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VIII

Andern Morgens in der Frühe mußte ich fort, ohne Columba noch einmal zu sehen, und Wochen und wochenlang lebte ich in einer Art Trunkenheit dahin, in einer Verzückung, so süß und tief wie ein Traum.

Im Sommer kehrte ich nach Hause zurück, und heimlich liebten wir einander.

Seit ihrer Verheiratung bewohnte Banna den von den übrigen Räumen vollständig getrennten rechten Flügel des Hauses. Häufig ging die Magd zu ihr hinüber zur Arbeit, und war auch der Alte abwesend, so war Columba ganz allein und stand nicht an, mich zu empfangen.

Ganze Nächte verbrachten wir miteinander, wenn der Großvater in der Schäferei blieb und die Magd bei Banna das Brot bereitete.

Auch im Innern ist das Haus geheimnisvoll; mit seinen Korridoren, den engen Durchgängen, den Galerien und den Gelassen zum Aufbewahren von Hab und Gut sieht es aus wie ein Bau aus dem Mittelalter.

Einmal zeigte Columba mir einen geheimen Winkel und sagte: »Hier hat sich mein Großvater einmal sieben Tage verborgen gehalten, während das Haus voller Soldaten war, die ihn suchten und auf ihn warteten, weil sie glaubten, er würde aus dem Walde zurückkehren. Da er nicht kam, gingen sie endlich. Als er noch Bandit war, hätte er sich die ganze Zeit über hier verbergen können, aber er wollte im Freien sein. Auch jetzt noch sagt er, wenn er ein paar Tage zu Hause bleibt, meine er zu ersticken.«

Ich liebte es, mit dem Mädchen in den niedrigen, kahlen Zimmern umherzugehen, mit ihr auf die Galerie zu treten, wo ich sie zum erstenmal geküßt hatte. Klopfte es einmal an die Haustür, so erbebten wir beide und drängten uns aneinander, als drohe uns eine schreckliche Gefahr. So wohnte auch unserer Liebe ein wenig Romantik bei.

Und eines Abends wurde das Pochen an der Tür beharrlich, heftig. Columba öffnete das Fenster, und ich vernahm die Stimme Bannas, die ihr gebot, zu öffnen. Ich wollte über die Hofmauer springen, aber dort stand Bannas Gatte, die Büchse in der Hand, als erwarte er einen Dieb.

Ich trat wieder ein, wir öffneten, und Banna stürzte herein und griff nach den Haaren der Schwester. Ich verteidigte Columba, die sich verwirrt zurückzog. Mit unterdrückter Stimme, damit die Nachbarn nicht aufmerksam würden, stieß Banna die giftigsten Schmähungen gegen uns aus. Columba schwieg. Sie ist eine verschlossene und schwache Natur und liebt Zank und Streit nicht, besitzt jedoch eine ungewöhnliche Willenskraft, ihren Zorn zu beherrschen und niemals ihr geheimstes Denken zu verraten. Auf die Fragen und Beleidigungen Bannas antwortete ich allein, und der Auftritt war tragisch und komisch zugleich, da auch Bannas Mann mit der Büchse hereingekommen war und mich bisweilen so wild ansah, als sei er bereit, die Ehre der Familie zu rächen, bisweilen lachte und der armen Columba drohte. Schließlich war er es, der einen Vergleich vorschlug.

»Frau, hörst du nicht, daß er bereit ist, um sie anzuhalten? Warum also bist du so wild wie ein Eber? Wenn er den Doktor macht, werden sie heiraten und wir einen Notar zum Schwager bekommen.«

Doch Banna lachte aus vollem Halse und sagte, auf die Schwester deutend, geringschätzig: »Sie ist dafür geschaffen, einen Hirten zu heiraten. Und der Großvater mag von den Hungerleidern von Beamten nichts wissen und wird dich abweisen, Jorgi Nieddu. Nimm dir eine aus der Stadt und geh' fort von hier und danke deinem Schöpfer, wenn wir es nicht dem Großvater sagen: hätte er euch hier überrascht, so hätte er euch die Köpfe eingeschlagen. Und jetzt mach', daß du fortkommst!«

Nach diesem Vorfall beschloß ich, von dem Alten Columbas Hand zu verlangen. Da er sehr auf die Bräuche des Dorfes hielt, ging mein Vater an einem Sonntagmorgen zum Nachbar hinüber, setzte sich an seinen Herd und fragte: »Remundu Corbu, ich habe ein Lamm verloren, das die Zierde meiner Herde war. Es war weiß und hatte gelocktes Haar, so weich wie der erste Schnee. Du, der du immer draußen bist, hast du es vielleicht gesehen? Ist es vielleicht zufällig unter deine Herde geraten?«

»Remundu Nieddu, in meiner Herde sind so viele Lämmer, eines schöner als das andere: es ist ja möglich, daß das deine darunter ist; du müßtest hingehen und nachsehen.«

Und so ging es weiter, bis Columba eintrat. Da sprang mein Vater auf und klatschte in die Hände.

»Wahrhaftig, da ist das Lamm, das ich suchte!«

Doch bevor er eine bestimmte Antwort gab, forderte der Alte eine siebentägige Bedenkzeit. Und diese Woche hindurch wurde Columba eingeschlossen, und ich sah sie nur mitunter durch das Fenstergitter wie eine Gefangene. Meine Stiefmutter horchte an des Nachbars Tür und sagte mir, Banna stritte fortwährend mit dem Großvater, sie verlangte, daß der Antrag mit Verachtung zurückgewiesen würde, während der Alte mich spöttisch rühmte und immer nur den »Notar« nannte oder auch »su cusino miau«, den Städter in Strümpfen.

Die alte Magd, die man beinahe fortgejagt hätte, weil sie von unsern Zusammenkünften nichts bemerkt, schwatzte zu meiner Stiefmutter: »Jorgeddu wird angenommen, daran braucht Ihr gar nicht zu zweifeln; und für die Zukunft wird unser Herr sorgen.«

Und in der Tat wurde ich offiziell als Columbas Verlobter in die Familie aufgenommen. Und wieder wurden Geschenke gebracht, nun aber kam die Alte im Namen des Großvaters, und jedesmal gab ich ihr eine Silbermünze, was bei ihr emphatische Danksagungen veranlaßte – sie mir aber im übrigen um nichts geneigter machte.

Nun wachte sie unausgesetzt, und es gelang mir nicht, Columba noch einmal allein zu sehen. Jeden Abend machte ich meiner Verlobten einen Besuch, aber immer war der Großvater zugegen, und seine Anwesenheit verursachte mir stets ein Gefühl von Zwang und Kälte.

Zwischen ihm und mir entstand etwas Verhängnisvolles, etwas das uns gegenseitig hinderte, einander zu verstehen und zu lieben. Er war intelligent und kam niemand gegenüber aus der Fassung; von Kind an hatte ich seine Persönlichkeit bewundert, seine Redeweise, die Kraft und die Schlauheit, die aus seinem Blick, aus seinen Bewegungen sprachen, und seinen unerschütterlichen und unverhohlenen Willen, nach seiner Weise zu leben. Jetzt nahm meine Bewunderung von Tag zu Tag ab und machte zuerst einem unbestimmten Empfinden von Unterordnung Platz, dann einem Gefühl von Abneigung, von Widerwillen. Anfänglich glaubte ich, es handle sich nur um den ewigen Konflikt zwischen Generation und Generation. Er war kalt, hatte ein beinahe wildes Leben gelebt; ich war fast noch ein Kind und pflegte jede Gelegenheit zu ergreifen, gegen die primitiven Bräuche und Anschauungen im Dorfe zu eifern und Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Friede unter den Menschen zu predigen.

Der Großvater behandelte mich mit Ironie; er schien mich für einen schwachen und verdorbenen Burschen zu halten und fand mitunter Gefallen daran, mich in Columbas Gegenwart zu verspotten.

Häufig sagte er: »Solange du nicht die Gewohnheit ablegst, Strümpfe zu tragen, bist du kein Mann. Trugen dein Großvater und dein Vater vielleicht Strümpfe?«

Legte Columba sich ins Mittel, so verspottete er auch sie.

Vor der Tür sitzend und auf seinen Stock aus Olivenholz gestützt, der so dick und so blank war wie eine Säule, erzählte er seine Geschichten und machte jeden Augenblick einen spöttischen Ausfall gegen Columba oder gegen mich.

»Du Vogel in Strümpfen, das hättest du nicht getan! Du willst lieber dein Bett durchwaten als das eines ausgetretenen Flusses.«

Die Frauen von damals kannten keine Furcht. Sie waren nicht wie unser Lämmchen, das in Ohnmacht fällt, wenn eine Maus durch den Portikus läuft.

Dann lachten die Frauen und ganz besonders meine Stiefmutter; sie, die mir den Gedanken eingegeben hatte Columba zu heiraten, schien jetzt, da ich angenommen worden, darüber ärgerlich zu sein, und zwischen ihr, Banna und den übrigen Nachbarinnen gab es beständig Schwatzereien über uns beide.

Im Oktober reiste ich wieder ab, mußte jedoch nach wenigen Tagen zurückkehren, weil ein bösartiges Geschwür das Leben meines Vaters bedrohte.

