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Da diese Schrift auch von Ärzten gelesen und besprochen werden könnte – wenn man es nicht vorziehen wird, sie ganz totzuschweigen –, so muß ich den Leser bitten, mir nicht zu verübeln, wenn ich auf diese Anzeige näher eingehe und in diesem ärztlichen Abschnitt nicht alle Fremdworte so vermeiden kann, wie ich es bisher versuchte. Möge der Laie dieses Kapitel über die ärztliche Anzeige zur Schwangerschaftsunterbrechung überschlagen; ganz vermeiden kann ich diese Erörterungen nicht. Geheimrat Winter hat sich den wohlverdienten Ruf erworben, als einer der besten Kenner dieser ärztlichen Sonderfrage zu gelten. Im Jahre 1926 ist eine Schrift von ihm herausgegeben worden, in der er alles gründlich bespricht. Ich verweise jeden, der sich von einem Fachmann belehren lassen will, auf diese und frühere Arbeiten Winters. Der Reichsgesundheitsrat, der wohl berufen werden wird – ich komme später darauf zu sprechen –, die genauen Richtlinien für die ärztliche Anzeige zur Schwangerschaftsunterbrechung aufzustellen, wird im wesentlichen auf den Ergebnissen der Winterschen Umfragen aufzubauen haben. Aus den Angaben, die Winter macht, ergibt sich zunächst klar, daß schon unzählige Frauen hingeopfert worden sind, weil sie in Zeiten lebten, in denen die Wissenschaft noch nicht so weit fortgeschritten war wie jetzt. Sie mußten ihr Leben lassen, weil man damals noch nicht erkannt hatte, welche Schädigungen eintraten, wenn man kranke Frauen zwang, Kinder auszutragen und zu gebären. Das Strafgesetzbuch kennt auch heute noch keine Krankheit, die dem Arzt das Recht geben würde, einzugreifen, während die ärztliche Wissenschaft ihren Standpunkt in den letzten fünfzig Jahren ganz erheblich überprüft und erweitert hat. Als im Jahre 1872 das Strafgesetzbuch in Kraft trat, kannten die Ärzte nur zwei Gründe für die Unterbrechung: Einmal jene seltenen Fälle, in denen die Gebärmutter verwachsen war, dann die etwas häufiger vorkommenden Fälle, in denen eine Frau infolge zu enger Beckenverhältnisse eine Geburt nicht überstehen konnte. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis weiter entwickelt, und wir kennen heute eine große Zahl von Gründen, die den Arzt – von seinem Standpunkt aus – berechtigen, zu unterbrechen. Es erscheint beinahe unbegreiflich, daß der Staat und seine Gesetzgeber diesen Umschwung der ärztlichen Einstellung so wenig beherzigt haben. Es spricht aber auch nicht gerade für den Ärztestand, daß er bisher noch nicht so viel Machtwillen an den Tag legte – er hätte dies gegebenenfalls durch eine dauernde Bearbeitung, ja sogar Erregung der öffentlichen Meinung tun können –, daß er nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, seine Meinung, die allein maßgebend hätte sein müssen, durchzusetzen. Man muß als Arzt diese Ohnmacht des eigenen Standes bedauern! Es ist übrigens nicht bloß »Ohnmacht« gewesen. Die Ärzteschaft trug selbst einen Teil Schuld, weil sie ihre Berufsaufgaben viel zu eng auffaßte. Man glaubte genug getan zu haben, wenn man »Kranke behandelte«. Man befaßte sich viel zu wenig mit der Lebenslehre und den Fragen der Volkswohlfahrt. Es ist deshalb zu begrüßen, daß die neue Standesordnung hier Wandel schaffen will und dem Arzt vorschreibt, auch »auf die Wohlfahrt des ganzen Volkes