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Erster Teil


I

Nachdem es eine Woche lang heftig gestürmt, geregnet, geschneit hatte, erschienen die Gipfel der Berge ganz weiß zwischen den dunkeln Wolken, die sich nun nach dem Horizont hin verzogen, und Oronou mit seinen roten, auf der grauen Kuppe hoher Granitfelsen erbauten Häuschen, mit seinen steilen und steinigen Gassen nahm sich in dem weiten Landschaftsbilde aus, als sei das Dörfchen mit genauer Not einer Sintflut entgangen.

Ihm zu Füßen stürzten Wildbäche tosend zu Tal, und in der Ferne, in der Ebene von Siniscola, glitzerten die Sümpfe und ausgetretenen Flußläufe unter den Strahlen der aus dem Meer auftauchenden Sonne. Das ganze Gelände, von den Bergen bis zur Küste, von der dunkeln Linie der Hochebene über Oronou bis zum Buschwald auf der Talsohle, schien gleichsam von Wasser zu triefen.

Das Dörfchen aber lag trocken auf seiner Höhe, und die Alten und Müßiggänger nahmen wieder ihre Plätze auf den Bänken auf dem Rathausplatze ein, der gleich einer großen Terrasse das Tal überragte.

Drei rote Gebäude, das Rathaus, das Pfarrhaus und das Haus einer reichen Bäuerin, alle drei mit vergitterten Fenstern im Erdgeschoß und Balkonen mit eisernem Geländer in den oberen Stockwerken, erhoben sich im Hintergrunde des Platzes.

Aus dem letzten dieser Häuser, vor dem sich, wie vor einem Nuragh, ein Patiu befand, d. i. eine kleine, halbkreisförmige, von einer ohne Mörtel gefügten rohen Mauer umgebene Erderhöhung, trat eine kleine, alte Frau, das blasse Gesicht halb verborgen von einem schwarzen Rock, der ihren Kopf und Oberkörper wie ein Mantel einhüllte; und bevor sie die Granitstufen hinabstieg, die von jener Erhöhung auf den Platz führen, sah sie sich mit ihren schwarzen, düsteren Augen rund um. Um ihren zahnlosen Mund lag ein Ausdruck von Spott und gleichzeitig von Mitleid.

Da sitzen sie nun alle auf den Bänken und an der Brüstung des Platzes, die Nichtstuer. So war es nicht immer. Einst war das Dorf in zwei Parteien gespalten, heftige Feindschaft entflammte selbst die Alten und die Kinder, und alle blieben in ihren Häusern und auf ihrem eigenen Grund und Boden, um auf das Ihre zu passen und sich vor den Feinden zu schützen. Aber auf Vermittlung der kirchlichen und der bürgerlichen Obrigkeit hatten die feindlichen Familien vor einigen Jahren Frieden geschlossen, die Gemüter sich, wenigstens dem Anschein nach, beruhigt, und eine Art Schlaffheit und Verweichlichung war im Dorfe eingetreten.

Den ganzen Tag lang spielten die Männer Morra wie die Kinder, und die Alten saßen gleich Morgenländern mit untergeschlagenen Beinen auf den Steinsitzen, schweigend und unbeweglich, tot schon, bevor sie die Augen für immer schlossen.

Die kleine Alte schüttelte den Kopf in der schwarzen Hülle und stieg langsam die Stufen hinab. Von Zeit zu Zeit kam noch ein pfeifender Windstoß daher, und die kahlen Bäume des Platzes bewegten sich vor dem lichten Himmelsgrund wie große Polypen im Wasser. Es war kalt, aber die bärtigen, rüstigen Bauern mit ihren frischen Gesichtern, tief schwarzen Augen und den starken weißen Zähnen gesunder Menschen waren in Filz, in Felle, in grobes Wollzeug gekleidet, trugen enganliegende Mäntel und hatten über der langen, zusammengelegten sardischen Mütze noch die Kapuze über den Kopf gezogen: sie fühlten das Blut heiß durch die Adern fließen. Wie Menschen aus andern Zeiten erschienen sie, und ihr fast völlig aus lateinischen Worten bestehender Dialekt erhöhte noch diesen Eindruck.