Statt sogleich den Doktor zu rufen, hatte meine Stiefmutter sich an Martina Appedu, die Dorfärztin, gewandt, und als ich ankam, war mein Vater schon tot. Lang ausgestreckt lag er auf Matten und Säcken am Boden, das bläuliche Gesicht der Tür zugekehrt; und während ein ganzer Kreis von schwarzgekleideten Frauen, unter denen sich auch Columba und Banna befanden, heulten wie die Hexen, schlug meine Stiefmutter mit gelösten, mit Asche bedeckten Haaren den Kopf gegen die Wände, warf sich auf die Erde und schrie wie eine Besessene. Nie werde ich den entsetzlichen Vorgang vergessen! Ich saß Stunden und Stunden lang wie versteinert in einem Winkel, blickte auf meinen toten Vater und auf die Klageweiber. Ich hätte sie alle hinaustreiben mögen, aber ich wagte es nicht: jenes bläuliche Gesicht, das vor Schmerz oder vor Spott zu grinsen schien, legte mir Rücksicht auf. Und zudem kam mir jene wirre, sinnlose Totenklage mitunter wie die Stimme meines eigenen Herzens vor. Ich schwieg – doch auch in mir schrie alles. Ich hatte meinen Vater lieb gehabt, aber ich litt nicht um seinen Tod allein, ich litt um der Geistesträgheit und des abergläubischen Wesens willen, um der Verlassenheit willen, in der Volk meines Stammes dahinlebt, um alles das, was noch Barbarisches an ihm ist.

Als der Tote fortgebracht wurde, rüttelte ich mich auf. Die Totenklage aber dauerte fort: von meiner Stiefmutter beauftragt, hatte Banna die gewerbsmäßigen Klageweiber bestellt und ihnen als Lohn ein Maß Korn und ein Pfund Käse versprochen; und die Witwe schlug nun die Stirn gegen das Lager, von dem man die Leiche fortgetragen.

Ich stand auf und sagte: »Jetzt ist es genug; es ist alles vorbei.«

Aber dem Brauche gemäß mußte die Totenklage bis zu vorgerückter Nacht währen, und von Zeit zu Zeit erhob meine Mutter sich, trat an die Tür und sagte, sie höre die Schritte ihres Mannes, der aus der Schäferei heimkomme. Dann rief sie ihn laut bei Namen. Sie war wie wahnsinnig, und auch ich spürte einen irren Schauder. Wohl hatte ich schon früher Totenklagen beigewohnt: des heftigen Charakters meiner Stiefmutter wegen hatte ich aber vor dieser nicht ihresgleichen gesehen.

Ein zweitesmal stand ich auf und sagte mit Nachdruck: »Frauen, jetzt ist es genug! Geht, sonst jage ich euch mit Gewalt hinaus!«

Die erste, die verstummte, war Columba, und allmählich schwiegen auch die übrigen; einige standen auf, und der schwarze Kreis löste sich auf.

Nur meine Stiefmutter setzte ihr Geheul fort, und aus ihrem Schreien klang nicht mehr der Schmerz um den Toten, sondern der Haß gegen den Lebenden.

* * *

Zio Remundu ließ mich rufen. Er saß vor dem Herd, in einer Wolke von Rauch, nicht mehr ruhig und spöttisch, sondern wie ein zürnender Gott, und seine grünen Augen funkelten. Ihm zu Füßen, auf dem Herdstein, kauerte Banna gleich dem Engel, der die menschlichen Sünden vor das Forum der göttlichen Gerechtigkeit bringt.

»Also, Jorgi Nieddu, warum hast du das getan?«

»Was habe ich getan, Zio Remù?«

»Das fragst du noch? Du hast die Frauen, die deinen Vater beweinten, von deinem Herd verjagt! Das bringst nur du fertig, gleich dem Eber im wilden Wald deinesgleichen zu vertreiben!«

Ich suchte mich zu entschuldigen, dem Alten meinen Widerwillen gegen solchen barbarischen Brauch begreiflich zu machen. Doch das war, als hätte ich mit der Hand gegen einen Felsen geschlagen, in der Hoffnung ihn zu zertrümmern.

Der Alte wurde wieder ironisch: »Ach, du möchtest wohl uns allen Strümpfe anziehen? Laß ab davon, laß den Dingen ihren Lauf, und wenn du nicht unter uns leben magst, so zieh in die Stadt, dort wirst du Leute finden wie du.«

»Aber die Frauen, die ich hinausgejagt, waren gedungen. Sie bekamen so und so viel für jeden Schrei.«

»Und wenn du einmal Advokat bist, wirst du dich nicht bezahlen lassen für dein Schreien? Werden sie dich dann auch aus dem Gerichtssaal hinausjagen?«

Eine dumpfe Gereiztheit erfaßte mich. Ich fragte den Alten, ob er sich über mich lustig mache, und er stand auf und hob den Stock. Fest, trat ich vor ihn bin und sagte: »Schlagt mich immerhin, nur begreift, was Ihr sagt und tut!«

Columba, die bis dahin in einer Ecke gestanden und den Großvater und mich mit erschrockenem Blick betrachtet hatte, warf sich weinend zwischen uns. Der Alte senkte den Stock und sah uns beide mit Verachtung an.

»Ich habe nie ein Wort gesprochen, ohne es siebenmal zu bedenken!« schrie er, indem er seinen Platz wieder einnahm. »Wäre es mit euch Einfaltspinseln nur ebenso!«

Um keinen weiteren Wortwechsel aufkommen zu lassen, ging ich nach dem Begräbnis meines Vaters sogleich wieder fort und überließ es meiner Stiefmutter, seinen Nachlaß zu regeln. Sie bezog ein anderes Häuschen, behielt sich aber das Eigentumsrecht am oberen Stockwerk dieser armseligen Behausung vor, die ich bei meiner Wiederkehr bereits im trostlosesten Zustande und völlig leer antraf. Doch ich belebte sie mit meiner Jugend und meinen Träumen.

Obwohl ich noch als der Verlobte Columbas betrachtet wurde, blieb das Verhältnis zu dem Alten ein gespanntes. Wir waren verschiedene Welten, die beständig aufeinanderplatzten. Er war die Vergangenheit, ich hielt mich für die Zukunft, und Columba ging von einem zum andern, gleich einem Planeten schwankend zwischen zwei Gestirnen, deren Anziehungskraft gleich stark und gewaltig war.

Doch mit der Zeit gewahrte ich etwas sehr Trauriges. Der Haß des Großvaters gegen mich war nicht der der Vergangenheit gegen die Gegenwart, das war noch immer die alte Feindschaft, der alte Familienhaß. Für den Alten blieb ich immer ein Verwandter Junassiu Arras', den ich übrigens seit der denkwürdigen Friedensfeier nie wiedergesehen hatte.

Und aus Mitleid liebte ich Columba nun noch mehr als zuvor: ich wollte sie der Welt entrücken, in der sie lebte, und meinte, wenn ich sie von dem sie umgebenden Aberglauben und Elend befreien könnte, dann hätte ich damit den Anfang gemacht, die ganze Bevölkerung zu befreien.

Um nun meine Studien fortsetzen zu können – das Gymnasium hatte ich bereits hinter mir – verkaufte ich meine geringe Habe, und das setzte mich in den Augen der Dorfbewohner herab. Man erzählte sich, ich verausgabte das in der Stadt für Vergnügungen, und jedesmal, wenn ich ins Dorf kam, betrachtete man mich mit vermehrter Neugier und größerem Mißtrauen.

Columba gab mir zu verstehen, daß wegen der geplanten Heirat zwischen ihr und Banna beständiger Kampf herrsche. »Wenn du in der Stadt bist, so sagt meine Schwester jeden Abend: ›Um diese Zeit wird er wohl mit den verteufelten Weibern an den Orten sein, wo man das Geld verzehrt; er wird dir noch die Haube durchbringen und dich allein lassen und sich mit andern Weibern amüsieren.‹ Und dann setze ich mich auf die Türschwelle, blicke nach dem Abendstern, wie die Gefangenen nach ihm blicken, und weine.«

»Also du schenkst den Verleumdungen deiner Schwester Gehör?«

»Nein, nein, mein Herz; aber ich denke mit Recht, daß du ein Advokat, ein Herr sein wirst, und ich immer eine Bäuerin bleibe. Dann wirst du dich meiner schämen.«

Vergebens versuchte ich, sie von dem Einfluß der tückischen Reden der Schwester und des Großvaters freizumachen; sie blieb traurig und mißtrauisch. Ich litt darunter, und wenn ich in jenes Haus ging, empfand ich immer eine Art Beklemmung, gleich als müsse in all den dunkeln Winkeln und Gelassen ein Feind verborgen sein, bereit, mir Böses zuzufügen.

War ich aber in der Stadt, so verspürte ich tiefes Heimweh nach meiner wilden Heimat und kehrte stets mit Freude in diese armselige Hütte zurück.

Im vergangenen Jahr kam ich zu Ostern. Es war ein Aprilnachmittag, und in Nuoro mietete ich ein Pferd und legte den Weg zurück wie ich ihn zum erstenmal mit meinem Vater gemacht. Ich fühlte mich glücklich: mitunter war es mir, als sei ich eins mit der Landschaft, als blühe es auch in meinem Herzen und meine Stirn sei so klar wie der Himmel.

