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III

Gegen Mittag kam der kleine Diener wieder. »Meine Mutter hat noch immer mit dem Brot zu tun; so bin ich bei ihr vorgegangen, und da habe ich gehört, wie die Weiber von Euch sprachen und sagten: Wenn der Priester hingeht, so ist das ein gutes Zeichen; ein Zeichen, daß Jorgeddu bereut und seine schlimmen Bücher ins Feuer werfen will; vielleicht wird der Herr ihm helfen … Und meine Mutter sagte: Vielleicht kann Martina eine Arznei für ihn machen und ihn von dem Zauber lösen, den Zuanpetru Johann Peter. Cannas über ihn geworfen hat. Was meint Ihr nun? Soll ich Zia Martina sagen, daß sie einmal herkommt?«

»Aber geh doch! Sei still davon und brate mir die Nieren gut; tu' auch Knoblauch dazu und trockenen Rosmarin, wenn du welchen hast.«

»Woher sollte ich wohl trockenen Rosmarin haben? Frischen wüßte ich schon zu finden: oben auf dem Kirchhof hab ich welchen gesehen.«

»Ah, der paßt ja gerade für mich!«

Und sie lachten beide, während der angenehme Duft der gebratenen Nieren sich durch das Zimmer verbreitete und den Appetit des Kranken reizte. Er aß gierig wie ein Kind; und nachdem Petru noch ein wenig aufgeräumt, ging er wieder und sagte nochmals: »Also, wenn der Priester kommt, so fragt ihn um ein Sonetto, ich bitte Euch darum. Jetzt wird es wieder Frühling, dann kommen die langen Tage, und es ist hübsch, nach dem Essen im Schatten zu stehen und zu spielen. Ich stelle mich dann an die kleine Tür und Ihr schlaft.«

Der Kranke meinte schon die wohlige Erschlaffung des Frühlings zu spüren; übrigens empfand er beständig leisen Schwindel und eine Schlafsucht, die ihn nur in Augenblicken großer Erregung verließ: die Vergangenheit, in der er ausschließlich lebte, erschien ihm wie ein verworrener Traum, und in der Gegenwart war für ihn alles dunstig, trübe; und doch lächelte durch diesen wallenden, düsteren Schleier das Leben ihm noch zu wie eine Sirene aus den Tiefen des sturmbewegten Meeres.

Der Tag verging, langsam und traurig in der öden Kammer, leuchtend da draußen im Dorf und in den Tälern voller Wind und voller Sonnenschein: er zählte die Stunden, die die Turmuhr von Santu Jorgi anschlug, und deren Schläge wie Krähenruf klangen; und in seinem Halbschlummer wartete er immerzu auf den Priester, empfand aber auch, wie seit dem ersten Augenblick nach seiner Rückkehr, ein sehnendes Verlangen, den Wunsch und die Hoffnung, vor oder nach dem Priester möchte auch jemand anders kommen …

Er vernahm das leiseste Geräusch auf dem Hofe, und die fernen Stimmen, das Wiehern der Pferde, das Krähen der Hähne, jede Schwingung, jeder Laut erweckte ihm eine Erinnerung.

Ein Schritt, der endlich auf dem Kies der Straße ertönte, weckte ihn aus seiner Schlaftrunkenheit. Der Sonnenuntergang des Märzmonats rötete die Scheibe des kleinen Fensters, und die Luft draußen war ganz lau geworden; drinnen aber, in seiner traurigen Kammer, hielt der Modergeruch an, und im Hintergrund, bei der Hoftür, war es schon fast dunkel.

Eine verschleierte, ja ein wenig heisere Stimme bat um die Erlaubnis einzutreten, und die hohe, gebückte Gestalt des Priesters kam behutsam, wie zögernd näher. Wieder hatte er den schwarzen Schal um das farblose Gesicht gelegt und die Hände in den Ärmeln. Giorgio sah ihm fest ins Gesicht, und dieser von Intelligenz leuchtende, wie der eines Kindes klare und sprechende Blick schien den Besucher noch mehr einzuschüchtern.

»Defraja, der neue Pfarrer,« murmelte er, sich ein wenig über das Bett beugend.

»Nehmen Sie Platz!« bat der Kranke, auf den Schemel deutend. Und er bemerkte, daß die Hand des Priesters, die sich schüchtern auf die seine legte, fast so blaß und mager war wie seine eigene; doch statt Rührung empfand er eine dumpfe Gereiztheit darüber. Wenn der Priester selbst krank war, wenn er wußte, was der Schmerz ist, so hätte er sich früher rühren sollen, um seinesgleichen zu trösten. Zu lange hatte er gezögert, und Giorgio zählte ihn jetzt seinen Feinden zu.

