brächte Giuseppa Fiore nicht fertig? Wer könnte die hindern? Und die andern ebenso …«
»Aber sie brauchen nicht jeden Augenblick zu kommen … Ich muß meine Ruhe haben, das wissen Sie … Also sagen Sie das allen und schicken auch Sie mir nichts mehr … Wenn ich allein bin und die Tür zu ist, dann bilde ich mir ein, ich wäre ein Eremit …«
Dieses Geständnis gab dem Doktor Gelegenheit, seine Lieblingstheorie zu wiederholen: »Darin gebe ich dir nicht unrecht. Dein Instinkt zeigt wieder einmal, daß der Mensch naturgemäß leben soll, auch wenn er krank ist, ja dann erst recht. Kranke Tiere verkriechen sich und erwarten, daß die Genesung sich von selbst vollzieht, ohne andere Beihilfe als die der Natur. Und meist erfolgt auch der Tod bei den Tieren aus natürlichen Ursachen, das Alter und dergleichen; das heißt, wenn das Tier nicht vom Menschen verfolgt, verunstaltet, getötet wird. Und was ist schließlich die Todesfurcht beim Menschen? Die Gewißheit, vorzeitig und nach langen Qualen an Krankheit zu sterben. Stürbe auch der Mensch eines natürlichen Todes, das heißt schmerzlos, eines Todes, der so sanft einträte wie der Schlaf des Gesunden – was allerdings nicht der Fall sein kann, weil unser Organismus unvollkommen ist – nun, so würde die Furcht vor dem Tode verschwinden.«
Doch Giorgio gewann daraus keinen Trost.
»Zeige mir deine Zunge!« schrie der Doktor, sich über das Bett beugend.
Die Zunge war gelb und rissig. Er schrieb ein Rezept und reichte es Petru.
»Maikäfer, marsch!«
Während der Knabe forteilte, setzte der Doktor sich auf den Schemel und streckte die Beine aus.
»Ja, ja, du hast recht, teuerster Jorgeddu! Gestern war ich im Holz, da oben auf der Hochebene: die Sonne schien hell, und die Felsen waren heiß. Da legte ich mich hin und lag beinahe zwei Stunden lang still wie ein Kind, das heißt wie ein glückliches Tierchen. Der Himmel war dunkelblau, die Schnepfen streichen über meinen Kopf hin, aber ich dachte bei mir: ich pfeife auf euch. Ja, wie ein dummes Kind in seiner Wiege den Vögeln und den Wolken zulächelt, so sah ich ihnen lachend zu, wie sie über mich hinstrichen. Und ich sagte mir wieder: Ja, der Mensch ist geboren, um allein zu leben; die Einsiedler, die als große Egoisten gelten, waren vielmehr Menschen, die ihrer ursprünglichen animalischen Vollkommenheit noch nahestanden. Sie folgten ihrem Instinkt, der uns nie trügt. Als Knabe sann ich darauf, wie ich den Hunden die Beine geraderichten könnte; und der Aberglaube, die Unwissenheit, die Trägheit erschienen mir als die drei krummen Beine des Tieres Mensch, und das vierte, die List, deren direkte Ursache der Erhaltungstrieb ist, das deuchte mir noch das einzige gerade … Sage mir, was Giuseppa Fiore von dir will …«
»Daß ich die da wegen Verleumdung verklagen soll. Sie macht sich anheischig, Zeugen beizubringen und … zu bezahlen. Sie bietet mir ihre Fürsprache bei dem Kommissar an, um mir eine Unterstützung zu verschaffen … Sie will mich in die Hölle bringen, während der Priester meine Seele mit Gewalt erretten will. Er sagt, er würde dafür sorgen, daß der Bischof selbst hier heraufkäme, mich zu bekehren …«
Der Doktor wies mit dem Stock auf das Pförtchen in der Mauer.
»Du hast gut daran getan, das da aufzusperren! Sehr gut hast du daran getan! Ich erlaube dir eine Flasche Wein von Oliena zu trinken, ich selbst werde dir eine schicken.«
»Nein, nein, schicken Sie mir nichts mehr …«
»Still, du Unglücksmensch! Warum willst du nichts? Aus Stolz? Hast du das Recht, stolz zu sein?«
Giorgio glaubte, der Doktor spiele auf sein trauriges Schicksal an, und über seine Augen zog ein Schatten. Aber seine Lippen blieben geschlossen: er sprach nie über das Vergangene, obwohl er überzeugt war, daß auch der Doktor ihn für schuldig hielt.
