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Ich habe schon vorher darauf hingewiesen, daß man hierbei streng einzelne Arztgruppen unterscheiden muß. Auf der einen Seite stehen in ablehnender Haltung fast alle beamteten Ärzte, zu denen ich auch den größten Teil der Universitätsprofessoren rechne, weil sie ihr Lehramt vom Staate haben und sich daher verpflichtet fühlen werden, dessen Interessen erhöhte Bedeutung beizumessen. Die eigentlichen Amtsärzte fühlen sich anscheinend ganz besonders berufen, die leider noch bestehenden Paragraphen der Strafgesetze, die sich auf die Fruchtabtreibung beziehen, schroff und starr auszulegen. Auch unter diesen Männern gibt es neuzeitlich und freier Denkende. Ich konnte mich hiervon überzeugen, weil einer der höchsten Medizinalbeamten Preußens mein wohlwollender Freund war – noch ist – und mir einen Einblick in seine Auffassung gesprächsweise gewährte. Einen Grund mit für diese Weltfremdheit erblicke ich darin, daß diese Medizinalbeamten schon durch ihre ganze Erziehung zu der genannten Einstellung gebracht werden. Ihr Werdegang ist so, daß sie die wirkliche Not, die in der behandelten Frage in unserem Volke herrscht, meist gar nicht richtig kennen oder wieder vergessen haben. Beinahe das gleiche gilt für die Universitätsprofessoren, deren berufliche Tätigkeit sich in dem Unterrichten der Studenten und Hebammen, in der Ausübung einer vornehmen Privatpraxis, in der Ausführung meist großer Operationen und schließlich in rein wissenschaftlicher Arbeit am Studiertisch und Mikroskop erschöpft. Wie sollten diese auf den Wolken thronenden Halbgötter da einen Einblick in das Volkselend, wie es jetzt herrscht, bekommen?! Man muß es nach dem Gesagten noch hoch anerkennen, daß trotzdem in den Reihen dieser – sicherlich das Beste wollenden – Männer sich einzelne finden, wie z. B. der kürzlich verstorbene Geheimrat Franz, Berlin, und der Würzburger Gauß u. a. mehr, die offen für eine ausgedehntere oder gänzliche Freigabe der Schwangerschaftsunterbrechung eintraten. Nun bleibt noch die Haltung der Praktiker zu besprechen. Wie, meiner festen Ueberzeugung nach, eine offene und ehrliche Abstimmung dieser enden würde, habe ich bereits gesagt und wiederhole nochmals, daß die Beschlüsse auf den Ärztetagungen ungewollte Meinungsfälschungen darstellen würden, wenn man diese Entschließungen mit der wirklichen Meinung der breiten Masse der praktischen Ärzteschaft gleichsetzen wollte. Die Ärzteschaft hat nun vorwiegend Anteil daran, festzulegen, in welchen Fällen von Erkrankungen der Arzt – wenn auch nicht im Sinne des Strafgesetzbuches, so doch vom ärztlichen Gesichtspunkte aus – berechtigt sein soll, eine Schwangerschaft zu unterbrechen. Hier kann ich wenigstens mit Freude feststellen, daß das ärztliche Empfinden schmiegsamer war als das der Rechtsgelehrten. Während letzteres im Jahre 1872 die Abtreibeparagraphen schuf und lehrgemäß, auch wenn man die in diesem Jahre vom Reichstag beschlossenen Milderungen berücksichtigt, nach wie vor das Recht für sich in Anspruch nimmt, jede vom Arzt vorgenommene Schwangerschaftsunterbrechung gegebenenfalls als strafbar ansehen zu dürfen, hat das ärztliche Gewissen sich erheblich geweitet. Im Jahre 1872 noch erkannte es – immer vom ärztlichen Standpunkt aus, wohlgemerkt – eine Anzeige der Unterbrechung nur an, wenn eine Beckenenge der Mutter vorlag; heute bekennen sich die meisten Sachverständigen dazu, dem Arzt auch dann das Recht zur Unterbrechung zu geben, wenn die Schwangere tuberkulös, herzkrank, nierenkrank oder geisteskrank ist, oder wenn sie in die Gefahr einer Stoffwechselvergiftung gerät. Ich verzichte darauf, die seltener vorkommenden weiteren Gründe hier noch alle anzuführen. Leider aber bestehen keine genauen Richtlinien, die, gerade dem gewissenhaften Arzt, als Ariadneknäul dienen könnten und ihm ermöglichten, sich durch dies gefährliche Labyrinth hindurchzufinden. Ein angeklagter Arzt ist in erschreckend hohem Maße von der subjektiven Meinung der Sachverständigen abhängig, die das aus Nichtmedizinern, also Laien, bestehende Gericht heranzieht. Der bei uns in Deutschland besonders entwickelte Glaube an die Würde und Maßgeblichkeit beamteter Ärzte führt dazu, daß nicht nur die Anklagebehörde vorwiegend solche Männer beruft, sondern auch, daß das Gericht auf die Meinung dieser Amtspersonen immer größeres Gewicht legen wird als auf das Urteil selbst kluger, erfahrungsreicher und wirklich praktischer Ärzte, obgleich gerade diese manchmal viel eher berufen wären, dem Gerichtshof dazu zu verhelfen, ein die Beweggründe der beschuldigten praktischen Ärzte richtig würdigendes und somit eben ein diesen Beweggründen gerecht werdendes Urteil zu finden. Der Hauptfehler beruht aber darin, daß die praktische Ärzteschaft selbst sich äußerlich dagegen sträubt, die letzte Konsequenz aus den bei uns herrschenden wirtschaftlichen Verhältnissen zu ziehen und die soziale Anzeige für die Schwangerschaftsunterbrechung anzuerkennen. Hier muß ich hervorheben, daß es heute Tausende deutscher Ärzte gibt, die seit Jahr und Tag sich durch soziale Anzeigen mitbestimmen lassen, wenn sie die Frage einer Unterbrechung entscheiden. Sie sagen dies nur nicht offen. Es hat auch gerade der praktische Arzt, von seinem ureigensten Standpunkt aus, auf die soziale Anzeige das allergrößte Gewicht zu legen! Er, der im Proletariat tätig ist, bekommt, wie kein anderer, Einblick in die Not, die dort herrscht. Einmal schon die Schwangere für sich betrachtet, wird für ihn oft Gegenstand der Sorge sein. Diese Arbeiterfrauen sind heute noch in einem meist sehr elenden Zustande, ihre Entwicklungszeit haben sie während des Krieges und der auf diesen folgenden noch schlimmeren Teuerungsjahre durchgemacht, dadurch ist ihr Körper zurückgeblieben. Sie kränkeln an Bleichsucht, an leichten tuberkulösen Erscheinungen, an allgemeiner Schwäche und haben es schon im nichtschwangeren Zustand oft schwer genug, auf den Beinen zu bleiben. Kommt dann für sie noch – über Nacht – die Aufgabe hinzu, in ihrem welken Leibe, der seinen eigenen Körperhaushalt kaum decken kann, ein neues Lebewesen aufzubauen, so geht das über ihre Kraft. Der denkende Arzt, geschweige denn der mitfühlende Mensch, kann an so etwas nicht vorübergehen! Der behandelnde Arzt soll auch derartige Fragen vom höheren Gesichtspunkte aus betrachten. Der § 1 des Entwurfs einer Standesordnung für die deutschen Ärzte besagt in seiner endgültigen Fassung: »Der deutsche Arzt übt seinen Beruf aus ..... unter dem höheren Gesichtspunkte der Fürsorge für die Gesundheit des einzelnen, wie für die Wohlfahrt der Allgemeinheit.