Das Tal war schon mit Gras und Blumen bedeckt, und ein violettes Band von blühender Minze begleitete das silberne des Baches; auf den Felsen wuchs junges Moos, aus jedem Strauch stieg duftender Hauch auf, und der Gesang der Vögel kam mir vor wie ein durch die Stille der Landschaft gedämpfter Freudenschrei.

Ich konnte dem Verlangen nicht widerstehen, einmal abzusteigen und mich ins Gras zu werfen.

Auch das Pferd, dem ich das Zaumzeug abnahm, damit es ein wenig grasen konnte, schüttelte sich, sah nach der untergehenden Sonne und wieherte, wie um den in der Ferne weidenden Fohlen zu verkünden, daß es auch für einen Augenblick frei sei.

Frei! Auch ich war für einen Augenblick frei. Ich zog mir die Schuhe aus und streckte mich ins Gras. Die Sonne sank schon, strahlenlos am silberhellen Himmel; der Wind wehte aus Westen, erst leise, dann stärker, und das Gras wogte, als wollte es davonlaufen, das Gesträuch neigte sich mit leisem Rauschen wie in fröhlichem Spiel.

Ich schaute in die Sonne, wandte mich und blickte nach dem fernen Meer und fühlte mich glücklich.

Jetzt, dachte ich bei mir, beginnt die kirchliche Feier; Columba kleidet sich an, um ihr beizuwohnen. Und es war mir, als sähe ich die halbdunkle Kirche, als röche ich den Weihrauch und hörte die Stimme des Priesters; die Sonne war schon untergegangen und die Nacht brach an … Aber wie war ich nur ins Dorf gekommen? Ich rüttelte mich auf und fand mich noch im Grase liegen, wo ich über dem Träumen eingeschlafen war. Ich sprang auf und sah mich nach meinem Pferde um: es war nicht da; ringsum herrschte tiefe Stille, nur der Fluß rauschte von fern, und der Abendstern glänzte bereits am Himmel wie ein Funke, den die Sonne zurückgelassen.

Ich eilte hierhin und dorthin, kletterte auf die Felsen und entdeckte das Pferd endlich auf einer von Felsgestein gleich einem alten Kastell umschlossenen kleinen Lichtung. Während ich jenes Felsenlabyrinth durchschritt, bemerkte ich einen alten Mann vor einem Feuer, das in einer Höhlung im Gestein brannte, die fast die Form eines Herdes hatte.

Das Bild war hübsch, und ich hielt an, um es zu betrachten. Rot und flackernd stieg die Flamme auf, und der Alte im schwarzen Mantel, die Kapuze über den Kopf gezogen, mit langem, grauem, zweizipfeligem Bart und einen Rosenkranz in den Händen, sah aus wie ein Eremit. Er kam mir bekannt vor, und ich begrüßte ihn: »Zio Junassiu Arras, seid Ihr's?«

Er sah mich mißtrauisch an und fragte, ob ich einer von der Polizei wäre. Doch als ich ihm meinen Namen nannte, schüttelte er verächtlich den Kopf.

»Ach, du bist Jorgi, der Sohn Remundu Nieddus? So sind wir ja Verwandte, aber du wirst dich wohl schämen, es zu gestehen.«

»Warum sollte ich mich schämen?«

»Weil du willig Remundu Corbu zuhörst, wenn er mich einen Feigling nennt. Und du willst seine Enkelin heiraten? Daran tust du gut, sehr gut, denn er hat einen Malune ein Korkgefäß. voller Münzen, der Teufel soll ihn und sein Geld holen! Paß aber auf, mein Junge, den Mann kennst du noch nicht!«

Ich war im Begriff zu erwidern: Doch, ich kenne ihn, hielt es aber für klüger zu schweigen. Doch als der Alte sagte: »Nun, willst du nicht bleiben? Wir haben uns doch nicht erst gestern gesehen!« setzte ich mich auf einen Stein neben ihn, obwohl es schon spät war, und bat ihn, mir etwas aus seinem Leben zu erzählen.

»Ja, was soll ich dir erzählen? Der Fluß rauscht, wenn er hoch ist; hat er kein Wasser mehr, so schweigt er.«

Auf mein Drängen jedoch fing er an, mir das Erlebnis zu erzählen, das den Haß zwischen ihm und Remundu Corbu entfacht hatte:

»Ich habe nie ein Verbrechen begangen; die aber, die ihrer begingen, sitzen ruhig in ihrem Hause; ich habe gelebt wie ein wildes Tier, und das nur, weil ich Gerechtigkeit forderte. Ich war der Verfolgte: warum sollte ich mich in den Käfig sperren lassen, wenn ich so unschuldig war wie die Sonne? Da zog nun eines Tages der Bischof auf einer Stute ins Dorf ein wie Christus in Jerusalem, und ein paar Worte von ihm genügten, daß alle weinten wie die Weiber und Frieden machten. Alle, die draußen umherstreiften, gaben klein bei, spazierten ins Gefängnis oder logen, um nur wieder frei zu sein. Sie waren Feiglinge, lieber Sohn, denn wer ein rechter Mann ist, stirbt lieber, als daß er die Wahrheit entstellt. Auch Remundu Corbu war unter denen, die dem Bischof die Hand küßten und in ihr Haus zurückkehrten. Eines Tages begegnete ich ihm hier herum und warf ihm seine Feigheit vor. Eine Beleidigung zieht die andere nach sich, wie der rollende Stein den, dem er weiter unten begegnet, mit sich reißt. Ich schlug Remundu und spie ihm ins Gesicht; er drohte mich umzubringen – aber der Mann ist feige, weißt du! Er fürchtet sich vor Blut und Ketten, und deshalb brachte er mich nicht um. Aber höre, was er mir tat: er stellte sich, als habe er das Vorgefallene vergessen, und die Jahre gingen hin. Ich dachte an nichts Böses mehr – da ließ er mir eines Tages sagen: Stelle dich dem Gericht; ich werde ein gutes Zeugnis für dich ablegen, und sie werden dich freisprechen: wir alle haben geschworen in Frieden zu leben! Ich aber hatte geschworen, lieber im Walde zu sterben, als Fesseln an meinen Händen zu fühlen. Nun, in einigen Monaten sind es dreißig Jahre, daß ich im Walde lebe: dann werde ich frei sein und das Recht haben, ins Dorf zurückzukehren. Aber das Herz bleibt Herz: ich dachte oft an meine Töchter und schlich mich leise, leise wie ein Wiesel ins Dorf. Die Karabinieri kannten mich nicht, und keiner aus dem Dorfe hätte mich verraten. Nun, Remundu Corbu suchte mich eines Tages draußen auf und forderte mich auf, mit ihm spazieren zu gehen; er führte mich, wohin es ihm gefiel, und als wir auf einer Anhöhe standen, drückte er mir die Hand und ging. Er hatte die Rolle des Judas gespielt: zwei Karabinieri stürzten aus dem Gebüsch und auf mich los. Aber meine Beine waren noch flink, lieber Sohn, und ich lief wie ein Hund, ich lief so, daß, als ich dorthin kam, wo niemand mich mehr sehen konnte, und meinen Ranzen abschnallte, ich mein Brot zu Mehl verwandelt fand In einigen Gegenden Sardiniens ist das Brot ein dünner, zweimal gebackener Kuchen, der leicht wieder zerfällt.. Ja, so war ich gelaufen! Aber da beschloß ich Remundu umzubringen, ihn auf dem Platz oder in der Kirche umzubringen, kurz, an einem öffentlichen Ort, ihm zur Schande.

Es war um diese Zeit des Jahres, auch ein Karfreitag. Gegen Abend kam ich ins Dorf und ging in die Kirche, sicher, meinen Feind dort anzutreffen. Es wurden die heiligen Mysterien gefeiert, das Leiden und Sterben unseres Herrn; und die Kirche war so voll, daß ich eine Zeitlang am Eingang stehen mußte, unter den Leuten, die sich drängten, um noch hereinzukommen. Einige Männer erkannten mich, aber sie lächelten und nahmen mich in die Mitte, als wollten sie mich verbergen oder verteidigen, so geachtet war ich, lieber Sohn. Und ich hörte die Stimme Jesu sagen: Cuddu chi mi traichet est chin mecus, der mich verrät ist mitten unter euch; und die Stimme des Judas antwortete: Cheries narrar pro me, amadu Deus? Herr, meinst du mich? Und ich fühlte, wir mir der kalte Schweiß über den Rücken lief. Ich suchte mit den Augen meinen Feind, sah aber nur dunkle und greise Köpfe, und griff in die Tasche nach meinem Messer.

Auf einmal teilte sich die Menge: Jesus wurde von Soldaten fortgetragen, und in der Zwischenzeit bestieg der Priester die Kanzel.

Da konnte ich vordringen und in einem Winkel niederknien, hinter einer Bank, zwischen zwei alten Frauen. Der Priester küßte einen schwarzen, blutenden Christus und weinte und schrie: Herr, mein Gott, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Hier unter deinen Augen, während dein Blut fließt für die Erlösung der Sünder, hier sinnt einer auf Mord und hält das Messer gefaßt, um seinen Bruder zu treffen …

Ich sage dir, lieber Sohn, da bekam ich Angst, ich glaubte, der Priester sähe mich.

Auf einmal kam ein Mann und setzte sich auf die Bank vor mir, und das war er, mein Feind! Ich brauchte nur die Hand aus der Tasche zu ziehen, um mich zu rächen; aber es war, als wäre meine Hand von Eisen: ich konnte sie nicht rühren.