Doch der andere verstand diese Regung sofort und suchte sich zu entschuldigen: »Erst heute früh erfuhr ich von Ihrer Rückkehr … Sonst wäre ich gleich gekommen, obwohl ich ein wenig Fieber hatte …«

Er setzte sich und betrachtete angelegentlich die Bücher auf dem Tischchen.

»Und das Wetter war so schlecht!« sagte Giorgio bitter. Andere unfreundliche Worte wollten ihm auf die Lippen steigen; doch er beherrschte sich, auch weil er ohnehin sicher war, daß der Priester ihn irgendwie provozieren werde: dann würde die Reihe zu reden an ihm sein, und nicht um sich zu verteidigen, sondern um anzuklagen.

»Sind Sie schon lange krank? Und wie hat Ihre Krankheit angefangen?«

»Ich weiß nicht … Der Arzt sagt, es sei ein Fall von akuter Neurasthenie: vielleicht ist das nur eine mitleidige Lüge. Ich halte es für eine Lähmung.«

»Fühlen Sie denn Schmerzen?«

»Ja, im Kopf; und sehr schmerzhaften Schwindel, wenn ich mich aufrichte …«

»Eine Lähmung würde nicht diese Wirkung haben. Es wird schon Neurasthenie sein, die Krankheit unserer Zeit! Selbst die Hirten auf den Bergen und die Frauen in den Dörfern leiden daran …«

Er redete im Ernste und in der guten Absicht, den Kranken zu trösten; dieser aber entgegnete spöttisch: »Auch die Hirten und die Bäuerinnen können eine Seele besitzen oder vielmehr ein empfindliches Nervensystem und vor Kummer krank werden …«

»Aber eine Neurasthenie ist nicht die Folge moralischen Leidens; Verweichlichung, das hastige Leben unserer Zeit, Überanstrengung des Gehirns und physische Erschöpfung sind es, die sie hervorrufen …«

»Sagen Sie immerhin Ehrgeiz, Genußsucht, unheilvoller Strebergeist – mich kränkt es nicht!«

»Ich sprach im allgemeinen. Übrigens treiben sie es auch auf dem Dorfe toll genug im Punkt des Ehrgeizes, der Eitelkeit, der Laster. Und je spärlicher die Bevölkerung ist, um so heftiger sind die Leidenschaften. Ich sehe, daß es auch hier oben – obwohl die Bevölkerung im Grunde gutmütig und anständig gesinnt ist – an übertriebener Eigenliebe, an Ehrgeiz und Mißtrauen nicht mangelt. Und es ist allenthalben das gleiche: überall stoßen die Menschen gegeneinander wie die vom Wind bewegten Blätter einer Pflanze, und man vergißt, daß unser Leben nur ein Hauch ist, der vorüberweht …«

»Eben deshalb muß man es genießen!«

»Wenn man es in zulässiger Weise vermag! Oder wenigstens ohne den andern zu schaden. Wenn man das aber nicht kann? Dann muß man sich eben fügen, verzichten und denken, daß Gott uns in diesem Leben Trübsal schickt, um uns im künftigen dafür zu entschädigen … Ein jedes Leid wird uns dort doppelt und dreifach durch Freude aufgewogen; es ist gleichsam eine Anleihe auf Wucher …«

Die Augen des Kranken funkelten. »Und die, die Böses tun? Die das Böse um des Bösen willen tun, auch wenn es zu ihrer Glückseligkeit gar nicht notwendig ist? Was ist ihnen vorbehalten?«

»Das wissen Sie besser als ich!«

»Die Hölle, nicht wahr? Aber sie lachen darüber, über die Hölle! Und doch gehen sie zur Kirche und sind die Freunde der Priester … Wie erklären Sie das?«

»Sie sind eben Heuchler …«

»Und warum bemühen sich alsdann die Diener Gottes nicht, sie zu entlarven? Entschuldigen Sie, warum suchen Sie nicht jene auf, statt mich?«

»Was wißt Ihr davon, ob ich sie aufsuche oder nicht?« rief der Priester aus, den Kranken plötzlich mit Ihr anredend, während zwei rote Flecken auf seine Wangen traten.

»Wahrhaftig, Sie hätten auch sagen können: Und bin ich nicht zu dir gekommen? Denn vielen zufolge bin ich ein Missetäter, der aus Eigennutz die göttlichen und menschlichen Gesetze mit Füßen getreten hat. Und Sie kommen zu mir, mich zu bekehren, zur Beichte und Buße zu bewegen …«

»Niemand von uns kann sagen, ich bin ohne Sünde! Das Gegenteil behaupten, heißt schon durch Hoffart sündigen, durch Auflehnung gegen Gott. Und wer wie Ihr, nehmen wir immerhin an ungerecht, verleumdet und verfolgt worden ist und nicht die Hand Gottes erkennt, gegen jenen göttlichen Willen aufbegehrt, der selbst Christus seinen Weg wies und ihm Leid bereitete, nun, wer so handelt, tut durch sein schlechtes Beispiel mehr Übles, als wenn er wirklich das Böse begangen hätte, dessen man ihn beschuldigt!«

»Danke! Das ist ja nicht schlecht. Ich hätte also besser getan zu stehlen, als jetzt zu Ihnen zu sagen: Ich will in Frieden sterben, ich will keinen von denen mehr sehen, die mich gepeinigt haben!«

»Aber ich habe Euch nicht gepeinigt,« murmelte der Priester versöhnlich, beinahe gerührt.

