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Mit kleinen, leichten Schritten kam Mariana herein. Sie war weiß gekleidet und trug einen großen, weißen Hut, der auf der einen Seite bis zur Schulter hinabreichte, auf der andern ihre glänzenden Haare und die Bandschleife über dem Ohr freiließ; ihr Sonnenschirm war fast so hoch wie sie selbst, und an ihrem zarten Arm hing ein silbergeflochtenes Täschchen, wie man sie sonst nur aus den Märchenbüchern kannte.
Ein Parfüm, das Jorgi schon kannte, und das jetzt sein Psalmbuch durchduftete, verbreitete sich in der armseligen Kammer; und gleich auf den ersten Blick kam es ihm vor, als hätte er das Gesicht schon einmal gesehen: ja, das war wirklich das weiße Gesicht, das waren die strengen, büßenden Augen, die ihm in Nuoro im phantastischen Licht eines Festabends erschienen waren, und er fing an zu zittern.
»Guten Tag, wie geht es Ihnen?« sagte sie einfach, indem sie vor dem Bett stehen blieb und mehr nach dem Bettler als nach dem Kranken hinsah. Auch Jorgi blickte auf Dionisi, erinnerte sich aber nicht mehr, warum der Mann dalag, und sah nur verworren neben der dunkeln Gestalt des Elenden die zierliche weiße seiner Besucherin: und er schämte sich, in dieser Gesellschaft überrascht worden zu sein, mit diesem Menschen, in dieser Stellung.
»Steh' auf und geh!« rief er rauh, bereute es aber sofort. – »O, entschuldigen Sie, er ist ein so lästiger, einfältiger Mensch,« sagte er leise und errötend, während der Bettler schwerfällig aufstand und andeutete, daß er etwas sagen wolle.
»Geh jetzt und komm später wieder,« sagte Jorgi gelassener und hatte keine Ruhe, bis jener fort war.
Da schien es ihm, als würde seine Kammer weit und hell und voller Duft wie eine Frühlingslandschaft; die ganze Vergangenheit versank, und ein lichter Friede, ein schüchterner Traum von Schönheit und über die ganze Welt.
»Aber Sie sehen ja ganz gut aus,« sagte Mariana verwundert und erfreut, setzte sich auf den Schemel neben dem Bett und stützte die Hände und das Kinn auf den Knopf ihres Sonnenschirms. »Sie haben eine kräftige Stimme, eine natürliche Gesichtsfarbe und sind nicht einmal so schrecklich mager.«
Er blickte auf das baumelnde, glitzernde Täschchen und fing an zu lachen; er lachte und zitterte. »Es geht ja nicht schlecht,« erwiderte er; »aber Sie sagen das, um mich zu trösten.«
»Meinen Sie? Nein, eine solche Lügnerin bin ich nicht.«
»O, entschuldigen Sie! Ich bin so ungeschickt. Solange schon sehe ich niemanden! Nur der Bettler kommt bisweilen, kniet sich hin, betet und schwatzt.«
»Und wer kommt sonst noch?« fragte sie.
»Wer sollte wohl kommen? Hin und wieder eine Klatschbase und der Doktor.«
»Ist der Doktor tüchtig?«
»So, so! Er ist ein wenig sonderbar, aber im Grunde gut und großmütig.«
»Haben Sie sich nie von andern untersuchen lassen? Haben Sie es schon mit der elektrischen Heilmethode versucht?«
»Alles habe ich getan! Ich habe drei Monate im Hospital gelegen … für mich gibt es keine Hilfe mehr!«
»Das sagen alle Kranken! Sie müßten in eine gute Klinik auf dem Festlande gehen …«
Er machte eine Bewegung des Schreckens. »Nein, nein, Signorina! Ich bin hierhergekommen, um hier zu sterben! Aber denken Sie nicht, ich sagte das, um zu klagen. Nein, ich bin nicht unglücklich und leide nicht sehr; wenn ich mich nicht rege, fühle ich keinen Schmerz und auch nicht, wenn ich mich bewege, nur einen argen Schwindel, der mich manchmal bis zur Ohnmacht erschöpft. Aber sprechen wir jetzt nicht davon. Ich bin zufrieden, ja glücklich … Das glauben Sie wohl nicht?«
Sie war nachdenklich geworden; ob sie an seine Glückseligkeit glaubte oder nicht, das war aus ihrem ernsten Gesicht nicht zu erkennen: sie schien einen andern Gedanken zu verfolgen.