Da trat Petru ein mit der Medizin und der Nachricht, der Kommissar sei eingetroffen. Er kannte bereits Leben und Taten des Neuangekommenen und beschrieb ihn ganz genau: »Er ist so lang und so schwarz wie das Kreuz Christi; auf dem Kopf ist er so kahl wie Zio Uemundu, aber rund herum hat er einen Kranz von Haaren und einen großen, schwarzen Schnurrbart, und meine Mutter hat gehört, wie sie sagten, den färbe er sich gewiß, wie sie das auf dem Festland tun – ich denke mir mit Ofenruß in Öl … Und er hatte einen langen Überrock an mit einem Pelzkragen wie Euer Gnaden, nur neuer … und Stiefel mit Knöpfen … Sie sagen, er wäre sehr reich und würde sechs Monate hierbleiben, und das kostete der Gemeinde vierhundert Skudi.«
»Da geschieht euch recht,« sagte der Doktor zu Petru gewandt, »ganz recht! Er ist die Züchtigung, die Gott euch schickt, und das werdet ihr gewahrwerden. Ich meinerseits wasche mir die Hände; ich habe nie eine Stimme von euch verlangt und würde mich geschämt haben, einem Gemeinderat wie dem euren anzugehören. Aber nun kommt die Strafe, und euch geschieht ganz recht, ganz recht!«
Petru hob den Deckel der Truhe, hielt ihn mit dem Kopf in die Höhe und zählte das Geld seines Herrn, das ihn viel mehr interessierte als das Geld der Gemeinde. Dann holte er eine kleine, frischgewaschene Serviette hervor und reichte sie dem Kranken, der selbst schon die Medizin aus der Flasche in ein Glas gegossen und mit äußerstem Widerwillen hinuntergeschluckt hatte.
»Dio mio, Dio mio!« murmelte Giorgio und wischte sich den Mund. »Nein, wirklich lieber sterben!«
Als der Doktor gegangen war, sagte Petru: »Ziu Jo, in der Apotheke sagten sie, der Kommissar würde Euch eine Unterstützung verschaffen …«
»Ich will nichts!« rief Giorgio. »Du sollst allen sagen, daß ich nichts nötig habe.«
»Für jetzt! Wir haben noch zwei große Scheine und fünfundvierzig Kupfersoldi; wir haben Brot, Käse, Eier und eine Wurst … Aber nachher … was sollen wir nachher anfangen?«
»Nun, ich werde das Haus verkaufen. Der Doktor kauft es gleich, um einen Heuschober daraus zu machen.«
»Und wenn das Geld auf ist?«
»Muß ich denn nicht sterben? Also laß mich in Frieden, sonst jage ich dich fort wie die andern.«
Darüber lachte der Knabe.
»Petru,« sagte sein Herr nach einer Weile, »wenn du mir ein wenig getrocknete Trauben kauftest? Solange schon verlangt mich danach.«
»Bei Zio Remundu Corbu haben sie welche zu verkaufen; sie sind so groß und schön wie frische.«
»Du wirst nicht in jenes Haus gehen! Wehe dir, wenn du hingehst! Ich würde dir noch nach meinem Tode fluchen!«
Petru, der seinen lebenden Herrn nicht fürchtete, schauderte vor Entsetzen. Er näherte sich dem Bett und sagte flehend: »Nein, nein, Zio mio, tut das doch nicht! Ich will dem Hause den Rücken kehren, wenn ich vorüberkomme. Ich sehe nie hin! Heute stand Columba an der Türe, sie hatte ein neues Kleid an und ein Mieder aus Sammet; wer weiß, vielleicht sollte der Bräutigam kommen … Aber ich habe nicht hingesehen, das schwöre ich Euch auf mein Gewissen …«
»Wie sah sie aus? War sie mager? War sie blaß?« fragte Jorgi leise.
»Ja, sie war so mager wie eine dürre Ziege; und sie hatte so viele silberne Ringe an den Fingern …«
»Hat sie dir nichts gesagt?«
»Nichts.«
»Wenn sie dir etwas gesagt hat, so sag' es nur, ich werde dich nicht schelten.«
»Nein, ich schwöre Euch, nichts, nur angesehen hat sie mich. Möchtet Ihr gern, daß sie mir etwas sagte?«
»Nein! Du sollst nicht zu ihr gehen, Petru! Hüte dich wohl, ich würde es doch erfahren.«
Wiederum lächelte der Knabe schlau, und Giorgio fügte hinzu: »Ich höre alles, auch was sie auf dem Platze, auch was sie in den Häusern sagen. Der Wind trägt mir die Neuigkeiten aus dem ganzen Dorfe zu, und ich könnte dir erzählen, was du nicht einmal weißt …«
»Dann seid Ihr ein Zauberer; aber ich habe keine Angst vor Euch: ecco!« Und Petru zog eine alte Medaille hervor, die seine Mutter ihm umgehängt, um ihn gegen Zauberei zu schützen, und die er immer auf der Brust trug.