bedacht zu sein«. Doch auch ein Staat kann Bedauern erregen, der sich fünfzig Jahre lang so über das Urteil seiner besten Fachleute hinwegsetzte und sich so letzten Endes ins eigene Fleisch schnitt. Wie unendlich traurig für die betreffende Familie der Tod einer Gattin oder Mutter ist, brauche ich in diesem Zusammenhang nicht auszumalen; es sind ja nicht Gefühle, sondern nur sachliche Erwägungen, die den Staat bei seinen Maßnahmen leiten. Der Sachliche ist aber verpflichtet, folgerichtig zu denken! Man erwäge: Menschliche Keime werden täglich in Myriaden hervorgebracht und sind billig, ja umsonst zu haben, ein Keim, der ein bis drei Monate im Mutterleib wuchs, ist ebenfalls noch nahezu wertlos, dagegen ist eine Frau, die in der Blüte der Jahre stirbt, nicht so leicht zu ersetzen; sie stellt gerade, wenn man alles nüchtern volkswirtschaftlich betrachtet, einen großen inhaltlichen Wert für den Staat dar! Darüber bitte ich die Volkswirtschaftler nachzudenken.
Wie groß übrigens die Wandlungen der Meinungen in der Ärztewelt waren, geht aus Winters Ausführungen hervor, denen man entnehmen kann, daß auch Professor Winter infolge trauriger Erfahrungen, die er machen mußte, in späteren Jahren weitherziger geworden ist. Auf Seite 18 seiner Schrift berichtet er über drei Frauen, deren Tod eingetreten ist, »weil er sich zu spät zum Eingriff entschlossen habe«; er erklärt dies damit, daß ihm ein bestimmtes Gefahranzeichen, das er jetzt kenne, damals noch nicht bekannt gewesen sei. So etwas liest sich ja, besonders für den Arzt, leicht in diesen zwei kühlen Sätzen! Wenn man sich aber vergegenwärtigt, welche Fülle Menschenleids sich in so einer wissenschaftlichen kurzen Feststellung verbirgt, ist man doch erschüttert. Es würde weit über den Rahmen dieser Schrift hinausgehen, wenn ich, wie Winter, versuchen wollte, in umfassender und hochwissenschaftlicher Weise alle die zahlreichen Lagen zu besprechen, bei denen ein Arzt heute – wohlgemerkt, immer nur von dem Standpunkt seines Berufes aus – berechtigt erscheint, einzugreifen und eine Schwangerschaft zu unterbrechen. Nur einige Punkte, in denen meine Meinung von der Winterschen abweicht, will ich herausheben. Ich glaube, daß man bei herzkranken und nierenkranken Frauen nicht vorsichtig genug sein kann und weitergehen sollte, als Winter es vorschreibt. Ich weiß, daß namhafte Berufsgenossen mir entgegen sein werden, wenn ich dazu auffordere, eine Unterbrechung freizugeben, sobald bei Beginn der Schwangerschaft eine Nieren- oder Herzschädigung zutage tritt. Sollte man mir entgegenhalten, daß wir Arzneimittel hätten, die ein erlahmendes Herz anregen, ja kräftigen können, so würde ich diesem Einwand zweierlei entgegensetzen: Einmal die Erfahrungstatsache, daß schon manche Frau einen Herztod erlitten hat, obwohl es vorher gelungen war, durch Arzneien, die man ihr während der Schwangerschaft gab, die Anzeichen der schlechten Arbeit des Herzens zu beseitigen. Der Geburtsvorgang stellt eine so gewaltige Arbeitsleistung des Herzmuskels dar, daß man diese nur dann mit Ruhe erwarten kann, wenn das Herz gesund ist, sonst kann es Überraschungen geben. Herztode bei Geburten habe ich dreimal miterlebt, ich werde diese erschütternden Eindrücke nie vergessen! Da keine Macht der Welt mich nach allem, was ich erlebt habe, je