»Sie sind schlimmer als die andern! Jene wenigstens kümmern sich nicht mehr um mich, seit sie wissen, daß ich unterlegen bin. Sie dagegen kommen und quälen mich noch jetzt! Ach, Pfarrer Defraja, Sie quälen einen Toten!«

»Aber ich quäle Euch ja nicht, lieber Sohn, habt doch ein Einsehen! Wenn Ihr es wünscht, gehe ich sogleich und lasse Euch in Frieden. Aber sagt nicht, was nicht so ist.«

»Wie denn: nicht so ist? Sie kommen und reden mir vom zukünftigen Leben, von Belohnung und Wucherzinsen … kurz, Sie sagen mir: Bedenke, daß du dem Tode nahe bist, beichte, gib deinen Feinden die Genugtuung, dich schuldig zu bekennen; ist das … heißt das nicht mich quälen?«

Der Priester schüttelte den Kopf, aber seine Augen wichen denen des Kranken aus, und ein Ausdruck beinahe ironischen Mitleids breitete sich über sein Gesicht.

»Genau so habe ich nicht zu Euch gesprochen. Jeder Kranke beichtet, ohne deshalb den Glauben zu wecken, er habe Verbrechen begangen. Wer immer an Gott glaubt, ist darauf bedacht, seine Seele reinzuwaschen, bevor er sich ihm naht, wie wir uns das Gesicht waschen und die Kleider wechseln, wenn wir uns zu jemand begeben, der über uns steht. Nur wer nicht an ihn glaubt …«

»Ich glaube an Gott,« sagte der Kranke in ernstem Ton; »aber zwischen ihm und mir bedarf es keines Vermittlers; meine Seele liegt nackt und rein vor ihm und braucht die Kleider nicht zu wechseln …«

Wieder schüttelte der Priester das auf die Brust gesunkene Haupt, wie um anzudeuten: Nein, nein, wir verstehen uns nicht!

»Ja,« wiederholte der Kranke nochmals, »meine Seele liegt nackt und rein vor dem Schöpfer da, und jegliche Berührung könnte sie beflecken … Er hat mich gereinigt mit Eisen und Feuer, und ich erkenne und segne seine Hand; aber mit Abscheu weise ich den Richterspruch eines jeden Menschen zurück, sei es auch ein Priester. Für mich ist Mensch gleichbedeutend mit Lüge, mit Falschheit … Weg mit ihnen, ich will niemand mehr sehen … Als Kind schon hat man mich gequält, mißhandelt, mit Füßen getreten; mein Vater sogar täuschte mich … und ich steifte mich noch darauf, an die Güte der Menschen zu glauben … Ich war ehrgeizig, ja, ich gestehe es; ich wollte mich über die andern erheben, und das war mein Unglück … Aber ich war nie schlecht, und mein einziger Irrtum war der, daß ich das Leben liebte, wie ich es noch liebe und lieben werde bis zum letzten Atemzug.«

»Sie verwechseln die Liebe zum Leben mit der Eigenliebe. Wer das Leben liebt, liebt auch seinen Nächsten, verzeiht die Irrtümer anderer und wirft die Missetäter nicht mit den guten Seelen zusammen, die es noch auf Erden gibt …«

»Es mag ihrer geben – doch nicht für mich! Mein Schicksal ist, daß alle, die mir nahekommen, böse werden. Und darum fort mit ihnen! Sie sollen mich in Frieden sterben lassen. Seit drei Tagen liege ich hier, und niemand ist gekommen, mir ein Wort des Trostes zu sagen, mir zu sagen: du bist noch jung, du wirst genesen, der Frühling wird wiederkehren … deine Feinde können Reue fühlen und um Verzeihung bitten! Nein, die erste, die heute früh kam, trieb der Haß hierher: sie wollte noch von mir profitieren, wie der Schakal von einem Kadaver. Und der zweite … der zweite sind Sie, und Sie kommen und reden mir vom Tode und erweisen mir die Gunst, anzunehmen, ich sei verleumdet worden, während Sie mich hier liegen sehen, überwunden, zu Boden geschlagen durch die Falschheit der Menschen … Ach, ein Mensch, der Böses tut, läßt sich nicht so vom Schmerz überwältigen!«