Die Frauen, die über den Platz zum Brunnen hinuntergingen, hatten sämtlich Kopf und Oberkörper in einen schwarzen Rock gehüllt wie die Araberinnen. Alle grüßten die Alte, als sie vorüberkam; sie dankte mit leichtem Nicken und stieg die Treppe hinab, die von dem Platze zu einer stark abschüssigen Straße führte.

Am Fuß der Treppe, in einem von eisernem Gitter umgebenen Tempelchen, sprudelte ein Brunnen: die schwarz verhüllten Frauen füllten dort ihre irdenen Krüge und schwatzten und schrien so laut, als ob sie sich stritten. Einige, die warteten, bis die Reihe an sie kam, begrüßten die Alte mit scherzenden Worten.

»Ihr seid ja heute so früh aufgestanden, Zia Giuseppa Fiore! Und wohin geht Ihr? Wenn ich Euer Geld hätte, so bliebe ich bis Mittag im Bett!«

»Zia Giuseppa Fiò! Geht Ihr in die Kirche? So bittet doch Christus, daß es bald warm wird.«

»Viele Grüße an Euren Nachbar, den Pfarrer! Eben ging er hier vorüber und zitterte wie ein Blumenstengel. Meiner Treu, Zia Fiò, er und Ihr seid ein paar Narren: Ihr könntet im Warmen sitzen und geht bei diesem Wetter umher … Man erfriert ja beinahe …«

»Deine Zunge ist noch nicht erfroren,« entgegnete die Alte ärgerlich und ging weiter.

Ein Bächlein, das sich auf der Straße gebildet, war mit einer dünnen Eisrinde bedeckt; von den Dächern der niedrigen, verräucherten Häuschen hingen gleich Stalaktiten lange Eiszapfen herab, auf den Dachsteinen und in Winkeln, in die die Sonne nicht drang, lag hier und da noch ein Schneerest; der Wind wehte scharf, und im Hintergrund einer jeden Gasse zeigten sich in dem schwindenden Nebel die fernen Berge.

Die alte Frau stieg die steile Gasse, die Hauptstraße des Dorfes hinab, bog um die Ecke, ging dann wieder einen schmalen Fußsteig aufwärts und befand sich auf dem Kirchplatz, der ebenfalls gleich einer Terrasse über einem Abgrund hing.

Von dort hatte man die Aussicht auf die ein wenig oberhalb des Dorfes beginnende Hochebene: man sah, wie die Landstraße sich über die die Kirche beherrschenden Felshänge hinwand und bei der den Gesichtskreis begrenzenden, fast schnurgerade sich hinziehenden dunkeln Waldung verschwand. Und die Kirche mit ihrem steinernen Turm und der verwitterten, hin und wieder mit Efeu und Quecken bewachsenen Fassade nahm sich vor jenem großartigen Hintergrunde aus wie der Überrest eines verfallenen Kastells.

Die Alte schritt über den ungepflasterten Platz und trat in die Kirche. Auch da drinnen war alles kalt, nackt, traurig; nur einige alte Frauen und ein Bettler wohnten der Messe bei, und die matte Stimme des jungen Priesters schallte in dem leeren Raume, zwischen dem Pfeifen des Windes, der sich am Turme brach.

Nach der Messe wartete die Alte, bis alle hinausgegangen waren, und richtete es so ein, daß sie unter dem Portal mit dem Priester zusammentraf, der eilig dem Ausgang zuschritt, in einen dicken Mantel gehüllt, die Hände in die Ärmel gesteckt und das weiße, sommersprossige Albinogesicht halb verdeckt von einem schwarzen Schal. Er zitterte vor Kälte, und seine kleinen grauen, von langen weißen Wimpern verschleierten Augen tränten.

»Guten Morgen!« grüßte die Alte, ihm mit ihren großen, düsteren Augen fest ins Gesicht sehend. »Es freut mich, daß Ihr genesen seid. Geht es jetzt gut?«

»Wenigstens nicht schlecht,« erwiderte er mit belegter Stimme. »Wir wollen hoffen, daß das Wetter sich endlich bessert, dann werden wir uns auch bessern.«

»Nun, die Luft ist hier frisch genug!« fuhr die Alte fort und folgte ihm über den Platz.

»Allzu frisch, Zia Giusè!« entgegnete er, vor ihr hergehend, ohne sie anzusehen.