Ich schäme mich nicht, es dir zu sagen, lieber Sohn: ich sah Christus da oben am Kreuz und hörte die Frauen schluchzen, und als der Priester sagte: Christus wird ins Grab gelegt, aber er wird auferstehen; und ihr, Sünder, tut euren Groll von euch, wenn ihr wollt, daß auch eure Seele auferstehe, da weinte ich mit den Frauen. Und Remundu Corbu kehrte sich um und erkannte mich. Er war bestürzt und hatte Angst vor mir, er stand auf und ging eilends hinaus. Und darum sagt er jetzt, ich sei ein Feigling und zu nichts gut, weil ich ihn damals nicht getötet und ihm nichts mehr zuleide getan habe.«

Während er erzählte, schob er immerzu an den Kugeln seines Rosenkranzes und hörte nicht auf, den Kopf hin und her zu wenden, in der instinktmäßigen Gewohnheit, auf das leiseste Geräusch zu achten.

Ich war traurig, mit einemmal war mein Glücksgefühl verschwunden; die Gestalt Zio Remundus erschien mir düster und zweideutig. Ich versuchte ihn zu verteidigen, aber der alte Bandit antwortete nicht; er meinte die Wahrheit gesagt zu haben und wollte keine weitere Erörterung.

Nur als ich mich verabschiedete, sagte er: »Wenn du mir nicht glaubst, um so besser – oder um so schlimmer für dich. Christus ist gestorben und auferstanden, aber nicht alle glauben daran.«

Ich stieg wieder auf und ritt weiter, beim Schein des aus dem Meere aufsteigenden Mondes. Und allmählich zog wieder Ruhe und Frieden in mein Herz, weil ich bedachte, wie die Stimme Jesu, die die Menschen zum Vergeben bewegt, auch heute noch im geheimnisvollen Abgrund des Menschenherzens erklingt. Und immer werde ich des alten Mannes gedenken, solange ich nach dem starren Winter die Erde erblühen sehe, und jedesmal, wenn ich einen Menschen um seine wahre Auferstehung ringen sehe, die nicht nach dem Tode erfolgt, sondern in diesem Leben: die Auferstehung des Guten vom Bösen, die Auferstehung der Liebe vom Haß.

Aber die Begegnung mit dem Alten brachte mir Unglück. Harmlos erzählte ich im Hause Columbas davon, der Großvater lachte verächtlich und sagte: »Nun, der Faulpelz hat Zeit genug, seine Geschichten zu erfinden.«

Columba war noch melancholischer und schweigsamer als sonst, und am Ostertage wollte sie nicht einmal zur Messe gehen. Als Grund dafür gab sie an, die alte Magd sei krank und mache ihr Sorge.

Zu Tisch war an jenem Tage außer dem Großvater und mir ein reicher Hirte aus Tibi von etwa vierzig Jahren. Mit seinem frischen, schön geschnittenen Gesicht, krausem schwarzem Bart und sanften braunen Augen sah er bei Tisch ganz gut aus; stand er aber auf, so erschien er mit einem dicken Oberkörper auf zu kurzen Beinen sofort lächerlich.

Das Mahl war keineswegs fröhlich. Columba bediente uns, und der Gast, der erst seit einigen Monaten Witwer war, sprach nur von seiner verstorbenen Frau, die er auch als Haushälterin zu entbehren schien.

»Jetzt ist mein Haus wie eine allen Winden offenstehende Hütte: jeder Windstoß nimmt etwas mit!«

»Du mußt wieder heiraten, Zuanpedru = Johann Peter. Cannas,« sagte der Alte. »Du bist reich, hast keine Kinder: du kannst jede zur Frau bekommen.«

Der Gast sah den Alten mit seinen sanften, beinahe schüchternen Augen an, antwortete aber nicht.

Am Nachmittag kam Bannas Mann und forderte mich auf, mit ihm einen Spaziergang durchs Dorf zu machen. Er hatte getrunken und war noch lustiger und offenherziger als gewöhnlich.

»Höre, lieber Bruder …« fing er zwei- oder dreimal an, ohne fortzufahren. Endlich, als wir oben auf dem Platze angelangt waren, sagte er: »Er hat keine Kinder und ich auch nicht; aber ich kann noch auf Kinder hoffen, denn meine Frau ist jung und kräftig wie ein Füllen, während er keine Frau hat. Sag', von wem rede ich? Von Zuanpedru Cannas. Er ist reich, weißt du! Er hat ein Korkeichenwäldchen, das ihm so viel einbringt wie eine Pfarre … Er ist reich, ja, aber er hat keine Kinder – wozu nutzt ihm also sein Reichtum? Ein Besitztum ohne Erben ist wie ein Bienenstock ohne Bienen …«

Und so ging es eine ganze Weile weiter; gleichgültig hörte ich ihm zu.

»Er ist jetzt fortgeritten: hast du gesehen, was er für ein Pferd hat? Das ist ein Pferd! … Wie, du hast's gar nicht gesehen?«

Wir standen an der Brüstung des Planes; weiße Wolken zogen am blauen Himmel hin und der Wind pfiff. Mir fiel das Pferd Zio Conzus und mein schrecklicher Unfall ein, und ich träumte vor mich hin.

Da Bannas Gatte bemerkte, daß ich kaum zuhörte, räusperte er sich und fragte: »Hast du gesehen, wie er Columba betrachtete?«

Da fuhr ich zusammen; ich wandte mich zu ihm und sah ihn an, und er beugte sich über die Brüstung, um meinem Blick auszuweichen. Doch ich hatte seinen Gedanken schon erraten, und erraten, was sich in jenem Hause gegen mich anspann. Ich entgegnete kein Wort und schwieg über die Sache Tage und Tage lang, beobachtete Columba und hoffte, sie würde von selbst reden; doch sie schwieg, und wenn ich eine Anspielung machte, so tat sie, als verstände sie mich nicht oder verstand mich wirklich nicht.

Bevor ich wieder abreiste, sagte ich eines Tages zu ihr: »Höre, Columba, ich glaube, deine Verwandten möchten, du vergäßest mich. Sie haben ihre Augen auf eine andere, sicherlich viel bessere Partie geworfen. Du mußt davon wissen: sage mir die Wahrheit! Ich verlange nur, daß du aufrichtig bist, und wenn du es willst, so gebe ich dir dein Wort zurück.«

Erstaunt, fast gekränkt sah sie mich an.

»Niemand kann gegen meinen Willen über mich verfügen! Meine Verwandten haben mir von niemand gesprochen, und niemand hat mich angesehen. Bist du es, der sein Wort zurücknehmen will, so tu's, nur sei aufrichtig!«

Ich freute mich über ihren Stolz und reiste in Ruhe.

Doch als ich im Juli zurückkehrte, sah ich gleich nach meiner Ankunft Columba und Banna vor der Tür; und während diese mir eine ungewohnte Freundlichkeit zeigte, kam es mir vor, als sei Columba trauriger und kälter als je.

Und kaum hatte ich die Tür meiner armseligen Wohnung geöffnet, so bemerkte ich einen Brief, der durch einen Spalt hineingeschoben worden und mich gleichsam auf der Schwelle erwartete. Ich hob ihn auf und öffnete ihn mit Widerstreben: er war ohne Unterschrift und offenbar mit verstellter Hand geschrieben.

»Alle wissen, daß du dich, fern von hier, in der schlechtesten Gesellschaft amüsierst und über Gott und die Religion spottest. Kommst du hierher, so tust du wie der Löwe, der sich ein Schaffell umhängt; aber Gott wird dich strafen! Columba tut gut daran, dich aufzugeben und an einen andern zu denken. Dir bleibt nur noch übrig, das Dorf zu verlassen.«

Um meinen Zorn zu bemeistern, verschloß ich mich in meine Kammer. Wer konnte den Brief geschrieben haben? Ich dachte an Banna: es mochte eine von ihr ausgedachte Art sein, mir den Abschied zu geben.

Erst gegen Abend ging ich aus: über der dunkelblauen Linie der Hochebene neigte sich der neue Mond zum Untergang, und aus dem Tal drang das Geläute der Herdenglocken und das Gezirp der Grillen herauf; die Stimmen der Menschen waren verstummt, und alles ringsum atmete Frieden und Harmonie. Die Milchstraße sah aus wie ein klarer Strom inmitten einer weiten, blumigen Ebene; und an die Brüstung oben auf dem Platze gelehnt, dachte ich an Zio Junassius Geschichte und an die Gedanken von Liebe und Frieden, die mich damals begleitet hatten.

Warum sollte ich mich denn jetzt dem Zorn überlassen? Wenn Columba mich wirklich liebte, so würde sie aufrichtig gegen mich sein und die hinterlistigen Absichten ihrer Verwandten zunichte machen; liebte sie mich aber nicht, so war es ja zwecklos zu kämpfen.

Ich suchte sie auf. Man lud mich zum Abendbrot ein; nachher setzte der Alte sich vor die Tür, und die Frauen und Kinder sammelten sich um ihn. Columba war nachdenklich, sagte mir jedoch, sie sei in Sorge um die noch immer kranke Magd, die an dem Tage das Abendmahl verlangt hatte. Wirklich starb die Alte auch bald darauf, und Columba wollte keine andere an ihre Stelle setzen.