« Diese Fassung gibt dem Arzt nicht nur das Recht, macht es ihm vielmehr zur Pflicht, alle Berufsfragen, die an ihn herantreten, weitblickend zu lösen. Die Allgemeinheit tritt ihm in jeder Familie entgegen, in der er ärztlich tätig ist. So kommen wir zur Besprechung der sozialen Anzeige der Schwangerschaftsunterbrechung in bezug auf die Wohlfahrt der Familie der Schwangeren, die gestört wird, wenn die an sich oft schon völlig unzulängliche Ernährung anderer Sprößlinge durch die ungehemmte Vermehrung der Zahl dieser immer wieder vermindert wird, wenn die ungesunde, enge Wohnung noch mehr übervölkert wird. Vor allem wird die Existenz der Familie gefährdet, wenn die Gesundheit und das Leben der Mutter durch eine über deren Kraft gehende Schwangerschaft gefährdet wird. Stirbt die Mutter daran oder wird sie siech, so gehen meist auch die Kinder zugrunde, die in diesen ärmlichen Kreisen ganz besonders auf die liebende Fürsorge der Mutter angewiesen sind, weil sie sowieso schon im Schatten des Lebens aufwachsen und an sich meist kränklich und schwächlich sind. Der Naturforscher und Arzt wird seine Entschlüsse besonders genau zu prüfen haben, wenn Schwindsucht in der Familie herrscht. Diese mag noch so gutartig und leicht erscheinen, so wissen wir doch, daß die tückische Krankheit gerade in der Schwangerschaft oft unheimliche und ungeahnte Fortschritte macht. Dann wird die bis dahin noch keine Tuberkeln auswerfende Mutter zu einem neuen Schwindsuchtsherd, die Familie zu einem neuen »Tuberkulosenest«. Die Kinder dieser kranken Familie stecken erst noch eine Reihe anderer in Schule, Haus und Leben an, dann stirbt auch die Mutter, später die Kinder. Alles dies kann der energische, verantwortungsfreudige Arzt verhüten. Es muß also geprüft werden, warum die so in die Augen springenden Gesichtspunkte der sozialen Anzeige zur Unterbrechung so wenig gewürdigt werden. Dazu müssen wir die in Frage kommenden Ärzte wieder in Gruppen einteilen. Die älteren wurden schon gekennzeichnet. Abgesehen von sehr Geschickten und besonders Befähigten tritt naturgemäß mit zunehmendem Alter auch ein Rückgang der eigenen Leistungsfähigkeit als Operateur ein. Die ganz jungen Ärzte stehen zunächst noch unter dem Bann der Lehren, die sie auf der Universität empfangen haben. Wie diese sind – nur sein können –, ergibt sich aus dem, was ich vorher über die Einstellung der Universitätslehrer gesagt habe. Der junge Arzt erblickt zunächst alles durch die Brille dieser Herren, es fehlen ihm ja noch eigene Erfahrungen. Wenn er dann aber in unmittelbare Berührung mit dem Volk, seinem Alltagsleben, seinen Nöten kommt, wird er unsicher, prüfend und fühlt sich dann bald unglücklich im Beruf, weil er in inneren Zwiespalt gerät oder – und das ist für seine ganze weitere Tätigkeit noch bedauerlicher –¦ abstumpft und gleichgültig wird. Ein sehr gehaltvoller, jüngerer beamteter Arzt hat mir offen eingestanden, daß er gerade deshalb Amtsarzt geworden sei, um derartigen inneren Kämpfen enthoben zu sein! Es besteht aber noch eine zweite Möglichkeit! Der junge Arzt kommt zu dem Entschluß, sich über die Starre des Gesetzes hinwegzusetzen, wenn ärztliche Gründe ihn auffordern, eine Unterbrechung vorzunehmen. Er zieht dann wohl noch einen andern Arzt zu Rate, von dem er annimmt, daß er ähnlich denkt wie er selber, von dem er aber gewiß überzeugt ist, daß er sachlich und genau prüfend entscheiden wird. Es wäre von ihm unsinnig gehandelt, wenn er als Berater jemand wählen würde, von dem er genau weiß, daß er übermäßig bewahrsam und rückständig eingestellt ist. Einen so gesinnten Kollegen hinzuzuziehen hätte nur Sinn, wenn der erstgenannte Arzt Spiegelfechterei vor der Schwangeren treiben und sich eine bequeme Rückendeckung besorgen wollte; das wäre aber wenig würdig gehandelt. Im Hirn des Staatsanwalts und unter dem Eindruck seines Vorbringens auch beim – ärztlich betrachtet – Laiengericht wird aus den geschilderten, so natürlich sich erklärenden Vorgängen flugs ein »Jagen zu zweien«, ein »sich in die Hände arbeiten«. Die ahnungslosen jungen Kollegen, die in gewaltiger Anzahl so handelten und es noch tun, wie ich es schilderte, und im Vaterlande noch frei herumlaufen, sollen von mir gewarnt werden! Ohne die geringste Kritik an mein Strafverfahren und die Gründe des gefällten Urteils anzulegen, will ich wahrheitsgetreu nur drei Fälle zur Kennzeichnung des Ganzen herausgreifen, die mit plastischer Schärfe enthüllen werden, wie jeder derartige Eingriff enden kann.
Fall 1 (X.)
Patientin war mir seit ca. sechs Jahren – damals noch als junges Mädchen – bekannt. Angesehene Familie, einzige Tochter. Leichte Lungenspitzentuberkulose, musterbildlich tuberkulös im Aussehen, mehrfach deshalb behandelt. Vor Eheschließung gewarnt, Warnung unbeachtet. Nunmehr wenigstens Schwangerschaft vorläufig streng verboten. Trotzdem neun Monate nach der Hochzeit das erste Kind. Vor Stillen gewarnt. Trotzdem gestillt. Vor schneller neuer Schwangerschaft gewarnt. Trotzdem acht Monate später erneut vorliegend (im zweiten Monat). Patientin hat in drei Wochen zwölf Pfund abgenommen. Lungenbefund hat sich wesentlich verschlechtert, erhöhte Körperwärme spricht für Aufflackern der tuberkulösen Vorgänge. Das alles wird durch tüchtigen, unbescholtenen Kollegen nachgeprüft und bestätigt. Acht Tage gewartet, erneut untersucht, und weil Zustand weiter besorgniserregend bleibt, die Schwangerschaft unterbrochen. Zwei Sachverständige hatten ein schriftliches Gutachten dahin abgegeben, daß eine verbotene Abtreibung vorläge. Sie gaben dieses Gutachten ab, obwohl der Fall eineinhalb bis zwei Jahre zurücklag, als sie die Frau untersuchten. Der Fall kam zur Anklage. In der Hauptverhandlung sprach sich ein dritter Sachverständiger zu unseren Gunsten aus, der Staatsanwalt zog den Fall zurück. Er hat uns trotzdem geschadet, weil er von vornherein den Anklagestoff vermehrte. Wäre der dritte Sachverständige nicht dagewesen, wären wir auch in diesem Falle sicherlich verurteilt worden.