»Was sagt denn dieser Doktor? In Ihrem Briefe sagten Sie mir, Sie seien als Kind einmal krank gewesen …«
»Ja, ich war vom Pferde gefallen,« erwiderte er, allmählich lebhafter werden; »und seitdem blieb ich immer sehr empfindlich. Die Ärzte im Hospital sprachen von Erschlaffung der Nerven und partieller Lähmung als Folge jenes Unfalls; unser Doktor hier sagt dagegen, es sei eine Form von akuter Neurasthenie, verursacht durch Verdruß und Leid … Und vielleicht hat er recht: der Kummer hat mich so heruntergebracht; ich bin so empfindlich wie ein Grashalm, der sich unter jedem Lufthauch biegt … Auch jetzt zittere ich, aber vor Freude, weil Sie hier sind! Sie tun mir soviel Gutes, Signorina, und ich habe Ihnen noch nicht einmal gedankt, ja, ich bin eben sogar schroff gegen Sie gewesen. Verzeihen Sie mir, Signorina! Ich bin so … so glücklich …«
Er deckte den Arm über sein Gesicht und brach in Tränen aus. Erstaunt blickte sie auf und öffnete die Lippen, sagte aber nichts: nein, man mußte ihn einmal weinen lassen; das waren Tränen wenn nicht der Freude, wie er sie glauben machen wollte, so doch Tränen des Trostes und der Liebe! Und während er beschämt sein Gesicht verbarg, all die Tränen vergoß, die ihm solange schon das Herz beschwert, sah sie sich – obwohl gerührt – im Zimmer um und bemerkte die Spinngewebe in den Ecken, den Überrest der Feuerstätte, die vorsintliche Truhe, das noch älter aussehende Tischchen, den zerbrochenen Wasserkrug, die Bettdecke voller Flecken, sein am Ärmel geflicktes Hemd … Und der Modergeruch des Zimmers bedrückte sie wie Kirchhofluft: es war ihr, als säße sie neben einem Lebendigbegrabenen, und die Erzählungen Zia Giuseppa Fiores, die ihr seit dem Tag ihrer Ankunft nur von dem unglücklichen Jorgeddu sprach und sie bedrängte, ihm zu helfen, erschienen ihr tausendmal weniger traurig, ja grausam, als die Wirklichkeit. Und er, so einsam und verlassen in dieser Höhle, weinte wie ein von ungerechten Menschen mißhandeltes Kind; er, der voller Verstand und Geist war, der in dem Grade das Leben liebte, daß er sich noch in dieser entsetzlichen Gruft glücklich zu fühlen vermochte. Von Schauder und Mitleid überwältigt, sprang sie auf: sie mußte sich rühren, um gewiß zu sein, daß sie noch gesund war und sich frei bewegen konnte, und die Worte, die Zia Giuseppa ihr jeden Augenblick wiederholte, quälten sie jetzt wie Gewissensbisse: »Sie sind reich und mächtig, Sie müssen dem unglücklichen Jungen helfen …«
Ihm helfen? Wie? Sie legte ihre kostbaren Hindernisse beiseite, faltete die Hände und schüttelte sie verzweifelt, machtlos gegenüber diesem Leid. Dann kam ihr ein Gedanke: ein Anbeter hatte ihr einmal gesagt, der Unglückliche sei wie ein Kind: eine Liebkosung, ein Versprechen genüge, ihn zu trösten. Sie legte ihre Hand auf Jorgis Haupt und sagte sanft: »Signor Giorgio, fassen Sie Mut! Wir werden Ihnen beistehen!«
Aber die Berührung ihrer Hand verursachte dem Kranken beinahe einen Krampfanfall: er stöhnte, schluchzte, redete unzusammenhängende Worte: Zorn, Schmerz, Kränkung und Herabsetzung, die sich seit Monaten in seinem Herzen angehäuft, schienen jetzt zum Ausbruch zu kommen und sich in Tränen aufzulösen. Dann hörte er auf einmal auf zu weinen und lag ganz still, immer noch sein Gesicht verbergend und mehr als je sich seiner Schwäche schämend.
»Jetzt ist's aber genug,« sagte Mariana und zupfte ihn leise am Hemdärmel; und sein Gesicht kam zum Vorschein, vom Weinen entstellt, aber mit Augen, die unter den geröteten Lidern so klar und hell leuchteten wie zwei Sterne am trüben Himmel nach dem Sturm.