wieder dahin bringen würde, Schwangerschaften zu unterbrechen, wolle man es nur gedankenmäßig auffassen, wenn ich frank und frei sage, daß auch der für mich so traurige Ausgang meines Strafverfahrens, in welchem es sich bezüglich einiger Fälle um herzkranke Schwangere handelte, mich nicht zu einer anderen Einstellung bringen konnte. Es hat nicht nur auf mich, sondern auch auf andere, ganz Unbeteiligte, im Verfahren ergreifend gewirkt, als ich in den genannten Fällen mit einem Kollegen zusammen verurteilt wurde, der seine Frau einige Jahre früher durch Herztod kurz nach der Geburt verloren hatte. Wir waren gerade auf Grund dieses Ereignisses so vorsichtig geworden! Doch das ist nicht der einzige Grund, weshalb ich über herz- und nierenkranke Schwangere anders denke als andere Ärzte, vielleicht die Mehrzahl. Kein Arzt kann, meiner Ansicht nach, vorher wissen, welche schweren Schädigungen bei solchen Kranken sich noch später einstellen, wenn auch Schwangerschaft und Geburt einigermaßen günstig verlaufen sind. Sie können noch nachher schwer erkranken! Was es aber für eine im Leben stehende Frau, die Gattenpflichten, dann Pflichten gegen die Kinder hat und Haushaltsarbeit verrichten soll, auf sich hat, herz- oder nierenkrank zu werden, das kann selbst ein Laie ermessen, ohne daß ich es weiter ausführe. Ein Arzt, der im Leben steht und seine Aufgaben nicht als durch lehrschulmäßige Erkenntnisse erschöpft ansieht, wird für meinen Standpunkt Verständnis haben.
Da ich seit zwei Jahrzehnten lebhaft in der Tuberkulosebekämpfung mitarbeitete, mich auch auf diesem Gebiet in einer Weise fachschriftstellerisch betätigte, der wissenschaftliche Anerkennung nicht versagt blieb – ich war Ehrenmitglied der internationalen Tuberkulose-Konferenz –, gestatte man mir bei der Frage: »Wann ist bei der schwindsüchtigen Schwangeren einzugreifen?« etwas länger zu verweilen. Noch vor zehn Jahren war ich der Ansicht, daß man – wenigstens in leichteren Fällen von Schwindsucht – zunächst abwarten und beobachten könne. Heute – übrigens seit einer Reihe von Jahren – stehe ich auf einem anderen, weitergehenden Standpunkt. Ich habe längst eingesehen, daß jedes Abwarten zwecklos, ja gefährlich ist, wenn erst eine Schwindsucht wirklich festgestellt worden ist. Es ist allseitig anerkannt, daß die Lungenschwindsucht, abgesehen davon, daß sie schon während der Schwangerschaft sich verschlimmern kann, ganz besonders dazu neigt, oft auch noch nach der Geburt, besonders im Wochenbett, oder in den darauffolgenden Monaten einen verhängnisvollen Verlauf zu nehmen. Wenn man daher bei Schwindsüchtigen grundsätzlich glaubt, eingreifen zu sollen, hat langes Warten keinen Sinn, weil eine Sicherung der Schwangeren vor Verschlimmerung ihres Leidens dadurch versäumt wird; denn die Schwindsucht kann mit jeder Woche Fortschritte machen, während die Unterbrechung anstrengender und blutiger für die Schwangere werden muß. Es ist mir daher gänzlich unverständlich geblieben, wenn Sachverständige mir deshalb einen Vorwurf machen wollten, weil ich in dem einen oder anderen Falle nicht »abgewartet« hätte, in Fällen, in denen ich mit einem noch zugezogenen Arzt der Meinung war, daß eine Lungenschwindsucht sicher vorliege. Ich möchte hervorheben, daß der Entschluß, einen Keim aufzuopfern, um der leicht tuberkulösen