»Beruhigt Euch doch, lieber Sohn! Ihr seid nervenkrank, und man kann Euch alles verzeihen; nur lästert nicht, redet nicht mehr so, wenn Ihr Euch mit Eurem Nächsten versöhnen wollt. Liebe ist nur durch Liebe zu erlangen.«

»Ich habe nur Haß geerntet, und so habe ich endlich auch hassen gelernt. Jetzt begehre ich weder Liebe noch Haß mehr, ich will nur, daß man mich in Frieden läßt. Ich werde sterben – mag es sein! Aber laßt mich ruhig sterben! Habe ich Euch gerufen? Nein!«

Er schloß die bläulichen Lider und schien einzuschlummern; aber seine Stirn war feucht, und ein leichtes Zittern schüttelte seine Hände. Da erhob der Priester den Kopf und sah ihm ins Gesicht.

»Hört mich,« sagte er mit leiser Stimme, »es ist ein Bruder, der zu Euch spricht. Wenn Ihr so fortfahrt, werdet Ihr nur die Zahl Eurer Feinde vermehren; alle werden Euch verlassen, und Ihr werdet einsam und trostlos sein, denn es ist nicht wahr, daß der Mensch allein leben kann, nein! Allein lebt man nicht, man stirbt. Der Mensch bedarf seinesgleichen, und ein Beweis dafür ist, daß Ihr hierher zurückgekehrt seid, um die Menschen wiederzusehen, die Ihr, Euren Worten nach, haßt. Denkt über Eure Worte, Eure Torheiten nach und macht Euch von den irdischen Dingen los, wenn Ihr wirklich ein höherstehender Mensch sein wollt …«

»Ah ja, von den Dingen soll ich mich losmachen und von den Menschen nicht?«

»Der Mensch hat eine unsterbliche Seele, die sollen wir lieben, weil sie ein Teil von Gott ist, und indem wir sie lieben, lieben wir Gott selbst.«

»Ich liebe Gott und von ihm erwarte ich Gerechtigkeit,« murmelte Giorgio. »Aber ich liebe die Menschen nicht, weil ihnen Gerechtigkeitsgefühl abgeht.« – Und plötzlich tat er die Augen weit auf, heftete sie fest auf die des Priesters und schloß sie wieder. – »Beweisen Sie mir, daß es einen Gerechten auf Erden gibt, und ich will wieder an die Menschen glauben.«

»Was soll ich tun?«

»Nun, hören Sie! Ich will Ihnen meine Beichte ablegen, weil Sie das von mir verlangen. Ich werde sie Ihnen aufschreiben, weil ich will, daß Sie sich jedes meiner Worte wohl einprägen; ich will Ihnen sagen, wo ich irrte, wo ich fehlte. Und Sie … wenn die Gläubigen in der Kirche versammelt sind, dann sollen Sie ihnen meine Beichte vorlesen …«

Der Priester lächelte. »Was kann Euch das Urteil der Menschen bedeuten, wenn Eure Seele nackt vor Gott daliegt?«

»Was mir an den Menschen liegt? Sie sollen mich entweder so sehen, wie ich bin – oder mir fernbleiben. Nein,« fuhr er ärgerlich fort, »wir können einander nicht verstehen, Priester Defraja! Gehen Sie, lassen Sie mich in Frieden. Ich brauche niemanden mehr; ich bin nur hierhergekommen, um zu sterben, und jede Stunde, die vergeht, löst mich mehr von der Welt los. Sagen Sie das meinen Feinden nur; gerade weil ich sie nicht hasse, bin ich hergekommen, damit sie mein Elend sehen. Wenn das in ihren Herzen eine Regung von Mitleid zu erwecken vermag, wenn sie in ihrem Innern fühlen und sich sagen: ›wir sind ungerecht gewesen und sehen unser Unrecht ein‹ – nun, Priester Defraja, dann ist mein Kommen nicht zwecklos gewesen, und ich will den Herrn segnen, daß er durch mein Leid wieder einmal der Menschen Herzen bewegt hat.«

Aber der Priester verstand nicht oder tat, als verstände er nicht, und suchte das betrübende Gespräch zu beenden.