Sie setzte sich wieder und stützte den Ellbogen auf das Tischchen.
»So ist's recht, nun können wir wenigstens in Ruhe plaudern. Sie sollten etwas genießen. Kommt Ihr kleiner Diener nicht?«
»Er kommt erst später; nein, danke, ich brauche jetzt nichts.«
»Ist der Knabe stark genug, um Ihnen zu helfen? Er ist intelligent, nicht wahr?«
»O, sehr intelligent, aber auch ein arger Schwätzer. Übrigens sind sie hier oben alle intelligent …«
»Das ist wahr,« erwiderte sie mit Überzeugung, ohne zu bemerken, daß er mit einigem Groll von seinen Landsleuten sprach. »Und das Dorf ist so malerisch! Von dem Hause, wo ich wohne …«
»Sie wohnen bei Zia Giuseppa Siore,« unterbrach Jorgi, sie mißtrauisch ansehend. »Ist sie es, die Ihnen von mir gesprochen hat?«
»Sie und andere. Aber ich kannte Ihre Geschichte bereits: auf der Fahrt hierher hatte der Postillon sie mir erzählt. Ich kam, um mir das Dorf anzusehen, weil mein Bruder mir seine Lage und die Tracht der Frauen gerühmt hatte; und ich wäre sogleich zu Ihnen gekommen, Signor Giorgio, hätte man mir nicht gesagt, Sie wollten niemand sehen. Ich war lange unentschieden, schließlich schickte ich Ihnen im Einverständnis mit dem Postillon das erste Paket, und das weitere wissen Sie. Nein, niemand hat Böses über Sie geredet, nur alle haben Angst vor Ihnen, vom Priester bis zu meinem Bruder, der Sie noch nicht besucht hat, um unter dieser so erregbaren Bevölkerung keine Reibereien zu verursachen. Ja, alle haben Angst vor Ihnen …«
»Wie vor einem tollen Hund!«
»Da irren Sie! Hören Sie, ich habe das merkwürdige Gefühl, das Ihre Landsleute gegen Sie hegen, aufmerksam studiert: wissen Sie, was es ist? Scham! Sie schämen sich und fürchten sich vor Ihnen, weil sie wissen, daß man Sie verleumdet hat, und daß sie das haben geschehen lassen, ohne Sie in Schutz zu nehmen. So sind Sie jetzt – lassen Sie es mich nur aussprechen – das Gespenst im Dorfe; wenn von Ihnen die Rede ist, werden alle unruhig und nachdenklich. Sie scheuen sich hierherzukommen, fühlen aber bereits das Drückende ihrer Feigheit; und der Tag wird kommen, glauben Sie mir, wo sich alle rühren werden, um Sie zu verteidigen, zu rächen, es sei denn …«
»Daß Ihre Feinde nicht zuvor ihren Irrtum erkennen.«
»Phantasien, Signorina!« sagte Giorgio und fühlte dennoch, wie sein Herz vor Hoffnung pochte. »Sie sind gut und bilden sich deshalb ein, auch die anderen seien gut; ich verdanke alles Ihnen, und wenn Sie nicht kamen, so hätte sich niemand meiner erinnert. Ach, der Priester! Er wollte mich vollends zur Verzweiflung bringen und sprach mir nur vom Tode, während in mir alles noch Leben ist! Fühlen Sie nur, wie mein Puls klopft … fühlen Sie, wie mein Herz schlägt. Ich bin nie so lebendig gewesen wie jetzt, seit meine Feinde mich hier festgenagelt haben wie Christus, und gleich ihm fühle ich Liebe für die Menschen und Mitleid für ihre Irrtümer.«
»Wenn Sie wirklich Mitleid fühlten, dann würden Sie sich jetzt nicht gegen jenen armen Priester ereifern! Er ist unglücklicher über sein Verhältnis zu Ihnen als Sie. Wie oft, sagte er mir, ist er bis hier an Ihre Tür gekommen und hat nicht gewagt einzutreten! Und er ist einsamer als Sie. Lassen Sie ihn doch wieder herkommen, Sie werden damit ein gutes Werk tun. Darf ich's ihm sagen?«
Sie hatte ihren Handschuh abgestreift und seinen Puls erfaßt, seit er gesagt: »Fühlen Sie, wie er klopft!« Welches Wohlgefühl, welche Wonne ergoß diese leichte Berührung in seine Adern! Es war ihm, als würde er dadurch verwandelt: er war nicht mehr der arme, kranke, von allen verlassene Student – nein, er war jetzt gesund und stark, ein Riese, vor einer Zauberin ruhend, aus deren Augen er die Essenz des Lebens trank: die Liebe.