Mutter das Leben zu retten oder sie vor einer Verschlimmerung ihrer Schwindsucht zu bewahren, leichter zu fassen wäre, als wenn es sich um eine schwer tuberkulöse Mutter handelte. Das mag zunächst wunderlich erscheinen, was ich da sage, und besonders dem Laien nicht in den Kopf gehen. Ich betone aber, daß ich auch bei Ärzten ein »Vorbeidenken« in dieser Frage feststellen mußte. Ein Arzt muß wissen, daß eine schwere Lungenschwindsucht (zweiten oder dritten Grades) so gut wie unheilbar ist. Tritt noch eine Schwangerschaft dazu, so wird der Krankheitsverlauf fast immer beschleunigt, wenn dies auch oft erst nach einiger Zeit in Erscheinung tritt. Niemand verzichtet, er mag noch so krank sein, gern auf einige Lebensjahre. Und doch ist ein früher erfolgender Tod für die Schwindsüchtigen ein Segen! Das jahrelange Dahinsiechen des Schwindsüchtigen ist eine furchtbare Qual für ihn selber, ein Unglück für seine Familie, die ihm doch nicht helfen kann und dabei dauernd in der Gefahr lebt, angesteckt zu werden. Aus denselben Gründen ist es von Vorteil für die Gesamtheit, wenn der Schwindsüchtige sich nicht zu lange quälen muß, sondern bald stirbt. Darum kann ich mir wohl vorstellen, daß ein rechnender Kopf wünschte, eine Schwertuberkulöse auf jede Gefahr hin austragen zu lassen. Er würde sich sagen: hier geht zwar eine Frau etwas eher zugrunde, aber sie gebiert wenigstens vorher noch ein Kind, das vielleicht doch brauchbar und gesund sein könnte. Das wäre volkswirtschaftlich folgerichtig gedacht. Ich bin dagegen oft in der Wirklichkeit – auch in meinem Strafverfahren – anderen Gedankengängen begegnet, die mir verschlungen und abwegig erschienen, die sich an den Buchstaben klammerten und dabei den »Sinn« unbeachtet ließen. Die Sachverständigen stießen sich daran, daß die Schwindsucht einer Schwangeren, bei der wir unterbrochen hätten, nicht »schwer« genug gewesen wäre; wäre dies der Fall gewesen, so hätte man uns für berechtigt angesehen, einzugreifen. Ich habe anders gedacht und erwiesenermaßen häufig Unterbrechungen abgelehnt, weil sie mir bei der Schwere der Schwindsucht völlig nutzlos erschienen. Ich habe nämlich immer angenommen, daß der Sinn einer Unterbrechung der ist, daß man die Schwangere vor Tod oder Siechtum retten wollte; könnte man dies nicht erreichen, so fehlte die Berechtigung zum Eingriff. Wer die Ansicht meiner Gegner vertritt, kann nicht folgerichtig im Sinne der ärztlichen und Rechtsgesetze denken! Man sieht, alle diese Fragen sind schwierig, sie müssen sehr genau durchdacht werden, ehe man sich auf eine Antwort festlegt. Der Reichsgesundheitsrat wird sich mit ihnen besonders eingehend zu beschäftigen haben, weil mit ihrer weisen Regelung auch unsere ganze Tuberkulosebekämpfung steht und fällt. Hier berühren sich übrigens meine Vorschläge innig mit denen Grotjahns. Er fordert auf, kräftigere und wertvollere Menschen in geringerer Anzahl zu züchten. Man möge damit anfangen, indem man Schwindsüchtige von der Fortpflanzungstätigkeit möglichst ganz ausschließt. Jeder vernünftige Arzt warnt schon jetzt Schwindsüchtige vor Heiraten und Kindersegen, damit ist er aber mit seinem Latein zu Ende, und kommt dann eine Leichttuberkulöse, die vielleicht noch völlig ausgeheilt werden könnte, durch Schwangerschaft in die Gefahr, unheilbar zu