»Beruhigt Euch doch, beruhigt Euch … Ihr zittert ordentlich, und das könnte Euch schaden. Ich gehe jetzt und bitte Euch um Entschuldigung, wenn meine Anwesenheit Euch erregt hat. Vor allem: streiten wir nicht weiter; ich stehe hier wie ein Freund, nicht als Priester. Laßt uns von anderm reden, wenn Ihr wollt, aber beruhigt Euch!«

Giorgio streckte die Hand aus, als wolle er ihn fortdrängen. »Nein, es ist besser, daß Sie gehen!«

Der Priester erhob sich: ein leichtes Zittern des Unwillens ging durch seine Unterlippe. »Es ist gut, ich gehe. Aber Ihr werdet mich zurückrufen.«

Einen Augenblick stand er unbeweglich vor dem Bett, mit gefalteten Händen, wie unschlüssig, schwankend zwischen Zorn und Mitleid. Was sollte er tun? Den von seinem Leid und seinem Stolz geplagten Unglücklichen alleinlassen – oder ihn wirklich quälen, indem er ihm gebot, sich zu beugen, Trost und Beistand anzunehmen, die ihn demütigten? Für den Augenblick schien es das beste, ihn alleinzulassen: die Einsamkeit mochte ihm Rat bringen.

»So gehe ich denn … Und Ihr: denkt wohl nach über Eure Lage und beharrt nicht bei Eurem Stolz! Auf Euren Ruf werde ich stets bereit sein … Niemand kann Euch übelwollen und ich weniger als alle … vergeßt das nicht …«

Giorgio antwortete nicht. Er war wie berauscht von Stolz und meinte, mit Würde und Aufrichtigkeit gesprochen zu haben. Und doch vermochte er, auch nachdem der Priester ihn alleingelassen, sich nicht zu beruhigen. Seine Hände bebten; er fürchtete, er könnte von einem Augenblick zum andern sterben, und es verlangte ihn sehnlich nach Petru. Um Ruhe zu finden, nahm er wieder sein Psalmbüchlein zur Hand, und seine Augen überflogen die Verse, wie es der Zufall ergab: so wie die Biene über den Blüten schwirrt, die ihr am süßesten vorkommen.

»Im Brennofen erkennt man die irdenen Gefäße und in der Prüfung die Gerechten.

Umkommen müssen, die sich über den Fall der Gerechten freuen, und der Kummer wird sie verzehren, bevor sie sterben.« –

Und der Abend sank nieder, kalt und klar wie ein Herbstabend. Von seinem Lager aus sah der Kranke das Fensterchen sich wie in grünes Glas verwandeln und den großen strahlenlosen, leuchtenden Abendstern lange dort erglänzen und wieder verschwinden. So lange schon hatte er das nicht mehr gesehen! Unendliche Freude erfüllte ihn, es war ihm, als habe der schöne Stern freundlich zu ihm hereingeschaut …

Auf einmal aber ward es finster; der Himmel verdunkelte sich, und der Wind, der sich nach Sonnenuntergang ein wenig gelegt hatte, heulte wieder stärker. Von der Decke fiel Staub, Ruß, Kalk auf den Kranken herunter: in dem oberen Zimmer ging jemand umher, und auf einmal drang wie aus weiter Ferne ein Trauergesang durch die Ritzen zu ihm herab.

Giorgio zog sich die Decke über den Kopf und schauderte. Es war ihm, als stimme dort ein ihm feindlich gesinntes Wesen die Totenklage um ihn an; alle fernen Erinnerungen seiner traurigen Kindheit traten vor ihn hin, und er sah im Geiste die finstere Gestalt seiner Stiefmutter dort oben hin und wieder gehen.

Der Eintritt Petrus heiterte ihn auf.

»Gleich kommt der Doktor. Ich bin ihm begegnet, wie er mit seinem Stock dahertrabte und ihn auf die Steine stieß; er grinste mich an wie ein Teufel und fragte: ›Na, ist dein Herr noch nicht tot? Hat der Besuch des Priesters ihn nicht umgebracht?‹«

»Zünde das Licht an! Hörst du das da?« fragte Giorgio, auf den Totengesang lauschend, der nun als ein leises Summen erklang.

»Das ist ja hier über uns,« sagte Petru aufhorchend. »Jetzt gehe ich gleich hinauf, sehen, was da los ist; es muß Eure Stiefmutter sein, die so singt, damit Ihr wißt, daß Ihr nun bald sterbt.«

»Laß sie ja in Ruhe, sonst treibt sie's noch schlimmer!«

»Wenn es aber ein Geist wäre?« sagte der Knabe nachdenklich; er war ganz blaß geworden. »Ist der Priester wirklich gekommen? Habt Ihr ihm auch von der Pfeife gesprochen? Nein? Dio mio, was habt Ihr für ein Gedächtnis? Ihr denkt auch an gar nichts, nicht einmal daran, Euch zu amüsieren …«

Plötzlich erhob er den Kopf, bekreuzte sich und schrie zur Decke hinauf: »0 du, wenn du eine gute Seele bist, so geh' in Gottes Namen; bist du eine böse Seele, so geh' zum Teufel!«

Die Stimme schwieg.