Fall 2 (Y.)
Kommt, im vierten Monat schwanger, aber nicht deshalb, sondern wegen Lungenerkrankung. Hochgradig blutarm, schwach und elend. Ich nehme Röntgendurchleuchtung vor, die größere kranke – tuberkulöse – Stellen in einem Lungenflügel ergibt. Behandlung mit Tuberkulose-Schutzimpfung nach dem Verfahren von Geheimrat Ponndorf. Diese erstreckt sich über drei Monate, jeden Monat eine Impfung. (Fünf solcher Impfungen werden im allgemeinen gemacht.) Die beiden letzten Impfungen wurden bei dieser Patientin unterlassen, weil sie die besonders schwere Auswirkung der Impfungen nicht vertrug und ihr Zustand sich weiter verschlechterte. Sie wird so elend, daß ihr Arbeitgeber, ein Rechtsanwalt, sie von sich aus völlig (mit Gehalt) beurlaubt. Ich befürchte, daß die Geburt durch die Größe eines ganz ausgetragenen Kindes in der Austreibungsperiode zu einer tödlichen Lungenblutung führen könnte, lasse die Patientin an dritter Stelle – im Städtischen Krankenhaus – röntgen; der dortige Facharzt, mittlerweile verstorben, stellt Herde in der Lunge fest. Die Platte – sie kam mit einem Sprung in meinen Besitz – wurde einundeinviertel Jahr aufgehoben, zerbrach dann ganz und wurde weggeworfen, mein Unstern wollte das so! – Sie zeigte abermals an der gleichen Stelle wie vorher tuberkulöse Herde. Es erfolgte eine Nachprüfung durch einen unbescholtenen Kollegen, der nach Besichtigung der Patientin und der Platte sagte: »Hier ist keine Minute zu verlieren!« Die Schwangerschaft war mittlerweile zu Ende des siebenten Monats – Anfang des achten – gediehen. Ich leite mit dem zweiten Arzt kunstgerecht die Frühgeburt ein. Nach drei Tagen erfolgt Zangenextraktion eines wohl schon länger abgestorbenen Kindes unter Schonung der Mutter. Drei viertel Jahr später überwies ich diese Kranke an die öffentliche, unter Leitung des Kreisarztes stehende Lungenfürsorgestelle. Dieser stellte damals noch – dies beweist das dort geführte ärztliche Tagebuch – eine Schwindsucht an der gleichen Stelle der Lunge wie früher fest und verschaffte der Patientin eine dreimonatige Heilstättenkur. Nach dieser wurde sie von dort mit abgeheilter Lungenschwindsucht und noch bestehender Drüsentuberkulose entlassen. Der ganze Fall wurde herangezogen, obwohl er eineinhalb bis zwei Jahre zurücklag. Die beamteten Sachverständigen, darunter der genannte Kreisarzt, erklärten ihn für eine Abtreibung. Daß hier niemals die Tötung der Frucht beabsichtigt sein konnte, was für eine Rechtsverletzung, wie sie der § 218 bestrafen will, unerläßlich ist, blieb gänzlich außer Betracht (meine Verteidiger vergaßen leider, hierauf hinzuweisen). Jeder Laie weiß, daß ein Achtmonatskind durchaus lebensfähig ist. Daß es abgestorben war – dieses stellte sich erst später heraus –, war nicht vorauszusehen und konnte mich nie belasten. Wir sind auch in diesem Fall verurteilt worden. Im Urteil fand sich ein Satz, der besagte, daß das Gericht aus der Unterlassung der zwei letzten Ponndorfschen Schutzimpfungen gefolgert habe, die angeklagten Ärzte hätten sich nur ein ärztliches Mäntelchen umhängen wollen und an die wissenschaftliche Berechtigung ihres Vorgehens selbst nicht geglaubt! Diese Folgerung könnte von Ärzten, die das Wesen der Ponndorfschen Schutzimpfung kennen, niemals gezogen werden.
Fall 3 (Z.)
Frau Z., Landmannsfrau, elend, kam mit Brief eines Landarztes, der ungefähr wörtlich lautete: »S. g. H. Kollege! Frau Z. hat einen verdächtigen Lungenspitzenkatarrh, nebenbei ist sie sehr nervös. Bei der Frage, ob durch eine Unterbrechung der bestehenden Schwangerschaft der Zustand gebessert werden kann, bitte ich zu berücksichtigen, daß sie sehr blutarm ist.« Die Untersuchung ergibt neben großer Allgemeinschwäche eine musterbildliche schwindsüchtige Lungenspitzenentzündung, abweichend vom Gewöhnlichen, auf beiden Lungenspitzen. Dieser Befund wurde von mir schriftlich festgelegt. Der zugezogene zweite (unbescholtene) Arzt untersuchte nochmals getrennt von mir, allein und gänzlich unbeeinflußt, er legte das Ergebnis seiner Untersuchung fest, und dieses deckte sich mit meinem vorher erhobenen. Die Schwangerschaft wurde unterbrochen. Dieser Fall, der auch ein bis anderthalb Jahr zurücklag, wurde auch herangezogen. Die Frau war mittlerweile – vor drei viertel Jahren – nach Brasilien ausgewandert. Der Landarzt hatte ihr dazu das vorgeschriebene Gesundheitszeugnis ausgestellt. Er wurde als Zeuge vernommen und sollte nun den Brief an mich und das Zeugnis in Einklang miteinander bringen. Er beeidete, daß er den Brief geschrieben habe, um die Kranke »loszuwerden«. Alle Sachverständigen bekundeten zwar, daß er dann seinen Brief hätte ganz anders abfassen müssen! – Ich bete täglich das Vaterunser ..... als auch wir vergeben unsern Schuldigern! –, denn wir wurden verurteilt! Die Sachverständigen (zwei beamtete Ärzte) beurteilten den Fall. Die Patientin hatten sie nie gesehen. Sapienti sat, d. h., wenn ihr nun, ihr jungen Kollegen, noch nicht merkt, daß der praktische Arzt jederzeit mit einem Fuß im Zuchthaus steht, wenn er überhaupt Unterbrechungen vornimmt, selbst wenn er sich von seiner reinsten ärztlichen Ueberzeugung leiten läßt, dann werdet ihr es nie einsehen! Discite moniti! Ihr seid gewarnt!