Wenn der Alte in seine Schäferei ritt, so blieb das Mädchen allein in dem großen, stillen Hause; ging ich aber zu ihr hinüber, so fand sich alsbald auch Banna ein. Doch ich fühlte ohnehin, daß das Idyll der schönen vergangenen Tage unwiederbringlich dahin war. Auch wenn ich mit Columba allein war, stand ein Schatten zwischen uns; aus Stolz hatte ich des anonymen Briefes nicht erwähnt, und sie machte mitunter eine Anspielung, die ich nicht verstand.

Andere aus dem Dorf aber fingen an mich zu fragen, wie ich in der Stadt meine Zeit hinbrächte, und die Klatschbasen betrachteten mich mit Mißtrauen. Ich mußte annehmen, daß jemand Verleumdungen über mich ausgestreut, und fragte mich, wodurch ich dazu Anlaß gegeben haben könnte. Mein Leben als armer Student war farblos und eintönig: ich lebte von Träumen und erinnerte mich nicht, jemals etwas Schlechtes getan zu haben.

Meine Kameraden machten sich lustig über mich wegen meines enthaltsamen und zurückgezogenen Lebens – und jetzt fragte mich eine Nachbarin, ob es wahr sei, daß ich in der Stadt die Tochter eines Schusters verführt, eine andere, ob ich einen Priester geprügelt habe, und eine dritte gab mir den freundlichen Rat: »Dein Land hast du verkauft, hüte dich aber, auch dein Haus zu verkaufen, denn Geld führt immer zum Laster.«

Ich ärgerte mich über dieses Volk und ärgerte mich dann über mich selbst wegen meines zwecklosen Unwillens; und wie ich als Kind getan, ging ich, von einem tiefen Verlangen nach Einsamkeit getrieben, ins Freie, bis auf die Hochebene hinauf oder hinunter ins Tal. Früh am Morgen pflegte ich aufzubrechen, und mitunter begegnete ich dem Doktor, der zur Jagd ging, und wir machten ein Stück Weges zusammen; dann zog der eine rechts, der andere links: beide in dem Verlangen, allein zu sein.

Obwohl es Sommer war, war es manchmal sehr frisch; der Wind wehte stark, der Himmel sah aus wie das Meer, und einzelne stille Wolken erweckten die Vorstellung von Inseln und silberhellen Felsen. Ich wanderte alsdann auf den steilsten Pfaden, zwischen Arbutus- und Wacholdergebüsch, und in mir erwachte die Lust, eins zu werden mit der wilden und schönen Natur um mich her. Und wenn ich mich in dieser Verfassung befand, dann vergaß ich alles und alle: Columba, ihre Angehörigen, das ganze Dorf, selbst mein Studium: alles erschien mir fern und geringfügig. Wie das Kind im Mutterschoß fühlte ich mich geborgen, wenn ich auf den Felsen saß oder meinen Kopf ins Gras legte. Der Wind war mein launiger Bruder, die Wolken die Träume, die mich nicht betrogen, das Echo die einzige Stimme, die mich nicht belog.

Eines Tages dehnte ich meine Wanderung bis zu den Felsen aus, die wie ein verfallenes Kastell aussahen, und gedachte Zio Junassiu Arras aufzusuchen; der Stein in Gestalt einer natürlichen Feuerstelle bewahrte noch ein wenig Asche und erloschenes Reisig – aber der alte Mann war nicht da.

Während ich weiter umherstreifte, hörte ich plötzlich eine helle Stimme meinen Namen rufen, dann das Wiehern eines Pferdes, das Krähen eines Hahns, das mit der Ruhe dieses Ortes seltsam kontrastierte. Es waren zwei mir bekannte Studenten aus Nuoro, die auf einem Ausflug nach einer in der Nähe gelegenen Schäferei begriffen waren und mich aufforderten mitzukommen. Ich schloß mich ihnen an, und wir verbrachten die ganze Nacht dort oben mit Singen, Lachen, Geschichtenerzählen. Der eine der jungen Leute, der die Stimmen der Tiere und den Gesang der Vögel nachzuahmen verstand, hatte eine Flöte mit und spielte; und auf einmal klang durch die tiefe Stille der melancholische, einförmige Klageruf einer Ohreule, bald nah, bald fern, wie der Schrei eines in der Nacht umgehenden Geistes. Der Student blies die Flöte, die Ohreule antwortete, und die nächtliche Landschaft schien sich mit Irrwischen und Elfen zu bevölkern. Der Schmerz und die Lüge waren von der Erde verschwunden, und nur eine sanfte, unbestimmte Melancholie vermischte sich mit dem süßen Zauber dieser phantastischen Welt.

Auch nachdem meine Gefährten eingeschlafen waren, träumte ich noch mit offenen Augen. Ich gedachte des Abends, da ich mit Columba getanzt: jetzt befand ich mich in der damals ersehnten Welt – sie aber war nicht da, und ich wünschte nicht einmal, daß sie da wäre! Ich war wie berauscht von Einsamkeit, ich vernahm die Stimmen der Dinge, und alles, alles war seltsam und schön …

Auf einmal sah ich eine merkwürdige Gestalt daherkommen, mit einem Höcker, einem großen Horn auf dem Kopf und daneben ein kleines Licht. Die Gestalt hielt bei mir an, sah mir ins Gesicht und begrüßte mich: »Nun, was tust du an diesem Ort?«

»Zio Junassiu! Ich suchte Euch.«

Er setzte sich neben mich: sein Höcker war der Ranzen, das Horn die Kapuze, und das kleine Licht der blanke Lauf seiner Büchse.

Ich bot ihm eine Zigarre an, doch er lehnte ab: »Männer, die umherstreifen wie ich, dürfen kein Laster haben; der Wein macht die Füße unsicher, den Tabak riecht man.«

»Und die Weiber, Zio Junassiu?«

»Der Bandit darf nur Mutter und Schwester haben; alle andern Weiber sind seine Feindinnen.«

»Erzählt mir etwas, Zio Junassiu!«

»Was soll ich dir erzählen? Geschichten erzählt man am Herdfeuer oder auf der Schwelle seines Hauses sitzend: dann, wenn man glücklich ist, kann man sie auch ausschmücken, wie der Gürtler Blumen auf das stinkige Leder stickt.«

Das war wohl eine Anspielung auf Remundu Corbu.

»Und Ihr liebt die Wahrheit,« entgegnete ich, »und vielleicht vermögt Ihr deshalb nichts auszuschmücken.«

»Du spottest meiner; aber es tut nichts. Ich kann auch ohne dich fertig werden. Wisse nur – wenn du es wissen willst –, daß die Welt der Wahrheit fern von uns ist; wir werden sie nur dann finden, wenn wir auch in dieser Welt die Wahrheit suchen.«

»Aber was ist die Wahrheit?«

»Ach,« sagte er unwillig, »laß mich in Frieden! Die Wahrheit ist die Wahrheit! Und du würdest jetzt gut tun, dich schlafen zu legen.«

»Wann werdet Ihr denn ins Dorf zurückkehren?«

»So Gott will, in neun Monaten; am Tag des heiligen Franziskus bin ich in die Macchia gegangen, und am Tag des heiligen Franziskus werde ich in meine Schäferei zurückkehren. Er hat mich in diesen dreißig Jahren immer geleitet, er ist mein Freund, mein Bruder gewesen und hat mir immer beigestanden und mir geholfen, weil ich ihn immer nur um erlaubte Dinge gebeten habe: alle Monate gehe ich zu seinem Kirchlein – siehst du es da mitten im Berge wie ein weißes Lamm? – knie vor der Umfassung nieder und bitte um das, was ich zu bitten habe; aber ich verlange nicht von ihm, daß er meinem Feind die Pest auf den Hals schicken soll, ich bringe ihm kein gestohlenes Geld dar, wie die andern tun, das versteht sich! Und mit ihm ist nicht zu spaßen: einmal stahl ein umhervagierender Mann ein Gewehr, das ein Pilger neben seinem Sack bei der Mauer der Kirche niedergelegt hatte. Und weißt du, was geschah? Das Gewehr explodierte, und der Dieb wurde schwer getroffen! Das Böse findet immer seine Strafe. Einer glaubt es ungestraft zu tun und geht aufrecht seines Weges weiter: und auf einmal hält eine unsichtbare Hand ihn an, und eine Stimme ruft: Hast du das getan? Und das? … Wer ist's nun, der so ruft? Ein Heiliger, ein Teufel? Such' ihn doch! Aber das kommt vor.«

Zio Junassiu war diesmal gut aufgelegt; wir plauderten lange, aber wie ich ihn auch fragte: über Remundu Corbu wollte er nicht mehr reden.

Im Dorf wußte man alsbald von meinem Ausflug und daß Junassiu Arras die Nacht mit uns verbracht hatte; alle sprachen mir davon, nur der Großvater und Columba nicht. Sie war fortwährend schweigsam. Wohl sah ich sie noch mit ihrer Näherei auf der Veranda sitzen – aber wir schienen jeden Tag weiter auseinanderzukommen, und das alte Haus erschien mir wie eine uneinnehmbare Festung voller Hinterhalte. Ich fühlte mich bedrückt von der Hitze und einer Art angstvoller Erwartung: irgendetwas würde geschehen, so konnte es nicht weitergehen. Ich verbrachte fast den ganzen Tag auf mein Bett hingestreckt, lesend oder schlafend. Petru, mein kleiner Diener, trug mir das Wasser, die Lebensmittel und die Klatschereien zu und wiederholte mir beständig, daß alle Übles von mir redeten: und wie das Rauschen in der Muschel uns an das Brausen des Meeres gemahnt, so gab das harmlose Geplauder des Knaben mir eine leise Vorstellung von der Flut von Haß und Mißtrauen, die mich bedrohte. Und doch hatte ich niemand etwas zuleide getan; ich erinnerte mich nur, damals die Klageweiber hinausgetrieben und bisweilen auf den Aberglauben der Dorfbewohner gescholten zu haben.