werden, zu ihm, dann soll er lange abwarten, anstatt tatkräftig zu handeln, – sonst wandert er ins Gefängnis – wie ich! Wenn ich ein Wort mitsprechen dürfte, würde ich dafür sein, bei allen nachweisbar Schwindsüchtigen grundsätzlich zu unterbrechen, sie dann aber zugleich – in einer Sitzung – durch Eileiterunterbindung gebärunfähig zu machen, wenn eine Ausheilung der Schwindsucht ausgeschlossen wäre, auch bei latenter Erkrankung, wenn die Patientin es selber wünscht. Wie man sich bei schwer Schwindsüchtigen verhalten sollte, darüber ließe sich streiten. Ich kann nicht vorschlagen, sie austragen zu lassen, weil ich mehr als Arzt und Mensch, denn als Volkswirtschaftler, denke. Wenn man die Schwindsucht ganz rücksichtslos bekämpfen wollte, müßte man diese Frauen ebenso wie die leichtschwindsüchtigen behandeln und sie auch durch einen Eingriff gleich gebärunfähig machen. Die Tuberkulose wird höchst selten vererbt, aber wohl fast immer die Veranlagung dazu. Die Kinder tuberkulöser Eltern sind auch meist kränklich und schlecht entwickelt, also nur Ballast für Staat und Volk. Es wäre daher das einzig Richtige, nicht – wie man es seit Jahrzehnten tut – immer wieder Unsummen und unendliche Arbeit in der Tuberkulosebekämpfung zu vergeuden, sondern man sollte sich endlich entschließen, die Axt an die Wurzel des Übels zu legen und vorgehen, wie ich es vorschlage. Um nun in der Besprechung der Winterschen Schrift weiter fortzufahren: So sehr man die Bemühungen anerkennen muß, die rein ärztlichen Anzeigen zur Schwangerschaftsunterbrechung wissenschaftlich zu klären, muß man es doch bedauern, daß ein Mann, gerade von der Lauterkeit und Erfahrung eines Winter, sich nicht viel mehr, als es geschehen ist, mit der sogenannten »sozialen« Indikation befaßte. Wie stiefmütterlich sie behandelt wird, geht daraus hervor, daß er sie auf nur knappen drei Seiten (von den 120 Seiten) seiner Schrift abhandelte. Dies ist der schlagendste Beweis dafür, daß unsere beamteten Ärzte – und dazu gehört auch der Geheime Medizinalrat Winter als Universitätsprofessor – alles in erster Linie vom Standpunkt des Staatsmediziners aus betrachten. Sie sind leider oft innerlich und äußerlich vom Volk, seinem Leben und Leiden zu sehr losgelöst. Und was das Allerschlimmste ist: Die Staatsmediziner – dies bitte ich aber nicht auf Winter zu beziehen – sind oft recht unduldsam gegen die übrige Ärzteschaft! Wenn diese es einmal wagt, auf Grund der eigenen reichen praktischen Erfahrungen, in solchen großen Fragen – die doch wirklich das ganze Volk angehen – mitzureden, dann werden derartige schüchterne Versuche von den Vertretern der Berufs-Medizinal-Statistik mit einer oft unglaublichen Heftigkeit abgewiesen (zitiert Graßl). Besonders vermisse ich ferner bei Winter, daß ein Mann von seinem Gewicht und Ansehen es versäumte, in tatkräftigster Weise gegen einen Zustand Einspruch zu erheben, der es mit sich bringt, daß die deutschen Ärzte unter dem jetzt herrschenden Strafgesetzbuch täglich in die Lage versetzt werden, Eingriffe, die – wenn man nur will – bestraft werden können, obwohl sie aus reinster ärztlicher Überzeugung gemacht werden, vornehmen zu müssen. Daß Winter sich dieses Zustandes bewußt ist, entnehme ich der Seite 123 seiner Schrift, auf der es unten wörtlich heißt: »Aber eine Voruntersuchung, eine Anklage, selbst eine Verurteilung durch einen kurzsichtigen oder übelwollenden Richter liegt auch heute noch im Bereich der Möglichkeit, so lange das Strafgesetzbuch von 1872 in Geltung ist.« (Die Unterstreichungen stammen von mir. Anmerkung des Verfassers.)