Ein Gutachten, das ein vereidigter Sachverständiger abgibt, muß gewiß unbedingt geachtet werden, denn es ist sicherlich im ernsten Bemühen verfaßt, die Wahrheit zu finden. Wenn aber das Gutachten sich auf wissenschaftliche Dinge bezieht, ist es doch wohl möglich, daß Irrtümer unterlaufen, daß etwas als feststehend angesehen wird, was mit dem Fortschreiten der Wissenschaft sich nachher als irrig erweist. In meinem Strafverfahren handelte es sich vorwiegend um Tuberkulosefälle. Wenn dann die Herren Sachverständigen im schriftlichen Gutachten und auch nachher in der mündlichen Hauptverhandlung mir beweisen zu können glaubten, daß in den von mir behandelten Fällen keine ernsthafte Tuberkulose bestanden haben könnte, dann gipfelten und schlossen ihre Ausführungen immer damit, daß sie sagten: »Wir haben diese Frau beziehungsweise ihre Lunge röntgenphotographiert. Das Röntgenbild ist jetzt nahezu normal. Folglich hat bei dieser Patientin keine Tuberkulose bestanden.« Dieser Satz wurde immer wieder leidenschaftlich vorgebracht und verfehlte nicht seine Wirkung auf den Gerichtshof. Es half mir, dem Angeklagten, nichts, daß ich immer wieder betonte, »eine Tuberkulose kann so ausheilen, daß nach einiger Zeit das Röntgenbild normal wird, ferner, gerade eine Tuberkulose, die in der Schwangerschaft aufflammt und durch rechtzeitige Unterbrechung wieder erstickt wird, hat besonders gute Aussichten so vollständig auszuheilen, daß nach einiger Zeit auch im Röntgenbild nichts mehr zu sehen ist.« Da war es denn geradezu niederschmetternd für mich, als ich im Juli dieses Jahres in der »Medizinischen Welt«, einer führenden Fachzeitschrift, die Antworten namhafter Ärzte las, die auf die Anfrage: »Röntgenbild negativ bei ausgeheilter Tuberkulose?« gegeben wurden. Professor Hänisch-Hamburg und Dr. Dietlen-Homburg haben nämlich, besonders der letztere, es als absolut möglich bezeichnet, daß, wie ich auch in der Verhandlung betonte, ausgeheilte Tuberkulosen ein negatives Röntgenbild später ergeben könnten.
Die Umfrage wurde in der Oktobernummer der »Medizinischen Welt« fortgesetzt und brachte weitere Bestätigungen. Professor Haudek-Wien äußerte sich dahin, daß Lungenprozesse, die auf dem Röntgenbild recht auffällig in Erscheinung getreten seien, manchmal nahezu spurlos verschwinden können. So habe er eine eigroße Kaverne mit ausgedehnter Verschattung völlig verschwinden gesehen. Die Plattenserie sei, da sie zur Beruhigung des Publikums beitragen sollte, auf der Hygieneausstellung 1925 in Wien ausgestellt worden (acta radiologica vol. VI S. 517, Tafel 55, Fig. 3a und 3b). Privatdozent Gassul schreibt: »Was die sekundäre Lungentuberkulose betrifft, so wissen wir jetzt, daß die ausgiebigsten Infiltrationsverschattungen spurlos aus dem Bilde verschwinden können.«
Dr. Wolff-Davos sagt: »Es gibt Formen der Tuberkulose, die so restlos ausheilen, daß röntgenologisch keine Residuen (Überbleibsel, d. V.) der früher durchgemachten Entzündungen nachzuweisen sind. Immerhin wird auch vom Pathologen die Möglichkeit einer vollständigen Resorption exsudativ – tuberkulöser Herde – nicht geleugnet« usf.
Chefarzt Ulrici bemerkt: »Die Erfahrung der letzten Jahre hat uns weitgehende Rückbildung frischer tuberkulöser Herde kennen gelernt, die früher gänzlich unbekannt war. Unzweifelhaft können solche Herde, auch wenn ihr Charakter durch den Bazillennachweis ganz sicher bewiesen war, sich soweit zurückbilden, daß sie auf der Platte gar nicht sichtbar sind usf. Darüber hinausgehend verfüge ich über eine Anzahl von Doppelaufnahmen, aus denen hervorgeht, daß klinisch und röntgenologisch nachgewiesene Kavernen bis fast Hühnereigröße sich nach geeigneter Behandlung so weit zurückbilden können, daß der Herd auf dem zweiten Bild nur mit Hilfe des ersten Bildes gefunden oder doch richtig gedeutet werden kann.
Auch mir, dem Verfasser, und besonders einem mit mir verurteilten Kollegen, stehen hier an Ort und Stelle wissenschaftlich exakte Beweise in ähnlicher Richtung zur Verfügung. Ich darf aber darauf verzichten, hierauf näher einzugehen, weil naturgemäß die gänzlich objektiven, ohne jeden Hinblick auf irgendein Strafverfahren angeführten gutachtlichen Äußerungen dieser großen Anzahl von Tuberkuloseforschern schon durchschlagend genug wirken. Ich möchte noch besonders darauf hinweisen, daß sämtliche Gelehrte, die sich überhaupt äußerten, ausnahmslos sich auf den Standpunkt gestellt haben: Eine Tuberkulose kann so ausheilen, daß man nachher auch im besten Röntgenbild nichts mehr sehen kann. Der objektive Leser wird mir daher wohl, wenn er dies alles erfahren hat, rechtgeben, wenn ich unwillkürlich zu der Feststellung komme: »Irren ist menschlich.« Gerichtliche Sachverständige sind Menschen. Folglich können auch Sachverständige irren (entsprechend dem Satz Lessings: Cajus ist ein Mensch, alle Menschen sind sterblich, darum ist auch Cajus sterblich). Es ist nur sehr schmerzlich, wenn man nicht nur gefühlsmäßig, sondern nahezu mit Gewißheit empfindet, das Opfer eines Irrtums geworden zu sein.