»Auf jeden Fall bekommt Euch diese Luft nicht schlecht!«

»Nun, von den drei Monaten, die ich hier oben bin, habe ich zwei in meinem Bett mit Niesen verbracht, Zia Giusè! So wollen wir wenigstens hoffen, daß es im Sommer hübsch frisch hier ist.«

»Ach, der Sommer hier oben ist ein wahres Paradies, Missignoria Euer Gnaden., das sollt Ihr sehen. Aber Ihr schont Euch auch nicht. Heute, zum Beispiel, war kein Tag zum Ausgehen. Nehmt Euch doch ja in acht! An Holz und allen guten Gottesgaben fehlt es Euch doch nicht. Übrigens ist eine Erkältung noch keine Krankheit; auch ich bin vier Tage bettlägerig gewesen, und an Arbeit fehlte es mir sicher nicht. Heute morgen bin ich nur der heiligen Messe wegen ausgegangen und um einen Kranken zu besuchen; der freilich, der ist wirklich krank!«

»Wer ist's?«

»Ein unglücklicher Bursche, ein Student …«

»Ah, ja, ich verstehe!«

»Ein unglücklicher Bursche,« wiederholte die Alte, ohne auf den ziemlich lebhaften Ausruf des Priesters zu achten. »Vor einigen Monaten hat man ihn arg verleumdet, gerade bevor Missignoria ins Dorf kam, und vor Kummer darüber ist er schwer erkrankt … und es scheint, er wird nicht wieder gesund … Bis vor wenigen Tagen war er in Cagliari im Hospital, aber jetzt hat er sich hierherbringen lassen, weil er, wie sie sagen, in der Heimat sterben will … Sie sagen, er wolle niemand sehen … aber ich will ihn jetzt aufsuchen … Eher konnte ich nicht, weil ich selbst nicht wohl war.«

Der Priester blieb stehen.

»Wessen beschuldigt man ihn?«

Wieder sah die Alte ihm ins Gesicht und kniff ein Auge zu, wie um ihm anzudeuten: Ihr kennt ja die ganze Geschichte und tut, als wüßtet Ihr nichts davon?

»Lieber Himmel,« rief sie in pathetischem Ton, »möchte kein Sohn seiner Mutter je des geziehen werden, des man ihn beschuldigt! Des Diebstahls, Missignoria; er soll im Hause seiner Braut, oder richtiger gesagt, in ihres Großvaters Remundu Corbu Haus Geld gestohlen haben.«

Der Priester nickte Ja, zog die in braunwollenen Handschuhen steckenden Hände aus den Ärmeln und betrachtete die eine nach der andern.

»Wann ist der junge Mann zurückgekommen?«

»Vorgestern, glaube ich. Fast niemand hat es bemerkt.«

»Hat er keine Verwandten?«

»Niemand; er ist allein mit seinem Unglück. Ein neunjähriger Junge wartet ihn.«

Schweigend und eilig ging der Priester weiter, und die Alte folgte ihm bis zur nächsten Gasse.

»Missignoria wird den armen Jorgeddu doch gewiß besuchen,« fuhr sie fort. »Ich werde es dem Unglücklichen sagen; ich werde ihm sagen, daß Ihr noch nicht gekommen seid, weil Ihr von seiner Rückkehr noch nichts wußtet. Ach, er ist nicht schlecht, der Unglückliche. Viele Leute freilich möchten ihn in übeln Ruf bringen, indem sie sagen, er sei ein Ungläubiger, ein schlechtes Subjekt; und viele stellen sich, als wüßten sie nicht, daß er wieder hier ist, um sich von ihm fernzuhalten. Aber wäre er auch der, als den ihn seine Feinde hinstellen: ist das ein Grund, ihm nicht beizustehen? Er ist gelähmt, er ist so arm wie Christus, und man steht doch den Aussätzigen, ja den Juden bei: warum sollten wir einem Christen nicht beistehen?«

»Wohl, wohl,« sagte der Priester zerstreut und ein wenig gelangweilt, »später will ich ihn besuchen. Man sagt mir, er sei ein anmaßender Mensch: daß er hier nur keinen Anstoß gibt. Addio!«

Ah, Ihr wußtet also auch, daß er wieder hier ist? dachte die Alte, indem sie den schmalen Fußsteig hinunterging, während der Priester die zum Brunnen führende Straße einschlug.