Unter solch kindlichem Geplauder ging der Tag hin. Am Nachmittag fühlte der Kranke sich schon wohler, durch die Medizin und weil niemand an seine Tür geklopft hatte. Nachdem er, wie gewohnt, eine Weile geschlummert hatte, nahm er wieder sein Büchlein zur Hand und las. Dann ward er plötzlich nachdenklich. Er hieß Petru ein Taschenbuch hervorsuchen, das auf dem Boden der Truhe lag, riß einige schon beschriebene Blätter heraus und durchblätterte sinnend die vielen weißen Blätter.
Da er seinen Herrn so ruhig sah, ging Petru seiner Wege und kam erst gegen Sonnenuntergang wieder.
Den Kopf tief in das Kissen gedrückt, schrieb Giorgio in das Taschenbuch, und der Knabe wunderte sich, ihn in einer so ungewohnten Stellung zu finden. »Liegt Ihr so nicht schlecht?« fragte er. »Wird euch nicht schwindlig? Zio Jò, was macht Ihr?«
Doch der Kranke, der sich das Tintenfaß aufs Bett gestellt hatte, antwortete nicht; er schien ganz vertieft in seine Schreiberei.
Da klopfte es an die Tür, und gespannt blickte er auf. Er fühlte, wie sein Herz schlug: es war ihm, als müsse Petru, nachdem er durch die Ritzen geschaut, endlich einmal flüstern: Es ist Columba!
»Es ist die schwarze Teufelin, die Magd des Doktors,« murmelte er statt dessen, sich auf den Zehen an das Bett schleichend. »Sie hat eine Flasche …«
»Tu' nicht auf, nein!«
Die Magd klopfte nochmals, dann ging sie. Später hörten sie Schritte im Hofe, Petru spähte wieder hinaus und erkannte den Bettler. Und noch einmal pochte es an die Tür: sie blieb geschlossen.
Gegen Abend bedeckte der Himmel sich mit Wolken, und im Tal pfiff und heulte der Wind. Es war wirklich, als erzähle er Geschichten und Sagen: bald erklang seine Stimme fern und flehend, einer unerhörten Bitte gleich; als eine Stimme, die eine traurige Geschichte erzählte, Mitleid, Beistand, Trost heischend. Niemand hörte auf sie, und so kam sie näher, wurde dreist, wiederholte dieselbe Geschichte in energischerem Ton, Gerechtigkeit fordernd: doch niemand antwortete, während die Dämmerung bläulich-grüne fahle Schleier über das geheimnisvolle Landschaftsbild breitete. Dann verstummte die Stimme auf einen Augenblick, wie in tiefer Bestürzung, daß es auf der Welt weder Gerechtigkeit noch Mitleid mehr gebe; doch nach dem momentanen Verstummen erklang ein grollendes, drohendes Geheul, auf das langgezogenes Rachegeschrei, teuflisches Pfeifen, wildes Lachen folgte. Der erst schüchterne, dann dreiste Geist war nunmehr machtvoll und voll wilden Grimmes und nahm Rache an der gegen seinen Schmerz unempfindlichen Natur: er brachte alles in Verwirrung, er peitschte die Felsen, den Buschwald, selbst den geringsten, unschuldigsten Grashalm; er riß in seinem Zorn alles mit sich fort, und es war, als flöhen die schwarzen, wie riesige Schläuche geschwellten Wolken, von dem Zorn des Windes erschreckt, an dem grünlichen Abendhimmel hin, um sich hinter der Waldung auf der Hochebene zu entladen.
Giorgio lauschte und empfand unendliche Trauer. Mitunter war es ihm, als rede seine Seele mit der Stimme des Windes, und dann wieder, als wäre sein armer, kraftloser Körper das vom Nordwind getroffene bescheidene Gestein.
»Du kannst jetzt gehen,« sagte er zu dem Knaben, als das Tageslicht erlosch. »Geh über den Hof.«
Doch trotz seiner abergläubischen Furcht zog Petru den Weg über den Abhang vor. Eine Anwandlung von Tapferkeit, das Verlangen nach unbekannten und furchtbaren Dingen trieben ihn an, im Dunkeln den unsicheren Pfad zu gehen. Er öffnete die der Hoftür gegenüber befindliche kleine Tür und verschwand, sie hinter sich zuziehend, als hätten Wind und Finsternis ihn verschlungen.
Und wieder war Jorgi allein in seiner Gruft eines Lebenden, allein mit den Gebilden seiner Phantasie. Im Halbschlummer meinte er, er wäre aufgestanden, hätte die Truhe geöffnet und das Geld gezählt, das letzte, das ihm vom Verkauf eines ihm gehörenden Stückleins Acker geblieben war. Die »großen Scheine« waren zwei Zehnlirescheine. Und nachher? Der Hungertod oder Almosen. Aber er wollte nicht sterben: seine ganze Seele lehnte sich gegen diese Vorstellung auf; und er meinte zu sein wie die Natur um diese Jahreszeit: erstarrt vor Kälte, vom Unwetter heimgesucht, aber bereit zu erwachen beim ersten Hauch des Frühlings.