Ich fürchte aber immer noch, daß Ärzte, die diese Schrift lesen, sich trotz allem, was ich ausführte, noch nicht ganz darüber im klaren sind, was für ein furchtbares Damoklesschwert über ihnen schwebt. Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß jene unglücklichen Ärzte, die in ein Strafverfahren wegen Abtreibung verwickelt werden, nur einen geringen Bruchteil jener großen Zahl darstellen, die man anklagen, zum mindesten aber in ein Verfahren verwickeln könnte. Ich will damit nicht etwa behaupten, daß die Rechtsbehörden etwa mit zweierlei Maß mäßen, wenn die Anklage erst erhoben ist. Ich verweise aber auf das alte Wort: »Wo kein Ankläger ist, da ist auch kein Richter.« Wie sehr ist es aber vom Zufall abhängig, ob dem Arzt ein Ankläger erwächst oder nicht! Da gibt es neidische, aller sittlichen Hemmungen bare Mitbewerber um die ärztliche Praxis, Frauen, die über eine Ablehnung der von ihnen gewollten Abtreibung erbost sind, politische Feinde, die eine Entfernung des verhaßten Gegners aus Beruf, Stellung, ja aus dem Leben wünschen, entlassene Angestellte, die Maßnahmen des Arztes aus Torheit oder Böswilligkeit falsch deuten. Ich glaube, diese Blütenlese genügt! Der Richter tut dann gewiß nur seine Pflicht, wenn er mit allen Machtmitteln, die ihm das herrschende Recht verleiht, der Angelegenheit auf das Sorgfältigste nachgeht. Die Strafrechtsreform will nun die Machtbefugnisse des Berufsrichters noch mehr erweitern, so weit, daß auch dem selbstbewußten Rechtsgelehrten beinahe ein Grauen überkommen muß, wenn er sich einer ihm verliehenen Machtfülle gegenüber sieht, die alles in den Schatten stellt, was die Geschichte der Rechtspflege bisher kannte. Wehe dir, wenn du dann das Unglück hast, einem Menschenfeind als Richter überantwortet zu werden, oder einem, der – vielleicht, weil du dich in der Lebensauffassung oder in der Vorliebe für eine andere Staatsform wesentlich von ihm unterscheidest – eine unbewußte Abneigung gegen dich hegt, eine Abneigung, wie sie auf dem Boden der Kleinstadt – im engen Kreise – manchmal so leicht wächst. Es sei ferne von mir, auch nur mit einer Silbe den Gedanken ausdrücken zu wollen, daß unsere deutschen Richter nicht etwa nur nach ihrer Überzeugung dächten und handelten. Aber immerhin, sie sind auch Menschen, sind von Stimmungen, von oft kastengeistigen Auffassungen erfüllt, und können sich dann von solchen geistigen Unterströmungen nicht ganz freimachen, zumal sie sich ihrer unbewußt sind. Je mehr daher das »freie Ermessen« des Richters erweitert wird, desto mehr wird es darauf ankommen, wie seine Gemütsart, seine Einstellung zum Leben, wie groß und wie klein sein Gesichtskreis ist, welche Stellung er zu wichtigen Fragen, hier zum Beispiel zur Frage der Schwangerschaftsunterbrechung auf Grund eigener Gedanken und Erlebnisse einnimmt. Es ist also ein Glücksspiel, an wen man als Richter gerät. Es ist dir freilich in jedem Falle zu wünschen, daß du über eiserne Nerven und eine große Menge körperlicher Widerstandskraft verfügst! Denn das laß dir gesagt sein: Die seelischen Qualen und körperlichen Schädigungen, die eine mehrmonatige Untersuchungshaft – die sich übrigens je nach der Gründlichkeit des Richters beliebig bis zu ein oder zwei Jahren verlängern könnte – bedeutet, sind eine wahre Hölle.
Schon die Verhaftung ist eine furchtbare Nervenprobe! Nimm einmal an, du hättest so deine zwanzig bis dreißig Patienten abgefertigt, dich dann ins Auto geworfen, um Kranke auf dem Lande zu besuchen, du wärest dann zurückgekommen, um gleich wieder die Nachmittagssprechstunde zu beginnen, ohne dir auch nur Zeit zum Mittagessen zu lassen, du hättest gerade den ersten Patienten zur Untersuchung in dein Zimmer gebeten, und dann wäre mit einem Male ein Kriminalbeamter vor dich getreten, hätte dir seine Erkennungsmarke entgegengeschleudert und dich, als unter dem Verdachte, abgetrieben zu haben, stehend, für verhaftet erklärt. Du magst noch so fest von deiner Unschuld überzeugt sein, angenehm ist so etwas auf keinen Fall. Ist der Richter besonders tatkräftig, so schickt er noch ein halbes Dutzend anderer Kriminalbeamter mit, die alle Ausgänge deines Hauses besetzen und deine unglücklichen, zufällig anwesenden Patienten gleich mit Namen feststellen. Deine Gattin kommt im höchsten Schreck herbei, in Tränen aufgelöst, deine Kinder sitzen zitternd in ihrem Zimmer, es beginnt sofort eine Untersuchung des Hauses vom Keller bis zum Dach, dein Berufsgeheimnis löst sich in ein Nichts auf, denn du bist von dem Tage an, an dem dein Haftbefehl unterzeichnet wird, auf Gedeih und Verderb der Macht des Untersuchungsrichters ausgeliefert. Man nimmt dich dann, je nach der Dienstauffassung des betreffenden Beamten, in einer für dich mehr oder weniger peinlichen Weise mit ins Gefängnis, dort lieferst du erst einmal alle persönlichen Gegenstände (nach der strengen Gefängnisordnung) ab, bekommst eine wirklich nicht ganz neue Matratze und etwas Blechgeschirr ausgehändigt und beziehst einen nicht gerade freundlichen Raum, in dem du genau sechs Schritte machen kannst, um ihn der Länge nach zu durchschreiten. Die Breite ist erheblich geringer. Die Tür fällt hinter dir zu, das Martyrium beginnt, und kein Mensch weiß, wann es endet. Die dir angebotene Nahrung weist du zurück, am nächsten Tag kommt dann die erste Vernehmung. Eine zweite harte Nervenprobe. Der vernehmende Richter wird von einem oder zwei Sachverständigen unterstützt. Hierzu ist in erster Linie ein Gerichtsarzt berufen. Auch er ist als Beamter natürlich ganz sachlich eingestellt, und trotzdem will ich dir nur wünschen, daß er auch im Unterbewußtsein keine Abneigung gegen dich hegt! Und doch wie leicht könnte dies der Fall sein! Reibungen zwischen beamteten Ärzten und Praktikern sind ja gar nicht so selten! Im Verhör wird viel von dir verlangt! Man wird oft Anforderungen an deine Gedächtniskraft stellen, die du einfach nicht erfüllen kannst! Du hast vielleicht tagtäglich deine vierzig bis fünfzig Patienten unter den Fingern gehabt, nun sollst du aus dem Gedächtnis heraus über Dinge Rechenschaft geben, die Jahre zurückliegen und dir damals vielleicht geringfügig erschienen, die also nicht hafteten. Kannst du dich nicht besinnen, ist es wohl möglich, daß man den Eindruck bekommt, du wolltest dich nicht besinnen. Dein Widerpart wendet sich nun beharrlich dem Ziele zu, deinen Charakter und deine Glaubwürdigkeit gehörig unter die Lupe zu nehmen. Seinem »Ermessen« ist hierbei der größte Spielraum gewährt! Hier wieder wird