Vor den kleinen Türen der uralten Häuschen, an denen die Alte vorüberkam, befanden sich so hohe Steinstufen, als hätten die Bewohner dieser Höhlen die Beine von Riesen oder als wollten sie sich vor einer möglichen Überschwemmung sichern.

Nur das vorletzte Haus der schmalen Gasse hatte zwei Stockwerke und drei Eingänge; mit seinen von Alter geschwärzten Mauern und den kleinen, unregelmäßigen, vergitterten Fenstern gemahnte es gleichfalls an ein mittelalterliches Kastell. Der große mittlere Eingang in gleicher Höhe mit der Straße stand halb offen; er führte zu einem mit Sandstein gepflasterten Torweg und einem dahinter befindlichen Hof, in dem ein gesatteltes und mit Quersäcken bepacktes Pferd ungeduldig den Boden stampfte. Doch die Alte gönnte dieser Wohnung unzweifelhaft wohlhabender Leute kaum einen scheelen Seitenblick, schritt vorüber und trat in den daneben gelegenen, von einer Mauer umgebenen ungepflasterten Hof.

Eine traurige, öde Stätte: gefrorene Pfützen nahmen den kleinen, schiefen Hof ein, und die elende Behausung im Hintergrunde sah aus, als wäre sie unbewohnt. Eine äußere Treppe mit halb verwitterten Stufen führte zu dem einzigen Zimmer des oberen Stockwerks.

Darauf bedacht, nicht auf das Eis der Pfützen zu treten, durchschritt die alte Frau das Höfchen und öffnete die Tür zu einem unteren Zimmer. Modergeruch schlug ihr entgegen. Sie trat ein, ohne zu grüßen, beinahe verstohlen, und sah sich um.

Das Zimmer war groß und niedrig, die Wände erdfarben und die Balkendecke schwarz von Ruß. Der Raum hatte wohl früher als Küche gedient, denn in der Mitte, auf dem Fußboden aus festgestampftem Lehm, waren noch die vier steinernen Leisten des Herdes sichtbar. Man hätte glauben können, man befände sich unter der Erde, wäre nicht der schwache bläuliche Lichtschimmer gewesen, der durch ein Fensterchen einfiel, das in einer dem Eingang gegenüberliegenden kleinen Tür angebracht war. Dieser schwache Schimmer beleuchtete eine dunkle Truhe, ein Tischchen und ein hölzernes Bett. Bis zum Halse von einer grauen Wolldecke eingehüllt, ein weißes Tuch um den Kopf gebunden, lag ein menschliches Wesen, anscheinend schlafend, auf diesem traurigen Lager. Beim ersten Anblick sah es aus wie eine Frau: die Gesichtszüge waren fein und zart, und zu Seiten der hohen Stirn hingen zwei Strähne schwarzen, weichen Haares herab. Unter der Haut von bläulich grauer Färbung zeichneten sich die Knochen deutlich ab, und die breiten Lider mit den langen Wimpern sahen aus, als wären sie mit Bister gefärbt. Ein leichter Flaum bedeckte die Oberlippe, unter der die ziemlich großen und wohl ein wenig vorstehenden Zähne erkennbar waren.

Ein Ausdruck von Mitleid sänftigte das düstere Gesicht der Alten; leise, leise schlich sie sich zu dem Schemel am Bett, setzte sich und betrachtete die wenigen Bücher und übrigen Gegenstände: eine Flasche, ein Glas, ein Klappmesser, die auf dem Tischchen ohne Decke lagen, und bemerkte, daß, obwohl man den Kranken einen Ungläubigen schalt, an der Wand ein kleiner schwarzer Christus sein Haupt auf ein Kreuz aus hellem Metall neigte, als betrachte er den Schläfer.

Merkwürdig, daß hier gar keine Arzneien sind, dachte die Alte bei sich, und sie sagen doch, er sei sterbenskrank …

Fast als wolle er dieses Gerede widerlegen, schlug der Kranke jetzt die Augen auf: große leuchtende schwarze Augen, und bekam Leben wie ein unvermutet wieder auflebender Toter. Sein Gesicht färbte sich, und zwischen den trockenen Lippen zeigten sich die kräftigen, sehr weißen Zähne.