Anfang August lag ich einige Tage an rheumatischem Fieber krank; ich hoffte, Columba würde mich besuchen, aber sie begnügte sich damit, Petru nach mir zu fragen und mir Obst und Speisen zu schicken. Ich verzehrte mich fast vor Betrübnis, ließ sie aber nicht rufen: wenn sie mich liebte, würde sie kommen, dachte ich. Ich wartete, und jede Stunde trennte uns wie jahrelanges Fernsein.

Als ich mich wohler fühlte, ging ich zum Erlöserfest nach Nuoro: ich wollte, wenigstens in der Erinnerung, noch einmal die nun schon weit zurückliegenden Tage meiner ersten Jugend durchleben. Vergebens: Traurigkeit und Unruhe folgten mir überall. Um mich noch mehr zu verstimmen, tauchte auf einmal unter der Menge das gutmütige Gesicht Zuanpedru Cannas auf. Er kam mit einigen Landsleuten daher, schien ganz vergnügt und plauderte lebhaft. Warum nun verstummte er, als er mich sah, und tat, als erkennte er mich nicht?

Zwei Tage folgte ich ihm durchs Gedränge hindurch, von einem unerklärlichen Gefühl von Sympathie, ja Mitleid getrieben; ich wollte mich ihm nähern und ihm sagen: du und ich, wir sind beide Opfer, sie täuschen uns alle beide; der eine von uns wird noch unglücklicher sein als der andere. Dann aber lächelte ich über mich selbst, obwohl ich fühlte, daß ich das wirkliche Opfer war, und zwar vor allem das Opfer meiner Phantasie und meines Stolzes.

Am dritten Tage war mein Nebenbuhler verschwunden, und ich setzte mich vor ein Café und fing an zu trinken … Jeden Augenblick fragte ich mich: Was tun? und es war mir, als hätte ich ein schweres Problem zu lösen. Und doch war nichts Besonderes geschehen. Ich brauchte nur wieder hinzugehen, zu Columba zu sagen: »Sprechen wir uns einmal aus, und wenn wir uns trennen müssen, nun, so muß es eben sein; du heiratest deinen Hirten, und ich suche mir eine andere Nymphe.« Aber die Lösung des Problems war das nicht, und ich fragte mich aufs neue: Was tun? und trank, um mir selbst nicht Antwort geben zu müssen.

Eine andere Nymphe? Ich sah ihrer so viele an mir vorüberziehen unter den phantastischen Bogen mit roten und grünen Lämpchen, die die Straße erleuchteten. Dort: ländliche Nymphen in rot und schwarz wie feurige Mohnblumen; und städtische Nymphen, die in ihrem engen weißen Kleid steckten wie in einer Scheide, das Gesicht von einem großen Blumenkorb verborgen …

Was tun? Ein viertes, ein fünftes Glas Villacidro Anisette. trinken und ein zartes Kinn betrachten, das beim Schein des Mondes weiß wie Alabaster erschien, zwei große dunkle Augen, die glänzten wie das Meer bei Nacht, eine vom phosphoreszierenden Farbenspiel eines Schleiers beschattete Stirn …

Und während die Menge auf- und abwogte, als folge sie dem Rhythmus der Musik, schaukelte ich mich auf meinem Stuhle und wartete mit kindlich beklommenem Herzen darauf, daß die Verschleierte bei mir vorüberkomme … Und sie kam: klein und zierlich, in silbergraue weiche Seide gekleidet, die ihre vollkommen schöne Figur deutlich hervorhob; über glänzenden Lackschuhen kamen fleischfarbene seidene Strümpfe zum Vorschein, daß der Fuß wie nackt aussah. Und als sie dicht an mir vorüberschritt, vernahm ich unter all dem Lärm der Menge und der Musik ein leises Rauschen wie von Blättern im Wind: und ich sah das schöne Tal vor mir, in einer Mondnacht, und das in der Ferne glänzende Meer. Alle Träume meiner ersten Jugend stiegen aus der Tiefe meiner Seele herauf, und ich fragte mich: »Warum setzt sie sich nicht hierher?«, und dann saß sie auf einmal mir gegenüber, und die Dame, die mit ihr war, gönnte ihr den Platz, auf dem das schöne verschleierte Gesicht ihrer jungen Gefährtin im vollen Lichte erschien.

Lächelte sie, so glitzerte der ganze Schleier; doch ihr Lächeln war nur flüchtig, als käme ihr gleich wieder ein trauriger Gedanke; und dann verdunkelte sich ihr Gesicht, aber die Augen wurden noch leuchtender, gleich als nähmen sie ihre ganze Seele in sich auf.

Sie bemerkte, daß ich nach ihr hinsah, und betrachtete mich; doch ihr Blick war beinahe drohend. Und mir erschien sie verschieden von allen andern, und ich empfand eine kindliche Neugier: Wer war sie wohl? Wie mochte sie sprechen? Wie denken? Ob sie mich wohl lieben könnte?

Ihr gegenüber kam ich mir unscheinbar und häßlich vor; doch wenn ich zu ihr sprechen dürfte – nicht hier unter den Leuten und dem falschen Licht, sondern unter der Eiche, bei den Felsen Zio Junassius, in jener Landschaft voller Größe und Wahrheit: o! wie könnten wir dann einander lieben!

Ich mußte fort, ohne sie wiedergesehen zu haben; aber ihr strenger Blick folgte mir auf meiner Wanderung durch das Tal, und als ich das ferne Meer sah – und seither immer, wenn ich es sehe – dachte und denke ich an sie, das Bild der Schönheit.

Bei meiner Rückkehr sah ich Columba nicht an ihrer Tür und erst gegen Abend suchte ich sie auf.

Nie werde ich das vergessen: sie war in der Küche und stand am Herd mit dem Rücken nach der Tür. Als sie meinen Schritt hörte, fuhr sie zusammen, kehrte sich um und sah mich mit großen, erschrockenen Augen an. »Jorgi,« sagte sie, »wie hast du mich erschreckt!«

»Ach Gott, warum denn? Früher warst du nicht so furchtsam.«

Durch meinen spöttischen Ton gekränkt, entgegnete sie herb: »Weißt du nicht, daß vorgestern Diebe hier eingedrungen sind? Sie haben Großvaters Geld gestohlen … Du weißt, den Kasten oben im Geheimfach, den ich dir einmal gezeigt …«

»Aber seid Ihr dessen gewiß?« fragte ich erstaunt.

»Nur zu gewiß! Der Kasten ist verschwunden.«

»Wie ist denn das zugegangen?«

»Höre! Der Großvater war in die Schäferei geritten; ich war allein und dachte: vielleicht kommt Jorgi heute zurück! Ja, ich wartete auf dich, aber ich war mißmutig. Später sagte Banna: ›Sollen wir einmal zu Gevatterin Margherita Sanna gehen, ihr Kindchen sehen?‹ Ich hatte keine Lust, aber meine Schwester sagte: ›Munter! dein Jorgi amüsiert sich jetzt, und du willst hier plärren? Komm!‹ Ich verschloß alle Türen, so meine ich wenigstens … nein, ich bin dessen ganz sicher, ja ich könnte es auf mein Gewissen schwören. Als wir zurückkamen, war es schon dunkel; ich schloß auf und sah, daß die Hoftür ein wenig offenstand. Im Augenblick legte ich kein Gewicht darauf, denn ich war nicht furchtsam, darin hast du recht … Also ich schloß alles wieder zu, bereitete das Abendbrot und ging zu Bett. Aber ich war aufgeregt und schlief die ganze Nacht nicht. Am folgenden Morgen kam der Großvater zurück. Er hatte einem Viehhändler zwei Rinder verkauft und ging gleich hinauf, um das Geld, das er dafür eingenommen, fortzulegen. Gleich darauf hörte ich, wie er nach mir rief, als ob ihm etwas zugestoßen wäre. Erschrocken lief ich hinauf und fand ihn schrecklich aufgeregt. Er fragte, ob ich an dem Geld gewesen sei. Lieber Himmel, ich dachte, der Schlag sollte mich treffen! Wir durchsuchten das ganze Haus: nichts, nichts! das Geld war verschwunden. Und doch war im übrigen nichts in Unordnung – nur mußte ich an die offenstehende Hoftür denken … Und jetzt …«

Sie unterbrach sich, schwer atmend, und trocknete sich die Augen mit dem Hemdärmel. Wie ich sie so ansah, kam es mir vor, als wäre sie in wenigen Tagen gealtert wie nach einer langen Krankheit.

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte; mir war so schwindlig, als hätte mich jemand in den Nacken geschlagen: und der Schlag wiederholte sich und erwies sich als der furchtbare Gedanke, der mir von den ersten Worten Columbas an durch den ganz benommenen Kopf ging.