das Unterbewußtsein eine ganz gewaltige Rolle spielen. Und doch! So qualvoll diese Verhöre sind, bedeuten sie immer noch eine Abwechslung für dich, eine Möglichkeit, die bis zum Zerreißen gespannten Nerven zum Abklingen zu bringen. Du bist ja zum Trappisten geworden, mein armer Freund! Mit Ausnahme des Geistlichen und des Arztes, deren Hilfe du doch nur im Notfalle in Anspruch nehmen wirst, siehst du nur schweigsame Beamte, die nach außen hin die starre Maske der Pflicht tragen, obwohl unter der rauhen Hülle manchmal ein weiches Herz schlagen mag. Jedes Sprechen mit dir ist ihnen strengstens untersagt. Es bleibt dir also nur übrig, dich geistig zu beschäftigen. Doch deine Gedanken kreisen immer wieder um den einen Punkt, um die Anklage gegen dich. Wohl bietet auch die spärliche geistige Weide der Gefangenenbücherei etwas Zerstreuung. Doch wenn du die oft nur aus Geschenken zusammengekommenen Bücher der Bücherei eines kleinen Gefängnisses – manchmal möchte man wirklich denken: »Hier kann Schutt abgeladen werden« –, wenn du diese Bücherei durchflogen hast, kehrst du doch immer wieder zu deinem eigenen Drama zurück. Ab und zu wirst du »vorgeführt«. Man muß da unwillkürlich an einen Hund denken, der an die Leine genommen wird. Streng abgesondert und wohlbewacht durchwanderst du dann die Gänge des Zellenbaues und wirst zu deinem Herrn und Gebieter, dem Herrn Untersuchungsrichter, gebracht. Dieser gefällt sich vielleicht in betonter Höflichkeit dir gegenüber, und wenn du nicht allzusehr auf den Kopf gefallen bist, merkst du bald, daß der Gang der Untersuchung um so gefährlicher für dich wird, je höflicher, ich bin versucht sogar zu sagen, je »liebenswürdiger« der Rechtsgelehrte wird! Und doch bleibt das »Abwechslung«. Willst du dir ein gutes Bild von solchen Verhören machen, so lies im Raskolnikoff (»Schuld und Sühne«) von Dostojewski nach. Dort sind solche Verhöre meisterhaft geschildert. Glaubst du nun, einmal irgendwie benachteiligt zu sein und legst gar Beschwerde ein, dann geht das Verschicken der Akten los, von Gericht zu Gericht. Kostbare Stunden, Tage ja Monate gehen in der Untersuchungshaft verloren, wertvollste Zeit deines Lebens rinnt wie Blut von dir und versickert nutzlos in der Ewigkeit. Auch die Sachverständigen sollen sich manchmal recht reichlich Zeit lassen und die Akten auf ihren Schreibtischen aufstapeln. Wie schade, daß keine Vorschrift besteht, die gestattet, solche Herzlosen mit den Qualen der Haft bekannt zu machen. Du wirst aber nicht nur »vorgeführt«, sondern du wirst auch sonst noch »bewegt«. Täglich eine halbe Stunde lang hast du die Berechtigung, mit noch einer Rotte anderer Verbrecher im Hof des Gefängnisses Karussell zu gehen. Alles ist dabei streng geregelt, kein Blick, kein Wort ist erlaubt. Der Beamte arbeitet wie eine Maschine. Wehe dem, der ihrem Getriebe zu nahe kommt! Alle deine schriftlich niedergelegten Gedanken, die zu deinen Lieben fliegen möchten, werden erst dem Untersuchungsrichter vorgelegt, ebenso die Antworten darauf. Wenn du nur einigermaßen feinfühlig bist, ist dir daher eigentlich jegliche seelische Verbindung mit ihnen abgeschlossen. Denn wer läßt gern Dritte in die zarten Beziehungen der Familie hineinspähen! Vom Materiellen wollen wir gar nicht reden. Als Akademiker wirst du so philosophisch denken gelernt haben, daß dir die veränderte Nahrung, der Mangel an frischer Luft und Bewegung vielleicht die geringste Sorge sein wird. Doch was die Seele erträgt, dem Körper kann es sehr schädlich sein. Bist du nicht mehr ganz jung, wirst du bald leidend sein. Das Herz wird überanstrengt, die unendlich langen Nächte – ohne Licht verbracht im qualvollen Grübeln und Hindämmern –, die täglich durch deine Lage bedingten Verhöhnungen deines Würdegefühls, die Sorge um die Zukunft werden bald anfangen, dein Nervensystem zu zerrütten, und dann wehe dir, dann beginnt man fester zuzupacken. Ein Widerspruch, und deine Glaubwürdigkeit ist schwer erschüttert. Nun kannst du auch einmal erleben, was Klatsch und Verleumdung bedeutet. Du bist ja gefangen und kannst dich nicht wehren. Ich will dich nicht mit dem sterbenden Löwen in der Fabel vergleichen, um dich nicht eitel zu machen, aber an Eseln, die dir Fußtritte versetzen, wird es dir sicher nicht fehlen. Und diese Esel sind noch die harmloseren deiner Feinde, sie lügen und entstellen meist gleich so plump, daß jeder einigermaßen gerecht Denkende es merkt. Ich mußte zum Beispiel erleben, daß man nach meiner Verhaftung das Gerücht verbreitete, ich wäre nicht wegen Verstößen gegen den § 218 verhaftet worden, sondern »weil ich Spionage mit Frankreich getrieben hätte«. Wenn man sich vor Augen hält, daß ich vom zweiten Mobilmachungstage bis zum letzten Kriegstage als Arzt Kriegsdienst – meist an der Front – leistete, daß ich mit dem E. K. I ausgezeichnet wurde, nachdem ich eine freiwillig übernommene, recht gefährliche große Aufgabe auf dem Gebiete der Seuchenbekämpfung erfolgreich gelöst hatte, wenn man dies bedenkt, wird man verstehen, daß ich in ohnmächtiger Wut in meiner trostlosen Zelle mit den Zähnen geknirscht habe, als ich diese gemeine Lüge erfuhr, die ich erwähnte. – Neben den oben erwähnten Eseln wagen sich nun aber auch giftige Reptilien aller Art hervor, die du vielleicht mit oder ohne Absicht früher einmal auf den Schwanz getreten hast. Das sind die politischen Kaffeeschwestern, die Sechsdreier-Rentiers und ähnliche Typen, die die sonnigen Bänke in den Anlagen klöhnend und klatschend bevölkern, kurz gesagt, das Spießertum. Sie begnügen sich nicht damit, deinen guten Ruf von Grund auf zu zerstören, sondern sie flechten vor allen Dingen Dornenkronen für deine Angehörigen. Man beginnt damit, »deine Frau zu schneiden«. Das hat gewiß den Vorteil, daß diese lernt, Gold von Schlacke zu unterscheiden, aber bitter bleibt es darum doch. Nehmen wir aber an, deine Frau ist stark und hat Charakter, dann wird sie es überwinden, wenn auch ein Gefühl der Menschenverachtung in ihr entsteht, das sie nie mehr verlieren wird. Anders aber geht es deinen Kindern: Ob die Lehrerschaft an den höheren Schulen heutzutage durchweg neuzeitlich und freiheitlich denkt, will ich nicht besprechen. Selbst wenn es der Fall wäre, würde es die Kinder in der Schule, die Altersgenossinnen deiner Kinder, nicht abhalten, mit aller Grausamkeit über deine Kinder herzufallen, sie den gesellschaftlichen Sturz ihrer Familie mit allen seinen Bitterkeiten auskosten zu lassen. Kinder können ja noch viel gehässiger sein als Erwachsene.