Die Alte nahm seine lange, fleischlose Hand mit den bläulichen, sorgfältig gepflegten Nägeln.

»Jorgeddu mio, wie sehe ich dich wieder!«

»Wie Gott will!« erwiderte er, seine Hand zurückziehend. Seine Stimme war klangvoll und widerhallte laut in der öden, trostlosen Kammer.

Die Alte fuhr fort: »Es bricht mir das Herz, dich so zu sehen! Aber wir wollen hoffen, daß deine Leiden nun bald aufhören, liebes Herz. Erst gestern habe ich deine Rückkehr erfahren und wäre gleich zu dir gekommen, aber es ging mir auch nicht gut.«

»Und es regnete!«

»Das hätte mich nicht abgehalten, lieber Sohn. Aber ich hatte auch andere Verhinderung: ich muß das Haus instandsetzen, weil der königliche Kommissar bei mir wohnen soll. Du weißt, daß sie den Gemeinderat aufgelöst haben, weil ihrer darin saßen, die doppelten Nutzen aus ihrem Amt zogen, und da die andern doch auch leben wollen, kam es dahin, daß sie alle miteinander rauften wie die Hunde um einen Knochen …«

Sie sprach hastig, als wolle sie mit ihren Neuigkeiten den Kranken betäuben; doch der ließ sich nicht beschwichtigen, und wenn auch sein Gesicht wieder die Farbe verlor, so sprach doch aus seinen Augen fortdauernd ein innerer Zorn, eine Empfindung ängstlichen Mißtrauens.

»Jetzt kommt, wie gesagt, aus Nuoro der Kommissar; sie sagen, er sei Präfektursekretär, Kavalier und ein rechtlich gesinnter Mann. Er wird hier Ordnung schaffen und, wer weiß, vielleicht auch Gerechtigkeit üben … Du verstehst mich wohl, Jorgeddu, du weißt, wen ich meine …«

»Ich stehe vor Gott, Zia Giusè. Er allein kann mir Gerechtigkeit erweisen!«

»So mußt du nicht reden, mein lieber Sohn! Du bist jung und wirst bald wieder gesund werden. Wie ist es denn mit deiner Krankheit?«

»Das weiß ich selbst nicht. Meine Beine sind wie gelähmt, in den Händen spüre ich ein fortwährendes Kribbeln, und wenn ich versuche, den Kopf zu heben, so überfällt mich ein furchtbarer Schwindel … Ich weiß es nicht … ich weiß es nicht …« fuhr er mit zitternder Stimme fort und biß sich die Lippen, um das Weinen zurückzuhalten. »Ich bin wie ein Kornhalm, den der Sturm geknickt hat … Die Ähre ist reif … und liegt am Boden, und niemand wird sie auflesen …«

»Aber die Ärzte? Was sagen die denn? Der hiesige ist ja halb verrückt und mag die Sache wohl nicht verstehen; aber die andern, die in der Stadt? Die sind doch superklug …«

Die Erinnerung an die Ärzte und ihre Widersprüche brachte den Kranken auf; sein zartes Gesicht nahm einen Ausdruck von Energie an, der mit dem Zittern seiner Lippen kontrastierte, mit den Tränen, die den Rand seiner Lider netzten. Und wie ein Spiel von Licht und Schatten, von Leben und Tod zog es über dieses leichenhafte Gesicht hin, über diese Stirn, hinter der noch eine starke, rebellische Seele wohnte.

»Was wissen denn die Ärzte? Auch sie … Wir sind alle gleich, alle unwissend! Der eine sagte mir, ich müsse in acht Tagen sterben, der andere, in zehn Jahren; dieser riet mir dortzubleiben, jener hierher zurückzukehren …«

»Daran hast du gut getan. Und sage mir eines: Bist du allein? Wer hilft dir? Deine Stiefmutter?«

»Sie haßt mich! Ja, ich bin allein wie das verwundete Wild in seiner Höhle. Alle halten mich für einen Dieb und niemand kommt mir nahe …, auch weil sie fürchten, ich könnte sie um Almosen bitten … Nein, Zia Giusè! Ich brauche nichts; ich verlange nur, daß sie mich in Ruhe sterben lassen. Quält mich nur nicht mehr …«