Nein, er wollte nicht sterben: selbst der Schmerz war ihm willkommen, weil er ihm noch ein Lebensgefühl verlieh. Der Zorn, den die neugierigen Menschen ihm verursachten, der Totengesang der Stiefmutter, die beißenden Worte des Doktors, die Vision Columbas an ihrer Tür, die Erinnerung: das alles war ein Anzeichen von Leben, ein fernes Licht, das noch in den dunkeln Abgrund hineinschien, in dem er mit gebrochenen Gliedern lag wie einer, der aus der Höhe abgestürzt ist.
In den folgenden Tagen klopfte es mitunter noch an die Hoftür.
»Es ist die Magd des Priesters,« berichtete dann Petru ganz leise, nachdem er wie gewohnt hinausgespäht; oder auch: »Es ist Zia Giuseppa Fiore, es ist Margherita mit einem Paket unter dem Rock.«
»Tu‹ nicht auf!«
Und die Besucher gingen und kamen nicht wieder.
Petru erzählte indes: »Hört, Zio Jò, bei Dionisio Farranca haben sie gestern gesagt, der Doktor hätte Euch die Tür schließen lassen, weil Ihr eine ansteckende Krankheit hättet. Sie sagten: Gott straft ihn gerechterweise, den hoffärtigen Menschen, und zu meiner Mutter sagten sie: Warum läßt du deinen Sohn da hingehen? Aber meine Mutter hat ihnen geantwortet: Bis jetzt ist mein Petru gesund geblieben, und die sieben Lire, die Jorgeddu ihm jeden Monat gibt, sind für mich wie sieben Unzen Gold …«
Auch der Doktor ließ sich seltener sehen, seit er bemerkt, daß der Kranke weder schlimmer noch besser wurde.
Und wieder eines Tages erzählte Petru: »Meine Mutter hat bei Zia Giuseppa Fiore das Brot eingeschoben, und da sagten sie, der Kommissar würde Euch besuchen. Aber er geht immer mit dem Priester, und der wird ihm wohl sagen, er solle nicht kommen, weil Ihr ihn fortjagen würdet wie die andern …«
In der Tat ließ der Kommissar sich nicht sehen. Der Kranke gewöhnte sich allmählich an seine Einsamkeit und wartete nicht mehr darauf, daß jemand leise an seine Tür klopfen und Petru flüstern würde: Es ist Columba!
Sie würde nie mehr kommen! Aber er wollte nicht sterben wie ein unschuldig Verurteilter, die schwere Bürde der Verleumdung mit sich ins Grab nehmend. Alle Tage fand Petru ihn dabei, wie er in sein Taschenbuch schrieb, und fragte ihn, ob er seine Beichte niederschriebe.
»Die ist aber lang! Ihr müßt viele Sünden haben, Zio Jò! Schreibt Ihr die nun alle auf, eine nach der andern? Lest mir ein Stückchen von Eurer Beichte vor! Ich schwöre Euch auf mein Gewissen, ich sag's niemand wieder …«
Zu Anfang April war der Himmel endlich wieder heiter geworden. Petru kam vergnügt den schmalen Pfad über den Abhang heraufgesprungen und brachte Jorgi zwei frische, duftende Veilchen. Ein Zittern ging durch die mageren Hände des armen Studenten: er führte die Veilchen an die Lippen und schloß die Augen, und seine Tränen netzten die kleinen Blumenblätter, die für ihn den Frühling, die Poesie, alle schönen Dinge des Lebens bedeuteten, die ihm nicht mehr gehörten.
Petru betrachtete ihn mit Verwunderung. »Zio Jò, was habt Ihr? Ist Euch schlecht?«
Mit einemmal aber ward auch der Kranke wieder fröhlich. »Höre, Petru, ich will dir meine Sünden vorlesen. Und wenn ich tot bin, dann bringst du dieses Büchlein dem Pfarrer …«
»Aber wenn Ihr sterbt, dann wird er doch kommen und Euch die mündliche Beichte abnehmen …«
»Er hat gesagt, er käme nicht wieder, wenn ich ihn nicht riefe; und ich werde ihn nicht rufen …«
Petru trug den kleinen Kochherd an die Tür und fing an, das Mittagbrot zu bereiten. Vom Berghang drüben drang der Duft des Thymians herein, und durch die tiefe Stille im Tal zitterte dann und wann der Schrei eines Vogels.
Jorgi zog das Taschenbuch unter seinem Kissen hervor und blätterte darin. Er wußte selbst nicht, für wen er diese Seiten niedergeschrieben, aber er war zufrieden, daß er es getan, und fühlte sich erleichtert wie einer, der wirklich seine Beichte abgelegt hat.