Nachdem in meinem Strafverfahren offen zutage getreten war, daß Sachverständige und Gericht sich völlig auf den Boden der Ansichten Winters stellten, wie er sie in der von mir besprochenen, übrigens nach meiner Verhaftung herausgegebenen Schrift entwickelte, konnte mein Verteidiger es sich nicht versagen, den von mir vorhin wörtlich angeführten Satz Winters seinerzeit vorzutragen. Ob es in den heutigen Zeiten der politischen Überspannung dazu kommen könnte, daß ganz rechtsstehende Richter – gewiß unbewußt – einem linksstehenden Angeklagten »übelwollen«, ob so etwas überhaupt denkbar ist, kann ich nicht entscheiden und will ich beileibe nicht behaupten! Daß Winter vorwiegend als Staatsmediziner empfindet, geht auch aus anderen Stellen seiner Schrift hervor. So erwähnt er zum Beispiel Grotjahn und dessen großzügige Pläne mit keinem Wort! Und warum nicht? Doch wohl, weil ihm Grotjahns Gedankengänge so neuartig erscheinen, daß sie von ihm, dem Staatsmediziner, als schwere Ketzerei empfunden werden. Winter verteidigt überhaupt den Staat, seine Belange und Gesetze, wo er nur kann. Diese Verteidigung ist aber oft gedanklich nicht tief genug geführt. Zum Beispiel: Auf Seite 107 seiner Schrift schreibt er: »Niemals darf ein Menschenleben bewußt finanziellen Motiven mit ihren Folgen geopfert werden. Das ist auch der Grund, warum der Staat, abgesehen von allen eigenen Interessen an dem Zuwachs seiner Bevölkerung, die soziale Indikation strikt verbietet.« In diesen wenigen Worten stecken mehrere Gedankenfehler. Man opfert (erstens) bei der Unterbrechung kein »Menschenleben«, sondern nur einen Keim, denn der Mensch entsteht mit der Vollendung der Geburt, mit deren Vollendung auch die Rechtsfähigkeit des Menschen erst beginnt. Es sind (zweitens) in diesem Zusammenhang auch niemals »finanzielle« Gründe, sondern man unterbricht wenigstens dann, wenn man es von dem Standpunkt aus tut, den ich ausführlich darlegte, um voll ausgewachsene Menschen und schon vorhandene Kinder gesund und lebensfähig zu erhalten! Das hat mit »Finanziellem« nichts zu tun. Auch sollte ein Arzt sich (drittens) die gänzlich falschen Ansichten, die sich der Staat und die Vertreter seiner Belange über seinen Nutzen durch einen ungeregelten Zuwachs der Bevölkerung gebildet haben, nicht zu eigen machen. Ein Arzt muß zuerst als Naturforscher denken! Dann muß er aber unbedingt zu dem Standpunkt kommen, daß eine Massenzüchtung kränklicher und minderwertiger, noch dazu überzähliger Menschen dem Staate niemals wirklich nützlich sein kann. Ebenfalls auf Seite 107 der Winterschen Schrift findet sich folgende an den Arzt gerichtete Aufforderung: »Der Arzt soll aber auch von sich aus und aus seiner Überzeugung die soziale Indikation ablehnen, einmal, weil es nicht seine Aufgabe ist, in finanziellen Nöten Berater und Helfer zu sein, und weil er nicht die etwa von Behörden aufgestellte soziale Indikation zur Grundlage seines ärztlichen Handelns machen soll, und ferner, weil er bei Aufstellung sozialer Gründe immer sehr Gefahr läuft, langsam zum einfachen Abtreiber herunter zu sinken.