Doch das junge Mädchen ließ seinen Puls los, und er kehrte wieder zur Wirklichkeit zurück.
»Und auch die andern,« fuhr sie fort. »Alle haben Sie gern und möchten es Ihnen sagen. Sehen Sie, auch Zia Giuseppa Fiore. Sie haben sie fortgejagt, und doch hat die Frau Sie so lieb wie einen Sohn. Freilich, sie ist eine ursprüngliche Natur, die noch dem alten Brauch des Hasses und der Rache anhängt – hierher aber war sie gekommen von dem Verlangen getrieben, Ihnen zu helfen: sie meinte, Jorgi Nieddu müsse mit ihr zusammen den gemeinsamen Feind hassen.«
»Sie sind gut!« wiederholte Giorgio lächelnd; aber Sie kennen die komplizierte Psychologie meiner Landsleute noch nicht genügend … Ich will Ihnen ein paar Seiten zu lesen geben, die ich vor kurzem niederschrieb: ich glaubte, ich müßte sterben, von allen verlassen, und so schrieb ich das wie der Schiffbrüchige, der seine letzten Aufzeichnungen in eine Flasche tut und ins Meer wirft. Sie werden sehen: ich habe schmerzliche Wahrheiten ausgesprochen … Übrigens, ich wiederhole es, ich hasse niemanden, ich verzeihe allen; auch ich möchte wie unser Herr sagen: sie wissen nicht, was sie tun!«
Seine erste Begegnung mit dem alten Arras am Abend des Karfreitags fiel ihm ein, als er die letzten Worte aussprach: wie glücklich hatte er sich damals gefühlt! Doch auch jetzt empfand er eine Freude gleich der, die ihn auf jenen Pfaden durch das Tal geleitet hatte, und wenn sein Leib jetzt unbeweglich still lag, so durchwanderte dafür sein Geist einen Raum voller Licht und Harmonie. Das in Mariana personifizierte Leben war ihm nah und hold: wie sollte er nicht seinen Feinden verzeihen und glauben, daß die einzige Wahrheit im Weltall die Liebe ist?
»Wie machen Sie es, wenn Sie schreiben wollen?« fragte sie, um seine Gedanken abzulenken. Und sie redeten von allerlei Kleinigkeiten, und endlich faßte Jorgi sich ein Herz und erzählte ihr, daß er sie schon einmal gesehen, in Nuoro, in Begleitung einer andern Dame.
»Ich erinnere mich nicht,« sagte sie unbefangen.
»Es waren so viele Leute da, und alle sahen Sie an. Sie waren die Eleganteste. Sie trugen ein Kleid aus grauer Seide und einen glitzernden Schleier … Wer hätte gedacht, daß ich Sie hier wiedersehen würde?« Doch als fürchte er, ihr die ganze romantische Leidenschaft zu verraten, die ihre Erscheinung damals in ihm wachgerufen, fügte er schnell hinzu: »Und gefällt es Ihnen hier? Haben Sie schon die Aussicht von der Rathausterrasse gesehen? Und ein Plätzchen, das mir vor allen gefällt, ist das hinter dem Chor der Kirche. Gehen Sie doch einmal gegen Sonnenuntergang dorthin und sehen Sie zu, wie die Hochebene sich erst rot, dann violett färbt. Die ganze Landschaft erinnert an die Zeiten der Lehnsherrschaft: das auf Felsen zusammengedrängte und von Felsen umgebene Dörfchen, die Bergpfade, die wie für einen Hinterhalt geschaffen scheinen, die einsamen Bewaffneten, die, stets auf der Hut, zu Pferde, in ihren Mantel gehüllt, über die von rohen Mauern durchschnittenen Hänge reiten: dem allen wohnt etwas von uralter, ungesuchter Poesie inne.«
»Ja, das ist wahr! Auch von Zia Giuseppas Haus hat man eine wundervolle Aussicht, und ich eile immer von einem Fenster zum andern und deklamiere:
Il re veniva alle finestre a mare,
Il re veniva alle finestre a monte …
Avessi l'ale, potessi volare! …«
»Lieben Sie Pascoli?«
»Ich kann ihn fast ganz auswendig.«
»Und D'Annunzio?«
So fingen sie an, einander ihre Gedanken, ihre Vorliebe für diesen oder jenen Dichter anzuvertrauen und wie zwei gute Freunde zu plaudern. Mariana wendete sich dabei seinem Tischchen zu und nahm die daraufliegenden Dinge in die Hand: zuerst schüchtern, dann neugierig und endlich eigenwillig; sie glättete die zerknitterten Bücher, nahm die Feder aus der Nachbarschaft einer zinnernen Gabel fort und ordnete alles nach ihrem Sinn. Und Jorgi schämte sich seiner Armut nicht mehr; der Schleier des Fremdseins zwischen ihm und seiner Freundin war auseinandergerissen, Mariana war in seine Welt eingedrungen: mochte sie jetzt darin schalten und umherstöbern: sie brachte nur Ordnung und Frohsinn mit sich.