»Und jetzt?« schrie ich. »Was ist jetzt?«

Sie weinte.

»Wo ist dein Großvater?«

»Draußen.«

»Hat er die Sache angezeigt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil er sagt, er wolle zuerst sicher sein …«

»Sicher … wessen? Wenn das Geld doch fort ist?«

»Ich weiß es nicht … ich weiß es nicht!« wiederholte sie schluchzend und sich widersprechend. »Vielleicht liegt es irgendwo, und wir finden es nur nicht … oder wir finden es noch … Ach, wenn das doch geschähe, liebe Seele, wie würde ich aufatmen!«

Und der schreckliche Gedanke schlug beharrlich auf meinen Schädel los: ich sah rot und hatte Lust zu schreien.

»Heute nachmittag war der Brigadiere der Wachtmeister der Karabinieri (Gendarmen). da. Er wollte selbst sehen, überall hat er gesucht, sogar im Hof, sogar im Brunnen: Nichts!«

»Der Brigadiere? Aber wenn Ihr die Sache doch nicht angezeigt habt?«

»Sie wissen es doch … Alle wissen es!«

»Aber was habt Ihr dem Brigadiere gesagt?«

»Wir haben es bestritten, wir haben gesagt, es wäre nicht wahr. Aber er wollte doch nachsehen. Er hat mit dem Großvater gestritten und mich ausgefragt, als glaubte er, ich hätte es gestohlen …«

»Das glaubt auch dein Großvater!«

»Wie weißt du das?«

»Du hast es gesagt!«

»Nein, nein! Er hat mir verboten, mit irgend jemand davon zu sprechen … Er hat gedroht, mich aus dem Hause zu jagen, wenn ich davon spräche!«

»Und doch tust du's! Du sagst es mir. Warum?«

»Du … du mußt es doch wissen! Meinetwegen mag er mich fortjagen, aber dir mußte ich es sagen …«

»Warum mir, Columba? Was kann ich daran tun?«

Ich faßte sie bei den Armen und sah ihr in die Augen: sie wurde leichenblaß und brach schließlich in zorniges, verzweifeltes Weinen aus, stöhnte und schüttelte sich, als wolle sie sich von einem Alp befreien. Ich ließ sie los und sie sank auf den Herdstein, riß sich das Kopftuch ab, flocht ihre Zöpfe auf, schlug und kratzte sich und biß die Zähne zusammen, wie um nicht aufzuschreien und ein schmerzliches Geheimnis zu verraten.

Ich betrachtete sie, und es schien mir, daß sie, wie alle Weiber ihres Stammes, übertrieb und gewissermaßen eine Szene aufführte; zugleich aber fühlte auch ich mich auf das widrigste erregt und wartete nur auf die Rückkehr des Alten, um meinem Zorn Luft zu machen.

Als Columbas Raserei etwas nachgelassen hatte, sagte ich: »Höre, warum tobst du so? Laß uns jetzt ein für allemal ein Ende machen! Sage mir die volle Wahrheit! Ist es wahr, daß das Geld fehlt?«

»Das ist wahr.«

»Sage mir alles, Columba, fürchte dich nicht! Sage mir, daß dein Großvater mich im Verdacht hat. Ist es so? … Fange nur nicht wieder an: das Schreien ist nutzlos! Columba, wenn dein Großvater sich bis zu dieser Niederträchtigkeit versteigt, dann schlag' ich ihn tot!«

Sie warf sich auf mich und hielt mir den Mund zu; und dann ließ sie plötzlich von mir ab und wich mit theatralischen Gebärden zurück, als fürchte sie sich vor mir.

»Columba,« fuhr ich fort, »jetzt gehe ich von hier und werde keinen Fuß mehr in dieses Haus setzen. Aber in meinem Hause werde ich auf dich warten, einen, zehn, tausend Tage lang. Wenn du mich wirklich liebst, so mußt du dieses Haus verlassen. Ich werde dich erwarten, hast du verstanden? Kommst du nicht, so heißt das, daß du mich nicht liebst.«

Ich wandte mich zum Gehen; doch da Columba mir nicht nachkam, mich nicht anflehte, zu bleiben, damit wir uns verständigen könnten, trat ich tief empört noch einmal vor sie hin und mochte in jenem Augenblick wohl schrecklich genug aussehen, denn sie blickte mich nun wirklich angstvoll an.

»Sage mir die ganze Wahrheit, Columba, ich befehle es dir!«

Da erzählte sie mir, daß der Großvater offen den Verdacht ausgesprochen, sie habe das Geld gestohlen, um mit mir zu fliehen.

»Aber warum? Warum solltest du mit mir fliehen?«

Sie senkte den Kopf. »Weil sie wollen, daß ich dich aufgeben und einen andern heiraten soll.«

»Den Cannas? Nun, so heirate ihn doch, mich aber laßt in Frieden! Ich bin arm und passe nicht für dich. Dir gefällt es, den Käse zu bearbeiten und die stinkige Wolle. Also nimm ihn! Und dein Großvater und ich, wir hassen einander … oder wenigstens er haßt mich, weil ihm der Haß im Blute liegt, weil er unfähig ist, zu lieben. Sähe er mich in seinem Hause, so würde er immer wütend sein und noch boshafter werden, als er schon ist. Sag' ihm das nur, sag' ihm, daß er, um mich loszuwerden, nicht nötig hat, ein Verbrechen zu simulieren. Ich gehe von selbst, denn auch ich, hörst du, ich bin seiner überdrüssig und deiner, die weder lieben noch hassen, noch zu einem Entschluß kommen kann. Aber der Augenblick ist gekommen: entschließe dich; sie oder ich. Addio!«

Sie begriff, daß es mein Ernst war und fing an zu zittern; aber sie rief mich nicht zurück, sie kam mir nicht nach. Und ich verkroch mich wieder in meine Höhle wie ein verwundetes Tier. Was für entsetzliche Tage und Nächte verbrachte ich! Ich beneidete den tauben Bettler, der von Zeit zu Zeit an meine Tür kam, sein verdummtes Gesicht hereinsteckte, und wenn er mich auf meinem Bette liegen sah, sich nicht hereingetraute und wieder ging. Ich beneidete meinen kleinen Diener, der selbst in meinem Unglück einen Anlaß zum Lachen fand und ohne irgendwelches Erstaunen sich »die Tat« so rekonstruierte: »Ihr seid heimlich zurückgekommen, vom Hof aus eingedrungen und habt den Streich ausgeführt. Ihr wußtet, wo das Geld lag: ah, Ihr habt es schlau angefangen!«

Alle wußten von der Sache; niemand hatte sie durch den Alten oder durch seine Enkelinnen erfahren, aber alle kannten sie. Und die meisten waren überzeugt, daß ich das Geld im Einverständnis mit Columba genommen habe, um mit ihr zusammen zu fliehen: der Großvater hatte unsern Plan noch rechtzeitig vereitelt, die Flucht verhindert – aber sein Geld nicht wiedergesehen.

Ich erwartete Columba – sie kam nicht. Statt dessen kam Bannas Mann und sagte mir, es sei alles nur Schwatzerei, meine Stiefmutter habe mich verleumdet, und jetzt übertriebe ich die Sache, um einen Vorwand zu haben, Columba zu verlassen.

»Sie soll doch selbst kommen, damit wir uns verständigen!« erwiderte ich. Doch sie kam nicht.

Inzwischen machte ich eine Beobachtung: in den ersten Tagen kamen alle möglichen Leute zu mir, um über »die Sache« zu reden und mir zu raten, den Alten zu verklagen oder mich mit ihm auszusöhnen; dann wurden die Besucher seltener, und schließlich schien man mich vergessen zu haben. Als ich aber eines Tages ausging und am Brunnen vorüberkam, bemerkte ich, daß die Weiber mich neugierig betrachteten und miteinander tuschelten, und auf dem Platze kam es mir vor, als blinzelten die Nichtstuer und Anrüchigen mir wie einem neuen Gefährten zu.

Vielleicht war das eine Täuschung von mir, und ich zwang mich, sie dafür zu halten; aber meine Phantasie arbeitete fürchterlich, und der Kummer verzehrte mich fast. Und das Traurigste war mir noch, daß ich meinte, das alles vorausgesehen und nicht verstanden zu haben, es zu vermeiden.

Warum? Es gab keine Entschuldigung für mich, nicht einmal die einer großen Leidenschaft, denn wahrhaftig: so war meine Liebe zu Columba nicht beschaffen; ich war bloß das Opfer meiner Träume, die sich nach wie vor in Alpdrücken verwandelt hatten. Doch eines Abends faßte ich den Entschluß, ein neues Leben anzufangen, und ging ins Freie, um bei meiner einzigen Freundin der Natur, Rat und Trost zu suchen. Es war eine mondlose Nacht, doch ich unterschied die dunklen Umrisse der Landschaft, sah hin und wieder ein fernes Licht und atmete mit Wonne den Duft, der aus dem Tale aufstieg: den starken, wilden, süßen Duft der aromatischen Stauden, der, wann die Nacht sinkt, fast berauscht, uns alle vergessenen Träume zurückruft und in unserer Seele Empfindungen weckt, die wir zuvor nicht gekannt.