»Seht Ihr, Zio Jorgi? Jetzt ist es still. Entweder war es wirklich Eure Stiefmutter oder wirklich ein Geist!«

Auf dem Kies der Straße ertönte das Aufstoßen des eisenbeschlagenen Stockes des Doktors und eine Baritonstimme, die eine Arie aus Mefistofele Oper von Arrigo Boito. trällerte. Eine seltsame Figur trat ein und ging auf das Bett zu, über die Herdleisten auf dem Fußboden stolpernd. Petru zog sich scheu in einen Winkel zurück und tat den Mund nicht mehr auf.

Der Doktor sah aus, als wäre er ein Nordländer: groß und stark und in einen langen, schweren Überrock mit Kragen und Ärmelaufschlägen aus braunem Pelz gekleidet; eine über die Ohren gezogene Mütze aus dem gleichen Pelzwerk vermischte ihr Haar mit dem eines mächtigen roten Bartes, der das halbe Gesicht und die ganze Brust bedeckte; und seine runden, bald klar und kindlich, bald düster, ja drohend blickenden Äuglein glänzten in all dem Haar wie zwei Eidechsen in dürrem Heckengestrüpp.

Mit dem Fuß schob er sich jetzt den Schemel zurecht, ließ sich schwerfällig darauf nieder und streckte die große, behaarte Hand aus, um dem Kranken den Puls zu fühlen.

Neben jener mächtigen Gestalt nahm Giorgio sich aus wie eine kleine Wachsfigur. Dennoch blickte er voll Vertrauen auf den Mann, den Petru fortwährend mit Angst betrachtete, und sein Gesicht nahm einen sanften, kindlichen Ausdruck an.

Der Doktor ließ das schmale Handgelenk los, das er zwischen seinen Fingern gehalten hatte wie einen Blumenstiel. »Es geht ja prächtig! Sie haben mir erzählt, du hättest heute Besuch gehabt.«

»Ja, aber ich habe die Besucher fortgejagt.«

»Das war unrecht, bester Freund! Auch den Doktor hast du das erstemal fortgejagt, dann aber hast du ihn zurückgerufen! Vielleicht hattest du gerade in deinem Büchlein gelesen« – mit dem Stock berührte er das Buch, nahm es zur Hand und las – »wo es heißt, daß man dem Arzt Ehre erweisen soll, weil man ihn braucht, freilich! Aber auch weil er vom höchsten Gott geschaffen ward. Sie waren schlau, deine Propheten: auch sie wagten nicht, sich mit der Wissenschaft zu überwerfen, sondern suchten sie sich zu eigen zu machen. Du begreifst! … Höre, was sie hier sagen:

›Der Herr lässet die Arznei aus der Erde wachsen, und ein Vernünftiger verachtet sie nicht.

Und er hat solche Kunst den Menschen gegeben, daß er gepreiset würde in seinen Wundertaten.‹

Recht schön! Und weiter sagt dieser merkwürdige Heilige:

›Mein Kind, wenn du krank bist, so verachte dieses nicht: sondern bitte den Herrn, so wird er dich gesund machen. Danach aber laß den Arzt rufen.‹

Gar nicht schlecht! Warte aber:

›Denn der Herr hat ihn geschaffen, und laß ihn nicht von dir, weil du sein bedarfst.‹«

Er warf das Buch auf das Tischchen und schlug die Beine übereinander.

»Also erzähle mir von deinem Besuch.«

Giorgio erzählte und schwächte seine zornigen Worte möglichst ab, um seines kleinen Dieners willen, dessen Augen aus dem halbdunkeln Winkel hervorleuchteten wie die einer Katze.

»Das war unrecht,« wiederholte der Doktor halb ernsthaft, halb spöttisch. »Glaubst du, du könntest immer so leben?«

»Leben! Eben weil ich sterben will, will ich in Frieden sterben.«

»Sterben! Sterben!« schrie der Doktor und schlug mit seinem Stock auf den Boden. »Und wer hat dir gesagt, daß du sterben mußt? Jene Ochsen in der Stadt? Grüße sie von mir, bester Freund! Sie sind unvollkommene Geschöpfe, denen die Vernunft fehlt. Ach, eine Paralyse? Wenn jener werte Freund dir die auf den Hals gezogen hätte, dann wäre dein Zungenbändchen nicht mehr so gelenk! An einer Unpäßlichkeit wie der deinen stirbt man noch nicht! Hätte ich mich um meine Nerven und meine Galle gekümmert, so wäre ich zur Stunde schon tausendmal krepiert.«

Giorgio lachte; seine Augen suchten die Petrus, und beiden erschienen die Mienen, die Worte, der Grimm des Doktors höchst amüsant.