« Dem setze ich entgegen: »Es wird die höchste Zeit, daß die deutsche Ärzteschaft sich von der Bevormundung durch die Staatsmediziner freimacht. Auch der ehrwürdigste Universitätslehrer ist nicht dazu berufen, einem Arzt, der nach Ablegung seiner Prüfung beruflich mündig geworden ist, womöglich schon große eigene Erfahrungen besitzt, die »Ueberzeugung« vorzuschreiben! Tut man dies dennoch, so macht man den praktischen Arzt auch zum Beamten und verläßt dann, Arm in Arm mit ihm, den freien Boden, auf dem allein der ärztliche Stand gedeihen kann. Ferner: Wenn die Ärzteschaft in richtiger Erkenntnis der herrschenden Not sich für die soziale Indikation einsetzen würde, so würde sie nur die für sie standesgesetzlich festgelegte Pflicht erfüllen, »für die Wohlfahrt des gesamten Volkes zu sorgen«. Mit »finanziellen« Nöten hätte dies nichts zu tun. Die Befürchtung, die Winter zum Schluß ausspricht, »ein Arzt könne dabei zum einfachen Abtreiber herabsinken«, mag berechtigt sein; sie trifft aber auch bei jeder anderen Indikation, nicht nur bei der sozialen, zu, und brauchte deshalb nicht besonders erwähnt zu werden. Mit dem gleichen Recht, das Winter für sich in Anspruch nimmt, wende ich mich nun meinerseits an die Hochschullehrer! Ich verlange nicht, daß sie gleich ihre »Überzeugung« opfern sollen, ich bitte sie nur, die Frage einmal sehr ernsthaft und ruhig zu prüfen: ob sie, die Blüte unseres Standes, nicht vielmehr berufen wären, uns, den im Volke tätigen Ärzten, führend und helfend zur Seite zu stehen, wenn wir Vorschläge machen, der Not abzuhelfen, anstatt sich von Staatsmedizinern und Rechtsgelehrten ins Schlepptau nehmen zu lassen!
Man wolle nicht annehmen, daß ich ohne Verständnis für die inneren Gründe sei, durch welche die von mir angegriffenen Gelehrten zu ihrem Standpunkt kommen, der von dem meinigen abweicht. Sie sind gewiß meist so reinen Herzens, wie ich es von mir selber behaupten darf. Aber was wissen diese Herren doch so herzlich wenig in unserem Volksleben Bescheid! Ich habe schon früher einmal geschildert, worin vorwiegend die Tätigkeit unserer Hochschullehrer besteht, ich will es kurz wiederholen: »im Lehren, Forschen und Operieren«. Alles andere sehen sie meist nicht selber, sondern durch die Augen Dritter. So kann ich mir auch nur die Weltfremdheit erklären, der ich öfter begegnete, wenn ich hörte oder las, wie man die gesundheitlichen Allgemeinverhältnisse unseres Volkes betrachtete. Anders denken die meisten praktischen Ärzte darüber, die, als Kassenärzte zumal, täglich mit zahlreichen armen Menschen zusammenkommen und sie behandeln, wobei diese Patienten dem Arzt ihr Herz aufschließen, ihm alle ihre Sorgen und Bedrängnisse mitteilen, so daß der Kassenarzt, der fast täglich in die engen ärmlichen Behausungen kommt, die oft unbeschreiblich bittere Not, die dort herrscht, mit eigenen Augen sieht. Kein Wunder, daß da die Ansichten ganz auseinandergehen. Es muß nun vor allem verlangt werden, daß der Kampf auch ehrlich und nicht mit unerlaubten Waffen geführt werde. Die Staatsmediziner und die Richter dürfen nicht gleich ohne weiteres Abtreibegelüste voraussetzen, wenn es sich um wohlerwogene und zudem medizinische Gründe handelt, über deren Berechtigung oder Nichtberechtigung sicher