Lange saß ich am Rand des sandigen Pfades, und meine Augen gewöhnten sich so an die Dunkelheit, daß ich die kleinen Blätter an den Spitzen der Zweige unterschied. Und mir war's, als sähe ich so klar nun auch in die Finsternis meines Daseins. Ich prüfte mich genau, sah meine Irrtümer, meine Fehler, erschien mir aber groß, gerade weil ich meine Kleinheit erkannte.

Ich habe geirrt, sagte ich mir. Ich habe gegen die Natur gefehlt, indem ich ein Wesen liebte, das nicht meiner Art ist, und mich mit einem Manne maß, dessen Kraft von der meinen verschieden ist. Und jetzt rächt sich die Natur oder gibt mir doch zu verstehen, daß es gefährlich ist, gegen ihre Gesetze wie gegen ihre vermeintliche Arglist anzukämpfen. Ein krummer Stamm läßt sich nicht geradebiegen, eines Menschen Natur läßt sich nicht wandeln.

Und allmählich war es mir, als würden diese Betrachtungen – die wohl meiner Mutlosigkeit und moralischen Depression entsprangen – mir durch das leise Blätterrauschen ringsum zugetragen: mit ihrem Duft und ihrer eigenen Stimme sprach die Natur zu mir und die spröde Erde erteilte mir, einer treuen Mutter gleich, ihre Warnungen und ihre Ratschläge: Bestehe nicht auf deinem Kopf und vergifte dir dein Leben nicht! Gehe deinen eigenen Weg. Du liebst Columba nicht, du hassest den Alten. Gehe fort von hier: sonst wehe dir und wehe ihnen! Du würdest noch wilder werden als sie, du würdest wieder zum Urzustand zurückkehren, wieder ein Mensch dieses Bodens werden, einer, der sich selbst Gerechtigkeit schafft. Also geh! Es gibt ein Gesetz, das nimmer versagt: die Zeit. Du wirst die Wahrheit triumphieren sehen, denn die Natur selbst erlaubt dem Menschen nicht, immerfort zu lügen, wie sie dem Himmel nicht erlaubt, beständig dunkel zu sein, oder der Erde das ganze Jahr hindurch unfruchtbar …

Beruhigt ging ich nach Hause, und nach so vielen schlaflosen Nächten schlief ich tief.

Damit meine Abreise nicht als Flucht erscheine, machte ich andern Tages einige Abschiedsbesuche und schickte Petru zu Columba, um sie wissen zu lassen, daß ich fortging.

Sie sagte: Gute Reise! und zog sich das Kopftuch über die Augen, berichtete der Knabe. Sonst nichts.

Ich hatte sie nicht mehr wiedergesehen, denn wenn ich das Haus verließ, machte ich lieber den Umweg über den Abhang, als daß ich bei ihr vorüberging. Auch den Großvater sah ich nicht; er mußte wohl die Tage in der Schäferei zubringen, und auch abends hörte ich ihn nicht mehr den Nachbarinnen Geschichten erzählen.

Am fünfzehnten September, als ich gerade meinen bescheidenen Handkoffer packte, klopfte es leise an die Hoftür. Columba! dachte ich: es war ja unmöglich, daß sie gar nicht käme.

Ich öffnete die Tür und meinte, ich müßte ersticken: es war der Brigadiere, der bei mir Haussuchung halten wollte. Behäbig und gelassen trat er ein, sah sich rings um, als suche er einen verlorenen Gegenstand, und forderte mich auf, den Handkoffer zu öffnen.

Eine Anwandlung von Schrecken unterliegend, gehorchte ich; und ohne ein Wort zu sprechen, die Sachen kaum berührend, stöberte er mit seinen dunklen Händen darin herum. Er sah aus, als wäre er ärgerlich darüber, daß er diese langweilige und beschämende Verrichtung vornehmen müsse, ohnehin darauf gefaßt, nichts zu finden. Doch wer hatte ihn dazu genötigt?

Nachdem der Koffer abgetan war, ersuchte er mich, die Truhe zu öffnen. Da verwandelte meine furchtsame Betroffenheit sich in Wut. Ich begann zu zittern, und um mich zu beherrschen, eilte ich in den Hof, dort zu warten, bis er fertig sein würde.

Die Klatschbasen aus der Nachbarschaft hatten bereits den Besuch gewittert und horchten auf der Straße; ich trat an das Pförtchen, und leise, leise zogen sie sich zurück. Columbas Tür war geschlossen, aber Bannas Katzengesicht tauchte an einem Fenster auf, und ich sah sie an und besann mich wieder auf mich selbst: Ich mußte mich verteidigen, dieser Falle aus dem Wege gehen.

Ich trat wieder ein, und der noch immer über die Truhe gebückte Brigadiere kam mir lächerlich, ja bemitleidenswert vor: suchte er nicht nach etwas, von dem er wußte, daß es nicht da war? Ach, so mühen wir alle im Leben uns etwas zu suchen, das nicht zu finden wir schon gefaßt sind!

Nachdem der Brigadiere die Durchsuchung beendet, sah ich ihm fest ins Auge und sagte: »Wenn Sie mich etwas zu fragen haben, so tun Sie es gleich, weil ich fort muß. Ich stehe Ihnen zu Befehl. Ich weiß, daß Sie sich die Sache angelegen sein lassen, und auch ich möchte sie aufgeklärt sehen.«

Er pustete, rückte sich die Mütze zurecht und strich sich über die feuchte Stirn.

»Schön,« sagte er gutmütig, »erzählen Sie mir etwas.«

Er setzte sich auf den Schemel und stützte den Ellbogen auf das Bett; er war dick und schwitzte und schien müde. Ich brachte meinen Handkoffer wieder in Ordnung, erzählte von dem Auftritt mit Columba und äußerte dann meine Vermutung, der Diebstahl der Geldkasse sei simuliert. Der Brigadiere erwiderte nichts, fragte mich nichts, sein Atem ging immer langsamer und stärker und verwandelte sich bald in ein sonores Schnarchen. Er schlief und erwachte nicht einmal, als Petru gelaufen kam, um mir zu sagen, daß man am Postwagen die Pferde vorlegte.

Als der Knabe den schlafenden, an das Bett gelehnten Brigadiere sah, riß er die Augen auf und sah mich erschrocken an: ich bedeutete ihm, still zu sein, lud ihm den Handkoffer auf die Schulter, und wir gingen.

Auf der Fahrt erzählte ich das Abenteuer, und die Reisegefährten lachten; einer aber übertrieb den Scherz, schlug vor, den Handkoffer nochmals zu öffnen und auch mich selbst zu durchsuchen. Ich war mehr traurig darüber als gereizt: es kam mir vor, als tauschten die Mitreisenden spöttische Blicke, indem sie nach mir hinblinzelten.

Dieses Gefühl verblieb mir lange, ja es schien mir, als nähmen Unbekannte mir gegenüber alsbald eine mißtrauische Miene an.

Und Tage und Tage lang lebte ich in immer ängstlicherer Spannung: ich erwartete, man würde mich ins Dorf zurückrufen, ich wartete auf einen Brief von Columba; doch nichts erfolgte, und statt mich zu erleichtern, vermehrte dieses völlige Vergessen noch meine Unruhe.

Bei drückender Hitze und dem im September vorherrschenden Sirocco konnte ich in der Luft der Stadt kaum atmen; ich fühlte mich schwach, elend, spürte beständig Schwindel und Übelkeit, schleppte mich umher und vermochte kaum die Füße zu heben. Und eines Abends sank ich in der Via Roma auf eine Bank hin, und seitdem erholte ich mich nicht wieder.

Lange Zeit verbrachte ich im Hospital, und in jenen langen, einförmigen Tagen erfaßte mich das Verlangen, hierher zurückzukehren, hier zu sterben und meinen Körper dem Boden wiederzugeben, auf dem ich geboren bin.

Und nun bin ich hier, und in der Todesstille meiner Gruft eines Lebenden ist mir's bisweilen, als vernähme ich das Pochen eines von Gewissensbissen gequälten Herzens.

Welches Herz mag es sein? Das des Alten oder das Columbas? Beide wissen, daß sie mir unrecht getan; doch jetzt, da sie von mir nichts mehr zu befürchten haben, werden sie sich beruhigen. Columba wird sich verheiraten, und da der Alte damit seinen Zweck erreicht, braucht er nicht länger zu lügen.

Die Wahrheit! Nach ihr allein noch dürste ich. Ich bin krank, weil die Wahrheit aus meinem Leben verschwunden ist; aber die Gewißheit, sie uneingeschränkt und vollkommen vor mir zu sehen, hält mich aufrecht. Sie kann meiner nicht völlig vergessen! Manchmal an Wintertagen, wenn der Nebel uns einhüllt wie ein Leichentuch, haben wir das Gefühl, es sei nun alles zu Ende: die Sonne ist tot, das Licht erloschen, und wir gehen durch die Welt wie über einen Kirchhof. Aber mit einemmal bricht die Sonne durch die Wolken, die Dinge um uns her lächeln wieder, und wir erwachen zu neuem Leben wie der aus seinem Grabe erstandene Lazarus. So kann auch die Wahrheit für einen Augenblick, für ein Jahr, für Jahrhunderte durch die Lüge verschleiert werden: doch plötzlich ersteht sie wieder, leuchtend und ewig, und ein einziger ihrer Strahlen genügt, die Finsternis zu zerteilen und den Toten Leben zu verleihen.


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