»Ja, Sie sind auch stark, Sie sind ein Riese!«

»In deinem Alter war ich von so spärlicher Beschaffenheit wie du. Und wie du bildete ich mir ein, jede Mühle wäre ein Kastell. Denn der Same, den Don Quixote ausgestreut, geht nie ein! Aber eines Tages ward ich gewahr, daß ein böser kleiner Geist in mir steckte; den mußte ich bekämpfen, erwürgen, nicht Feinde, die gar nicht existierten. Wir selbst sind unsere Feinde, teuerster Jorgeddu; wir selbst schaffen uns Verdruß und ärgern uns Tag und Nacht. Aber da sagte ich mir: warte, jetzt werde ich dir den Kopf zurechtsetzen, wertester Don Quixote! Und ich lockte und rief meinen kleinen bösen Geist gerade wie meine Mutter ihre Hühner, wenn sie ihnen den Hals umdrehen wollte. Er wehrte sich, auch nachdem ich ihn erwürgt. Aber ich sagte ihm immer wieder: bester Freund, du mußt und sollst verrecken! Wir sollen nur mit dem Körper leben, essen, trinken, gute Luft atmen. Als junger Bursch ging ich gern jagen, und eines Tages kam ich, nachdem ich wer weiß wie weit umhergelaufen, in diese Gegend. Die Feldhühner kamen wie aus dem Boden heraus, ich zählte ihrer fünfzig in einem Schwarm. Und die Hasen liefen mir zwischen die Beine wie Katzen. Da beschloß ich hierherzuziehen, und ich kam, sah und siegte. Du weißt, was es heißt, in diesem Dorfe siegen: dazu braucht's mehr als einen Don Quixote, dazu braucht's einen Napoleon! Die Legende erzählt freilich, der Teufel habe das Dörfchen gegründet und flüchte sich noch hinein, wenn der Sturm ihn beim Jagen im Gemeindewald überrasche. Ach, der Teufel als Jäger! Ich gestehe dir offen, diese Legende machte mir Spaß; ich sagte mir: nur einer aus dem Dorfe kann sie erfunden haben, also muß es hier Leute von Geist geben. Erstens also Leute von Geist, zweitens reine und kalte Luft, die die Mikroben tötet und die Kranken ins Jenseits befördert, also dem Arzt das Handwerk erleichtert; drittens eine überreiche Jagd und noch die Möglichkeit, dem Teufel zu begegnen, ohne ins Theater zu gehen … Ecco il mondo!« Er erhob die Hand und schlug den Takt zu seiner Lieblingsarie. »Und so kam ich und ging auf die Jagd, und in der ersten Zeit behaupteten alle Gauner aus dem Dorfe, die im Gemeindewald ihren Unfug trieben, sie seien dem Teufel begegnet. Damit meinten sie mich. Doch wenn sie immer auf den selben roten Teufel stießen, so traf ich ihrer wenigstens zehn oder zwölf am Tage, schwarze und rote und auch greise und kahle. Den richtigen aber, dem ich wirklich gern einmal begegnet wäre, den zu sehen habe ich in dieser Gegend noch nicht die Ehre gehabt …«

»Nun, Faust war damals auch älter als Sie!«

»Du meinst, ich brauchte noch nicht zu verzweifeln? Und wenn man dazu nimmt, daß meine Magd Margherita heißt! Zwar ist sie dunkelhaarig und schmutzig – doch im übrigen: wenn es ihr erginge wie der Blonden, so würde sie nicht darüber den Verstand verlieren.«

Und damit stimmte er im Falsett Margheritas Klage an und ahmte die Stimme einer Frau in so komischer Weise nach, daß Petru auf einmal laut auflachte.

Der Doktor kehrte sich ihm zu und drohte ihm mit dem Stock. Der Kleine aber hatte Mut bekommen und sagte: »Da kann es beinahe die da oben auf dem Heuboden noch besser.«

»Wer, du Maikäfer?«

»Ein Geist,« sagte Giorgio.

»Nein, nein, Herr Doktor, es ist seine Stiefmutter! Jeden Abend kommt sie hier auf den Heuboden, der ihr noch gehört, und singt ein Sterbelied, um meinen Herrn zu ärgern.«

Das Gesicht des Doktors wurde blau vor Zorn.

»Und da sagt Ihr noch, das hier sei kein Teufelsnest? Ihr Sterbelied fehlte uns gerade noch! Und alle sind sie so, alle, vom ersten bis zum letzten. Wenn ich es in den ersten Jahren in diesem verwünschten Nest oben auf dem Platze laut aussprach, daß sie alle des Teufels seien, nun, dann bekreuzten sich die Weiber vor mir; und wenn die Männer mit einer Lungenentzündung von ihrem geheimnisvollen Streifereien heimkehrten, dann riefen sie statt meiner lieber Martina Appeddu mit ihren Salben und krepierten ganz vergnügt …«

»Und warum blieben Sie dann?«

»Und warum bist du wieder hergekommen?«

»Ich bin hier geboren … Unser Staub strebt dem Staube zu, von dem er ausgegangen ist.«

Der Doktor sah ihm ins Gesicht und schwieg; sein Blick war ernst, beinahe traurig.