Doch die Alte fragte unerbittlich weiter: »War der Doktor von hier bei dir? Was sagt denn der Narr?«

»Er sagt, ich würde wieder gesund. Ich weiß aber, daß ich sterben werde, und bin gerade deshalb hierher gekommen, damit einer mich sterben sieht und sich sagt: »Ich habe ihn umgebracht!«

»Und du glaubst, der würde je bereuen? Da täuschest du dich, mein Sohn: das ist eine Mörderbande, die sind das Umbringen gewohnt, und die einzige Waffe, mit der man denen beikommen kann, ist ihre eigene.«

Er bewegte die Hand, als wolle er die Alte fortschieben, und murmelte: »Genug … Für mich sind sie alle tot …«

»Nein nicht alle. Ich bin hier, um dir zu helfen, wenn du es willst. Soeben bin ich dem neuen Pfarrer begegnet. Er wohnt in meiner Nähe, aber ich sehe ihn selten, weil auch er immer kränklich ist. Er sagte, er hätte noch nichts von deiner Rückkehr gewußt. Wer weiß? … Auf jeden Fall habe ich es ihm jetzt mitgeteilt, und er hat versprochen, dich zu besuchen. Das ist übrigens seine Pflicht. Aber nimm ihn gut auf, er ist nicht böse. Nur, sagen sie, ist er nicht gern hier heraufgekommen, und in den drei Monaten, die er hier ist, hat ihn noch niemand lachen sehen. Empfange ihn mit Ehrerbietung: wenn die Leute sehen, daß er zu dir kommt, werden sie eine bessere Meinung von dir bekommen …«

»Sie werden sagen, ich hätte ihn rufen lassen, um zu beichten.«

»Gut! Alle Christenmenschen sündigen, mein Sohn: nur die großen Sünder, die der Hölle verfallenen Seelen beichten nicht. Siehst du die da? Sie gehen fast nie in die Kirche, und die Leute sagten sogar, das Mädchen habe dir gefallen, weil du ein Ungläubiger seist … Ich verstehe dich, liebes Herz,« fuhr die Alte fort, als sie sah, wie der Kranke seine Hand unter die Wange schob und müde die Augen schloß: »Es tut dir weh, wenn man von deinen Feinden spricht, das ist, wie wenn man in einer Wunde umherwühlt. Aber du tust unrecht, ihnen zu verzeihen. Nicht einmal Gott verzeiht den Verleumdern, den Verderbten. Du hättest sie verklagen sollen … aber dazu ist immer noch Zeit, und ich werde dir als Zeugin dienen, wenn du willst. Ich kenne die schlechten Menschen seit lange schon und ich allein weiß, wozu das alte Wildschwein imstande ist. Er ist mein Ruin gewesen, der Ruin meines Hauses … Aber jetzt kommt der Kommissar und wird manches in Ordnung bringen, jetzt mußt du deine Ehre verteidigen; und da der Alte nicht mehr im Gemeinderat sitzt, wird es wohl leichter sein, Gerechtigkeit zu erlangen. Ich werde schon Zeugen finden, lieber Sohn; viele, die sich nun nicht mehr fürchten auszusagen, daß Remundu Corbu dich verleumdet hat. Ich will für dich tun, was eine Mutter für ihren Sohn tun könnte: ich werde selbst nach Nuoro gehen und einen Advokaten für dich suchen … Aber du sollst nicht stilliegen wie die Eidechse unter dem Stein: ein Mann muß immer seine Ehre verteidigen …«