noch nicht das letzte Wort gesprochen worden ist. Man sollte darüber nachdenken, daß schon die letzten fünfzig Jahre zu einer viel weitherzigeren Auffassung in den Fragen unserer Volks Vermehrung geführt haben. Vielleicht wird man in kurzer Zeit schon »Märtyrer« in den Männern erkennen, die heute noch als »Verbrecher« gelten. Wenn ich nur ganz kurz erwähne, daß ich auch die Stellung Winters und der ihm Gleichgesinnten in den Fragen der Notzuchtindikation und »eugenetischen« sowie Minderjährigkeits-Indikation als zu engherzig ansehe (auch sie werden in seiner Schrift ebenso knapp wie die soziale Indikation auf nur ein bis zwei Seiten behandelt), so liegt dies daran, daß diese Fragen zahlenmäßig zurücktreten. Mit Freude muß man es begrüßen, daß sich im Geäst des Hochschulbaumes schon einige recht stattliche und tapfere weiße Raben niedergelassen haben, die neuzeitlich denken. Vivant sequentes! – Hoffen wir, daß ihre Zahl bald wächst!
In Winters Schrift steht auch verzeichnet, wie die Ärzteschaft versucht hat, sich in ihrer Not wenigstens etwas zu sichern. Er schreibt darüber: »Die wissenschaftliche Deputation hat zu einer Art Selbsthilfe gegriffen und nach langen Beratungen entschieden, daß der Arzt nur aus medizinischen Gründen unterbrechen darf und nur, wenn eine unvermeidliche Gefahr für das Leben oder die Gesundheit vorhanden ist, die durch kein anderes Mittel abgewendet werden kann!« Winter behauptet dann, diese Formel »entspräche unter anderem auch dem Rechtsbewußtsein des Volkes«. Diesen Satz möchte ich festnageln, weil er klar beweist, wie falsch Winter – und mit ihm viele ähnlich wie er Eingestellte – unser Volk und seine Gefühle beurteilen. Gerade das Gegenteil ist der Fall! Schon die Abstimmung im Rechtsausschuß, die erwähnt wurde, beweist dies. Wenn ein Volksentscheid stattfände (vielleicht wäre dies wirklich die beste Lösung), dann würde man manches lange Gesicht im Lager meiner Gegner sehen! Ein Volksentscheid! Warum auch nicht?! Die Frage, die hier beantwortet werden müßte, wäre viel wichtiger und einschneidender für das ganze Volk als die »Fürstenabfindung«, oder die Frage, »ob Hannover wieder selbständig werden solle«. Hier handelt es sich um Menschenrechte, um Menschenglück und zahllose Menschenleben! Darum fordere ich schon an dieser Stelle der Schrift dazu auf, den gordischen Knoten zu durchhauen und dem Volke selbst die Entscheidung in die Hand zu legen, wenn die Sache wieder zu versanden drohen sollte! Möchten doch die politischen Parteien, die die arme und minderbemittelte Bevölkerung vorwiegend vertreten, alle, die sich so schön »Volks«-Parteien nennen, hier einmal Schulter an Schulter kämpfen! Sie könnten auch sich selbst dabei nur einen guten Dienst leisten! Das Herbeiführen eines Volksentscheids bedeutet aber immerhin eine große Geldausgabe und Arbeit. Durch den Streit der Meinungen in der Öffentlichkeit würde die immer noch kranke Volksseele wieder schwer erregt und aufgewühlt werden. Ich betrachte daher die in der Verfassung verankerte Möglichkeit, das Volk in lebenswichtigen Fragen selbst entscheiden zu lassen, als das letzte Mittel, das hier ergriffen werden sollte. Ich will, wenn ich später meine praktischen Vorschläge machen werde, entwickeln, wie man auch ohne Volksentscheid vielleicht zum Ziele kommen könnte.