Auch bei den Zeugenvernehmungen wirst du bald erkennen, wie unergründlich die Seele des Menschen ist. Leute, als deren Wohltäter, ja Lebensretter du dich mit Recht ansehen durftest, werden als Zeugen vernommen, sie drehen und wenden sich um die Wahrheit herum, um eigener, manchmal auch nur vermeintlicher Gefahr zu entgehen und belasten dich, wo sie dich entlasten müßten. So verstrickt sich denn das Netz, in dem du gefangen bist, mit immer engeren Maschen. Mit Emsigkeit durchstöbern scharfe Juristenaugen dein ganzes Leben. Jugendtorheiten, kleine Zwiste, längst beigelegt, die du einmal hattest, winzige Abirrungen vom Pfade der Herde, wie sie gerade der wertige Mensch manchmal in seiner Sturm- und Drangperiode begeht, werden herausgearbeitet und geschickt zu einem Mosaikbild deines Charakters, deines Wesens zusammengesetzt, vor dem jeder, der dich nicht besser kennt, erschauert. Vielleicht hast du schon ein paar Schlaganfälle hinter dir oder bist geistig zermürbt, wenn es dann zur Hauptverhandlung kommt. Gewißlich trittst du in ihr vor Richter, die von der Heiligkeit ihrer Aufgabe erfüllt sind, die sich bemühen, sachlich zu denken, doch wieder dieselbe Erscheinung! Im Unterbewußtsein vorhandene Einstellungen sind auch hier im reichen Maße vorhanden. Du stehst sicherlich den Berufsrichtern innerlich meilenweit entfernt gegenüber, während der Ankläger, der Untersuchungsrichter und Sachverständige, auf deren Urteil und Stellungnahme ungeheuer viel ankommt, durch Zugehörigkeit zum gemeinsamen Stande, zur gleichen Kaste, damit auch zur gleichen Gesinnung, diesen Berufsrichtern recht nahe stehen. Zudem bist du »angeklagt«, das heißt in dürren Worten, ernsthafte Männer, erprobte Rechtsgelehrte, erfahrene beamtete Ärzte halten dich für »hinreichend verdächtig«, etwas Strafbares begangen zu haben. Ueber die Tätigkeit der Sachverständigen ist bereits gesprochen worden, und wenn man alles Gesagte zusammenfaßt und überblickt, wird man klar erkennen, daß es geradezu ein Glücksfall ist, wenn der unglückseligste aller Angeklagten freigesprochen wird. Wir haben ja unsere alten wirklichen Schwurgerichte nicht mehr. In diesen alten Schwurgerichten waren die Laienrichter die Ausschlaggebenden. Zwölf an der Zahl, berieten sie, dem Einfluß der Berufsrichter völlig entzogen, über die Schuldfrage, und in ihre Hand war das eigentliche Urteil gelegt. Jetzt beraten drei Berufsrichter und sechs Geschworene gemeinsam und urteilen auch gemeinsam. Da man nach einem Dichterwort die Stimmen wägen und nicht zählen soll, kann man sich ohne weiteres klar machen, welch schweres Gewicht die Stimme eines Landgerichtsdirektors und zweier Landgerichtsräte, verglichen mit dem Gewicht der Stimmen der sechs Laien, in der Wage der Göttin Themis darstellt. So kann es sich zutragen, daß die Laienrichter vollzählig oder in ihrer größten Mehrzahl mit der sicheren Absicht in die entscheidende Sitzung eintreten, dich völlig freizusprechen, daß sie dann aber der Auffassung und Beredsamkeit, dem gewaltigen geistigen Einfluß der Berufsrichter völlig unterliegen, wenn die Entscheidung fällt. Wie furchtbar wird dieser Schlag für dich sein, wenn du alles dies dann nachher erfährst und den seidenen Faden vor Augen siehst, an dem in dieser Stunde der Entscheidung dein Lebensschicksal, das Schicksal deiner Familie mit dir, zwischen schuldig und unschuldig, ehrlich und gebrandmarkt pendelte. Es ist ja auch an sich schon recht viel verlangt, daß Männer aus dem Volke, Handwerker, kleine Landwirte und kleine Beamte, die als Geschworene ausgelost sind, sich in deiner Sache ein Urteil bilden sollen. Es besteht gerade in einem so wissenschaftlichen Streitfall, wie unsere Frage es nun einmal ist, die ungeheure Gefahr, daß diese Biedermänner, obwohl sie es ernst mit ihrer Aufgabe nehmen, schließlich nicht mehr dem Gang der Verhandlung folgen können, dann den freien Willen verlieren, selbst zu entscheiden, um sich schließlich der Führung der Berufsrichter anvertrauen zu müssen. Du wirst daher, mein Freund, wenn du dies alles einmal selber erlebt hast, jene mutigen Kämpfer, besonders Rudolf Olden, die für die Wiederherstellung des alten Schwurgerichts eintreten, voll und ganz verstehen und ihren edlen Bestrebungen Erfolg wünschen. Meine vorher gemachten Ausführungen mögen vielleicht im Lager meiner Gegner als vermessen, unzutreffend, ja unpassend empfunden werden. Ich bin aber in der Lage, darauf hinzuweisen, daß auch andere Männer sich mit ähnlichen Gedankengängen befaßten und dabei zu den meinen ähnlichen Schlüssen kamen, Männer, deren Berufung wohl von niemand bestritten werden dürfte. Ich entnehme einer Besprechung des Werkes »Psychologie und Vernehmungstechnik bei Tatbestandsermittlung« des Herrn Landgerichtsdirektors Dr. Hellwig: »In dem Werk wird nicht nur die Psychologie des Aussagenden, sondern auch die des Vernehmenden und Sachverständigen eingehend erörtert. Denn auch der Vernehmende kann sich von der Einstellung nicht ohne weiteres freimachen, die durch seine Lebensauffassung, seinen Beruf und die Art seines Interesses an der Sache bedingt wird. Schon Sympathie und Antipathie gegenüber der äußeren Erscheinung des Aussagenden und seiner Art, sich zu geben, vermag auf das Verhalten des Vernehmenden einzuwirken und im Erfolg das Wirklichkeitsbild zu entstellen.