»Da sprichst du eine hochheilige Wahrheit aus, Jorgeddu! Auch die rudimentärste Philosophie reicht oft der Wissenschaft die Hand. Was ist denn im Grunde unsere Melancholie und unsere unaufhörliche Unruhe? Eben unser Verlangen, auf den Boden zurückzukehren, von dem wir gekommen sind. Die neuesten Forschungen beweisen, daß der Mensch auf der Erde nicht an seinem rechten Platze ist: seine Krankheiten, sein früher Tod, seine ewige Unbefriedigtheit rühren von seinem unvollkommenen Organismus her, oder vielmehr von gewissen Organen, die er von seinen vernunftlosen Vorvätern ererbt und die jenen notwendig waren, dem Menschen aber schädlich sind. Diese Organe vergiften unser Dasein. Wir sind degenerierte Tiere, und unser Leben ist nicht naturgemäß, wie auch das Leben des Vogels im Käfig, das der Schlange in den zoologischen Gärten kein naturgemäßes ist. Und deshalb streben wir nach dem zurück, was einst unser Naturzustand war: das Leben inmitten der Natur, der instinktgemäße Kontakt mit unsresgleichen, die volle Befriedigung unserer Sinne. Alles was sich dem animalischen Leben entgegenstellt, das unser wahres Leben ist, ist für uns eine Quelle der Unglückseligkeit. Da nun diese Verrückung unseres Standortes einmal vorliegt und wir unsere Bemühungen als fruchtlos erkennen müssen, bleibt der einzige Trost für uns der Gedanke an den Tod, die Rückkehr zum Urstoff, die völlige Vereinigung mit der Muttererde.«

Er stand auf, sagte nochmals: »Es geht ja prächtig!« und fragte dann: »Und was haben wir heute gegessen? Fleisch natürlich. Vielleicht auch Wein getrunken, vielleicht auch Likör …«

»Nein, nein!« beteuerte Petru, während Giorgio die Augen niederschlug wie ein schuldbewußtes Kind.

»Schön, und wo holst du die Milch, Maikäfer? Kochst du sie auch ab?«

»O, zweimal!«

»Wieviel Liter?«

»Einen, nein, was sage ich, drei Liter …«

Wieder tauschten Herr und Diener einen Blick: in Wahrheit trank Giorgio keinen Schluck Milch, weil sie ihm Übelkeit bereitete.

Der Doktor begriff, daß Petru log. »Gut,« sagte er, »morgen früh schicke ich dir die Milch.«

»Nein, nein, bemühen Sie sich nicht …«

»Ärgere du mich nicht! Und du, Maikäfer, oder wie du gleich heißt, nimm einmal das Licht und komm mit mir.«

Giorgio blieb im Dunklen. Er hörte, wie der Doktor die äußere Treppe hinaufstieg und an die Tür zum Heuboden pochte, und wartete mit Herzklopfen auf das Geschrei der von dem Riesen geprügelten Stiefmutter. Doch es blieb still: die Hexe mußte verschwunden sein.

Petru trat wieder ein und berichtete lachend: »Er hat gesagt, morgen abend würde er sich auf der Treppe aufstellen und ihr die Mütze mit dem Stock bearbeiten … Wenn sie es nun aber nicht ist? Wenn es ein Geist ist? Dann muß man den Priester rufen, daß er das Evangelium liest. Ach, warum habt Ihr auch den Priester fortgejagt? Das war unrecht …«

»Jetzt ist's genug; für heute bin ich des Predigens überdrüssig,« sagte Giorgio, die Augen schließend. Und während Petru aufräumte, versank er wieder in seinen Halbschlummer.

Es war ihm, als säßen drei ganz verschiedene Menschen an seinem Bett: Zia Giuseppa Fiore, der Priester, der Doktor; alle drei stritten miteinander, der Doktor schrie, erhob seinen Stock und schalt jene beiden »degenerierte Tiere«. Und er, der Kranke, stellte sich schlafend, in der Hoffnung, daß sie fortgehen und ihn alleinlassen würden. Der Wind heulte, und von oben drang der Totengesang der Stiefmutter herab, und Todestraurigkeit herrschte ringsum; auf einmal aber knirschte ein leichter Schritt auf dem Kies des Hofes, und das Blut strömte schneller durch die Adern des Kranken, der seine Glieder gleichsam auftauen, die Bande, die ihn umschlungen hielten, sich lösen fühlte, als wäre die, die sich seiner Türe nahte, das Leben selbst, das ihm wiederkehrende Leben.


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