Giorgio zitterte vor Unwillen; doch er schloß die Augen und biß die Zähne zusammen, um sich zurückzuhalten, und durch sein Schweigen ermutigt, fuhr die Alte fort: »Ich nehme den Kommissar in meinem Hause auf, und dir will ich es sagen, ich tue das nur, weil ich hoffe, er wird uns Gerechtigkeit verschaffen; sonst hätte ich es nicht getan, denn ich habe es, Gott sei Dank, nicht nötig, mir Unbequemlichkeiten aufzuladen. Ich bin Witwe und stehe allein, und obwohl das alte Wildschwein mich gern ins Elend gebracht hätte, ist ihm das nicht gelungen. Er hat mich betrogen und bestohlen – aber alles konnte er mir nicht nehmen. Du kennst die Geschichte; seine Frau war meine Base, wir hatten einen gemeinsamen Onkel, den alten Pfarrer Fiore, der seinen Besitz zur Hälfte mir und zur Hälfte ihr hinterließ. Und was tat Remundu Corbu? Er bemächtigte sich des Ganzen: das Haus, in dem er wohnt, war mein, die Tanca große, von Mauern umgebene Viehweide., auf der sein Vieh weidet, war mein … Und dann begann der Prozeß; aber es war die Zeit der Feindschaft hier im Dorfe, und das Gericht entschied unsere Sache nicht zu Recht, weil man glaubte, alle Zeugenaussagen seien unzuverlässig, alle sprächen und handelten nur ihrem eigenen, persönlichen Haß entsprechend. So verlor ich den Prozeß, und mein Mann starb vor Herzeleid. Er war ein frommer Mann, und Gott hab ihn selig, aber er war so lind und weich wie Honig … Ja, auch er war wie du, liebes Herz: er starb lieber vor Kummer, als daß er sich selbst Gerechtigkeit verschafft hätte. Und doch war er die Säule meines Hauses, denn auch ein schwacher Mann ist mehr wert als sieben starke Weiber, und nach seinem Ableben war ich wie eine wunde Hindin: wozu nützen ihr ihre Beine, wenn sie nicht laufen kann? Aber die Frau ist geduldig, mein Sohn; sie stirbt nicht vor Herzeleid, weil sie warten kann, weil sie an den Tag des Gerichts glaubt; und Giuseppa Fiore ist eine Frau! Du verstehst mich …«

»Ja, ich verstehe Euch!« rief er und riß die vor Unwille funkelnden Augen auf. »Ihr seid nicht aus Mitleid hergekommen, sondern aus Haß. Geht!«

Sie begriff, daß sie für den Augenblick nicht weitergehen durfte; und während sie mit der einen Hand in ihrer Tasche suchte, legte sie ihm die andere auf den Kopf und sagte sanft: »Nicht böse werden! Das könnte dir schaden. Ich hasse niemand, aber mich verlangt nach Gerechtigkeit. Auch Christus vertrieb die Betrüger aus dem Tempel. Aber du mußt dich nicht aufregen, mein Herz; du mußt dich ruhig halten und gut pflegen. Brauchst du nichts?«

»Nichts!«

»Was es auch sei, laß es mich wissen … Und nimm den Priester gut auf, das empfehle ich dir an …«

Sie zog eine Silbermünze aus der Tasche und versuchte, sie unter das Kissen des Kranken zu schieben; doch er bemerkte es und stieß ihre Hand fort.

»Ich will nichts! Laßt mich um Himmels willen in Ruhe … Geht!«

Die Alte stand auf und steckte die Münze wieder ein.

»Du tust unrecht daran, die Leute so zu behandeln, Jorgeddu mio! Du, der doch seinen Feinden verzeiht, du solltest wenigstens die Freunde besser aufnehmen!«

»Freunde!« sagte er stolz und traurig. »Seit drei Tagen liege ich hier, und keiner ist gekommen, mir nur ein gutes Wort zu sagen. Die erste, die sich meiner erinnert, seid Ihr! Aber Euch, ich wiederhole es: Euch trieb der Haß … Genug! Ich bin hierhergekommen, um hier zu sterben, um mich in diese Kammer zu vergraben wie in eine Gruft; und nicht einmal in meinem Grabe lassen sie mich in Frieden …«

Sein Gesicht verzog sich wie zu einem bitteren Lächeln – doch er brach in Tränen aus, und kindliches Schluchzen erschütterte den armen, zum Skelett abgemagerten Körper.

Da begriff selbst die Alte, daß nichts einen solchen Schmerz zu trösten vermochte; wildes Mitleid erfaßte sie – aber keine Träne feuchtete ihre düsteren Augen. Ohne noch ein Wort zu sagen, hüllte sie sich wieder in ihren Rock und ging.

Der Anblick des Elends Jorgi Nieddus hatte ihren Haß verdoppelt, und sie war nunmehr fest entschlossen, Recht zu suchen gegen den gemeinsamen Feind: Gerechtigkeit für sich, Gerechtigkeit für den unglücklichen jungen Mann.


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