« Dieses offene Bekenntnis, daß auch Richter und Sachverständige Menschen sind, irren und Fehler machen können, ist um so bedeutungsvoller, als es der Feder des Herrn Dr. Holthöfer, eines Ministerialdirektors im preußischen Justizministerium, entstammt. Stellen wir einmal künstlich Möglichkeiten zusammen, um uns klar zu machen, wie leicht es zu sehr schweren Beurteilungsfehlern kommen kann. Ein Beispiel: In einer Kleinstadt lebt ein Arzt, von lebhafter, vielleicht manchmal etwas unbesonnener Art, dabei warmherzig und neuzeitlich denkend. Er steht, wenn es sich um Schwangerschaftsunterbrechungen in seiner Praxis handelt, auf der Grenzlinie dessen, was die medizinische Zunft als erlaubt ansieht. Der Arzt ist bei den höheren Zehntausend sehr unbeliebt. Er hat seine volkstümliche Rednergabe, seine Kenntnis des Volkslebens, seine wissenschaftlichen Kenntnisse aller Art in den Dienst der politischen Linken gestellt. Die Besitzenden, vor allem die ortsansässigen Rechtsgelehrten, die mit ihm selbstverständlich keinen Verkehr pflegen, sondern ihn in den Bann taten, hassen, ja verabscheuen ihn, weil sie ihn völlig falsch beurteilen. Dieser Arzt wird angezeigt, nehmen wir an von irgendeinem Schuft, einem politischen Feind. Mit der Voruntersuchung wird nun jemand beauftragt, der den Arzt aus redlichster Ueberzeugung als ichsüchtigen Schädling betrachtet, ihm also von vornherein eine niedrige Denk- und Handlungsweise zutraut. Es soll dann, um das Bild zu vervollständigen, als Sachverständiger noch ein beamteter Arzt hinzukommen, der, was die Gesinnung betrifft, genau auf dem gleichen Boden wie der Rechtsgelehrtenkreis steht. – –
Es dürfte ohne weiteres einleuchtend sein, daß ein Fortbestehen der von mir geschilderten Zustände zu einer allmählichen sittlichen Zermürbung gerade des besten Teiles der praktischen Ärzteschaft führen muß! Um die Besten handelt es sich nämlich, um die Warmherzigen und Menschenfreundlichen, die sich nicht an das Starre, Überalterte halten, ohne sich dabei viel Gedanken zu machen, sondern die die Leiden und Nöte derjenigen mitempfinden, von denen sie um Rat und Hilfe angegangen werden. Dies muß entweder dazu führen, daß sie sich bewußt in Gegensatz zu den Buchstaben des Gesetzes stellen und versuchen, sich dessen Arm so gut wie möglich zu entziehen. Diese Lösung werden die Tatkräftigen wählen. Ängstlichere Männer werden sich dagegen scheuen, sich in Gegensatz zum Gesetz zu bringen und schließlich dahin gelangen, daß sie jede Schwangere, die ihnen mit der Bitte um eine Unterbrechung naht, sofort mehr oder weniger höflich ablehnen. Ich habe von verschiedenen Ärzten schon sagen gehört: »Wenn mir jemand mit der Bitte um eine Schwangerschaftsunterbrechung überhaupt nur kommt, dann schmeiße ich die Betreffende sofort hinaus!«
Die Folge dieses Zustandes ist nicht nur der besprochene große Schaden, den die Seele und Berufsauffassung des praktischen Arztes nimmt, sondern auch das Schwinden des Vertrauens des Volkes zur Ärzteschaft hängt eng hiermit zusammen. Die Klagen, daß weite Kreise nicht mehr so recht Neigung haben, sich von den praktischen Ärzten behandeln zu lassen, sondern zu den Biochemikern, Magnetopathen, Couéisten, Gesundbetern und Kurpfuschern aller Art abwandern, sind wohl begründet. Die Ärzteschaft sollte daran nicht achtlos vorbeigehen, sondern die Gründe ehrlich festzustellen suchen, die zu der erwähnten Abwanderung führen. Der eine Hauptgrund hierfür ist meiner Ansicht nach allerdings darin zu suchen, daß die meisten Ärzte durch die gewaltige Entwicklung unseres Krankenkassenwesens sich gezwungen sahen, von der Wertarbeit zur Massenarbeit überzugehen. Sie müssen aus Zeitmangel darauf verzichten, ärztliche »Kunst« auszuführen und werden zu reinen »Handwerkern«. Die seelenkundliche Erfassung der Kranken wird dadurch völlig in den Hintergrund gedrängt, die Allgemeinheit merkt dies und antwortet mit der Entziehung ihres Vertrauens. Ich stamme selber aus einer alten Arztfamilie und weiß durch Überlieferung, welche Rolle früher der Arzt, zu meines Vaters und Großvaters Zeiten, in den Familien seines Kundenkreises spielte. Er war nicht nur der Vertrauensmann bei körperlichen Leiden, sondern man flüchtete zu ihm auch mit allen anderen Sorgen, weil man auf sein mitfühlendes, verstehendes Herz rechnen konnte. Wenn heute das Volk immer wieder hören muß, welche Beschlüsse in bezug auf die Schwangerschaftsunterbrechung auf den Ärztetagungen gefaßt werden, wenn es aus diesen Entschließungen mit einer gewissen Berechtigung folgert, daß die Ärzteschaft nicht gesonnen ist, sich der veränderten Lage des ganzen Volkes anzupassen, sondern unter Betonung des – vermeintlichen – Nutzens für den Staat an veralteten gesetzlichen Bestimmungen festzuhalten empfiehlt, dann muß es zwangsläufig dazu kommen, der Ärzteschaft das Vertrauen zu entziehen. Dadurch wird es den Ärzten unmöglich gemacht, ihre in § 1 der Standesordnung festgelegte Hauptaufgabe: »Für die Gesundheit der einzelnen wie für die Wohlfahrt der Allgemeinheit« zu sorgen, zu erfüllen. Das vertrauensvolle Verhältnis, das zwischen Volk und Ärzten früher herrschte, hat den Löwenanteil daran, daß die Volksgesundheit sich im großen und ganzen, trotz Krieg und Entbehrungen immer wieder gehoben hat, daß wir die Zahlen der Säuglingssterblichkeit bedeutend herabminderten, die ansteckenden Krankheiten wenigstens soweit bändigten, daß sie nicht mehr, wie in früheren Jahrhunderten, zu einer Bedrohung des Fortbestehens des ganzen Volkes werden können. Wenn der Durchschnittsmensch heute viel länger lebt als früher, so ist auch dies vom volkshaushälterischen Standpunkt aus als ein gewaltiger Vorteil anzusehen, und auch dies wurde nur erreicht, konnte nur erreicht werden, weil die breite Masse sich früher willig und vertrauensvoll von der Ärzteschaft leiten und erziehen ließ. Man sollte sich daher wohl hüten, so große Vorstellungswerte verfallen zu lassen, wie sie hier auf dem Spiele stehen.