Doch die Zeit verging; die Sonne breitete bereits einen kleinen goldenen Teppich zu Füßen des Bettes aus; ein Sonnenfünkchen leuchtete auf dem Gesicht des kleinen Christus gleich einer Freudenträne, und aus dem Tal drang der süße Geruch des Weißdorns herauf. Auf einmal erklang auf der Straße wieder der Gesang der umherziehenden Knaben, die um Regen flehten: und von kindlicher Neugier getrieben, sprang Mariana auf und eilte hinaus.
Jorgi dachte an Petrus Wort: sie sieht aus wie ein Kind. Und der Begeisterung für sie, die ihn so beglückte, gesellte sich ein Gefühl von Zärtlichkeit bei … Aber wie sie lange blieb! Und alles rundum war so still und stumm und wartete auf ihre Rückkehr. Und wenn sie nun nicht mehr wiederkäme? Wenn alles nur ein Traum gewesen? Und er hatte ihr noch so vieles zu sagen, sie so vieles zu fragen! Er suchte das Taschenbuch, das er ihr geben wollte … Aber warum kam sie nicht? Der Gesang der Knaben war nicht mehr vernehmbar, doch allerlei Neugierige hatten sich auf der Straße eingefunden. Er erkannte die Leute an ihrem Schritt: der schwere, langsame war der des Gatten Bannas, der raschere, aber ein wenig schleppende der Zio Remundus … Vielleicht stand Columba an der Tür und sah Mariana. Und er fühlte sein Herz klopfen: ob vor Freude oder Bangen, das wußte er selbst nicht, doch er hätte schreien, sie zurückrufen mögen … Da, endlich! ein Knistern im Hof, ein Schritt, so hüpfend und leicht wie der Petrus: und da ist sie wieder, in der öden Kammer wird alles wieder lebendig und licht.
»Ich habe eine kleine Entdeckungsreise um Ihre Burg herum gemacht, Signor Giorgio. Wie hübsch ist es da unten auf der Straße. Man sieht das ganze Tal. Und wissen Sie, wen ich gesehen habe? Das Mädchen! Sie stand an der Tür, und der dunkle Türbogen und das Innere des alten Hauses bildeten einen prächtigen Rahmen für die gelbe und schwarze, feine und doch düstere Gestalt. Und der Alte zu Pferde: wirklich ein Bild! Alle Nachbarinnen eilten auf die Straße und betrachteten den Alten und das Mädchen und dann mich.«
»Signorina,« stammelte Jorgi und drückte das Taschenbuch krampfhaft auf seine Brust, »lassen Sie sich ums Himmels willen nicht mit jenen Leuten ein! Sie wären imstande, Ihnen etwas zuleide zu tun, bloß weil Sie hierher gekommen sind!«
»Sind sie wirklich so schlimm? Ich glaube nicht! Das Mädchen sieht eher unglücklich aus …«
»O, trauen Sie ihr nicht! Wenn Sie wüßten, was für eine Heuchlerin sie ist! Sie schweigt und schlägt die Augen nieder, und unterdes spinnt sie ihre bösen Pläne. Auch ich hatte sie in einem schönen Rahmen erblickt, dort oben auf einer Art Veranda, und mit dem Schaf zu ihren Füßen und dem wie von Träumen umwobenen Kopf erschien sie mir wie eine kleine Königin von Saba. Und statt dessen ist sie die echte Tochter verbrecherischer Vorfahren und der bittern Blüte des Oleanders gleich. Doch genug davon, lassen Sie uns nicht mehr von jenen Dingen sprechen … Sie sollen alles lesen; nehmen Sie diese Blätter, aber sehen Sie jetzt nicht hinein … Sie wollen doch nicht schon gehen? Es ist noch so früh! Ist Ihnen kalt? Hätte ich gewußt, daß Sie heute kommen würden, dann hätte ich Kaffee machen lassen für Sie …«
Sie schlug das Taschenbuch auf, dann nahm sie es unter den Arm und sah sich wieder rund um. »Soll ich Kaffee machen? Wo ist die Kanne?«
Er schämte sich zu sagen, daß Petru sich des kleinen Kochtopfes bediente. »Ich glaube, sie ist entzwei … Aber es war nur Ihretwegen, nicht meinetwegen … Und Sie würden sich Ihr teures Kleid verderben.«
Sie fing an zu lachen, ging im Zimmer umher und verspürte Lust, die Truhe zu öffnen und zu untersuchen. »Mein teures Kleid?« sagte sie. »Wissen Sie, wieviel das kostet? Alles in allem sechzehn Lire. Ich habe es selbst gemacht. Glauben Sie vielleicht, ich sei zu nichts nütze? Zu Hause tue ich alles selbst. Sie hofften wohl, ich wäre eine Herzogin?«
»Sie sind eine Königin!« sagte er galant.
Doch sie seufzte: »Ach, wie vieles fehlt mir zu einer Königin!«
»Was denn? Sie sind gesund, schön, jung …«
»Jung? Sie meinen, ich wäre jung? Ach, wie Sie sich täuschen, Signor Giorgio! Ich werden Ihnen nie sagen, wie alt ich bin; und wenn Sie mir eine halbe Million schenken, sage ich es Ihnen nicht; und wenn ich es Ihnen sagte, würden Sie's doch nicht glauben, denn die richtige Zahl wäre es ja nie! – übrigens,« fuhr sie fort, »was liegt an den Jahren? Mitunter ist es uns, als zählten wir sechzehn, und wir sind nur sechzehn; und mitunter ist es uns, als zählten wir hundert, und so alt sind wir dann.«
»Das ist wirklich wahr,« erwiderte er mit Überzeugung. Und sie plauderten weiter, harmlos, freundschaftlich. Doch trotz der frohen Erregung, die ihn für den Augenblick sein Leiden vergessen ließ, fühlte Jorgi sich müde; seine Augen trübten sich, seine Hand zitterte. Und die Sonne war nun schon auf sein Bett hinaufgeklettert, ihm ihre tägliche Liebkosung zu spenden; doch als richtige Freundin schien sie eifersüchtig auf die Fremde und bemüht, die Glieder und das Gesicht des Kranken in ihrer ganzen Verheerung zu zeigen. Ja, sie schien der Besucherin Schrecken einflößen zu wollen, indem sie sie die skelettartige Magerkeit Jorgis sehen ließ und das durchsichtige Gesicht, in dem nur die Augen lebten: und das junge Mädchen empfand in der Tat von neuem ein Gefühl von Schrecken und dachte bei sich: jetzt gehe ich; es ist Zeit! Sie betrachtete den blau und grünen Hintergrund der kleinen Tür und erbebte vor Freude bei dem Gedanken, daß sie fortgehen könne, durch jene kleine Tür hinausfliegen wie die Lerche … Doch die Augen Jorgis, die sie zärtlich und furchtsam anblickten wie die Augen eines Kindes, das fragt, vertraut und doch bangt, riefen sie in die Wirklichkeit zurück.
Was wird er tun, wenn ich gegangen bin? fragte sie sich. Warum bin ich gekommen? Und wird diese Beklemmung lange auf mir lasten?
»Jetzt dürfen Sie nicht mehr sprechen!« gebot sie ihm. »Sie sind müde. Ich bleibe noch einen Augenblick, dann muß ich gehen; ich habe Sie ermüdet und doch nur Dummheiten gesagt. Aber jetzt will ich Ihnen etwas von mir und von meinem Leben erzählen.«
Sie öffnete ihr silbernes Täschchen, betrachtete sich in dem kleinen Spiegel, der darin steckte, und schien unentschieden, ob sie das Taschenbuch hineinlegen sollte oder nicht. Endlich entschloß sie sich, klappte das Täschchen zu und ließ das Taschenbuch draußen.