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Wenn man mir bestreiten will, daß tatsächlich Männer mit Hochschulbildung, oft sogar solche, die es als Diener des Staates zu hohem Ansehen gebracht haben, unter uns leben, die unser Volk und seine Vermehrung lediglich unter dem Gesichtswinkel des Militarismus betrachten, so verweise ich auf Ausführungen eines Obergeneralarztes in einer hannoverschen Tageszeitung 1924. Der Name tut nichts zur Sache. Ich habe diesen Mann als sehr gewissenhaften Militärarzt im Kriege kennen gelernt. Er schreibt folgenden beachtenswerten Satz als Einleitung: »Je größer die Zahl der Geburten und der Bevölkerungszuwachs eines Volkes ist, eine desto größere Anzahl tüchtiger, für den Staat brauchbarer Männer steht zur Verfügung, und eine desto größere Machtstellung würde demgemäß zu erwarten sein.« Es muß dem Schreiber dieses Satzes ungemein hoch angerechnet werden, daß er einmal in dieser offenen Weise das Visier gelüftet hat. Wenn man nämlich diesen einen Satz durchdenkt, sieht man die Denkfehler klar vor Augen, die, ich möchte sagen, grundsätzlich, von den militaristisch eingestellten Anhängern der Abtreibeparagraphen gemacht werden. Einmal der bekannte Lowisenstandpunkt: Der Kaiser, der Staat, braucht Soldaten und eine größere Machtstellung, daher ist jede deutsche Frau verpflichtet, bis zur Bewußtlosigkeit Kinder in die Welt zu setzen. Dazu ist nämlich das Menschengeschlecht da, um Staaten zu bilden, die sich bei jeder Gelegenheit um irgendetwas raufen. Hierzu brauchen wieder die einzelnen Staaten möglichst viel tüchtige Männer, »die für den Staat brauchbar sind« (sprich Kanonenfutter, wie es der unverschämte Volksmund nennt). Der schlimmste Gedankenfehler ist dabei aber, daß selbst bei militaristischen Zielen es heutzutage nicht so sehr auf die große Zahl als auf die Wertigkeit des einzelnen ankommt. Wer Geschichte kennt, weiß, daß eine Handvoll beherzter Griechen die hundertfach überlegenen Heere der Perser schlugen. Die Zahl dieses einen Beispiels ließe sich beliebig erhöhen. Ein Dutzend erprobter Kampfflieger kann heute große Städte in Stunden ausrotten. Wer weiß, ob nicht im Zukunftskrieg, den Gott verhüten möge, ein Druck mit dem Finger genügen würde, um Gaswaffen oder elektrische Kräfte zu entfesseln, die in kurzer Zeit die Entscheidung bringen? Die Gedankengänge des Herrn Obergeneralarztes passen also nicht mehr in unsere Zeit, sondern kommen einige hundert Jahre zu spät. Man darf sich daher auch für berechtigt halten, seinen Sturmlauf gegen eine Milderung der gesetzlichen Bestimmungen in die Rumpelkammer zu verlegen. Diese ganze verwickelte Materie erfordert eben innige, dauernde Berührung mit dem Volksleben, mit seinen Nöten und Sorgen. Ein Militärarzt kommt dienstlich fast nur mit Soldaten und außerdienstlich mit den sogenannten oberen Zehntausend zusammen. Deshalb kann man es auch dem von mir angegriffenen Herrn Obergeneralarzt nicht übelnehmen, wenn er unsere doch wirklich zum Himmel schreiende wirtschaftliche Not als »angebliche« bezeichnet, und sich dann auch noch zu der Behauptung versteigt, daß die Vergehen gegen das keimende Leben in den meisten Fällen aus Bequemlichkeit, Leichtlebigkeit, der Furcht vor Einschränkung von Vergnügungen, in Ausnahmefällen aus Wohnungsnot begangen würden. »Nein, Herr Obergeneralarzt, Sie sind nicht im Bilde!« Der Oberbürgermeister Böß von Berlin hat vor nicht langer Zeit über die Not von Berlin ein Heft herausgegeben, das nur Tatsachen und Zahlen enthält. In eigenartig knappen Wendungen erstattet er gleichsam Bericht über das ihm von den städtischen Behörden unterbreitete Material. Nur aus dem Abschnitt »Kinderelend« seien hier ein paar Wendungen wiedergegeben, die uns zeigen, wie es um die nächste Generation bestellt ist:
Kinder gibt es, die selbst im zartesten Alter nicht einen Tropfen Milch bekommen haben, die ohne einen warmen Schluck in die Schule geschickt werden, als Frühstück trockenes oder mit gequetschten Kartoffeln bestrichenes Brot mitbringen. Sie haben kein Hemd, kein Unterzeug, schlafen zu drei und vier in unbezogenen Betten oder liegen in solchen Betten mit lungenkranken Erwachsenen zusammen, falls sie die Nacht nicht auf der bloßen Diele zubringen müssen.
So sieht es bei den Ärmsten aus, doch kaum besser liegen die Verhältnisse beim Mittelstand, namentlich bei den Familien, deren Ernährer den freien Berufen angehören. Hier wirkt das Elend um so erschütternder, weil es, aus Rücksicht auf den Stand des Vaters, der Arzt, Rechtsanwalt, Gelehrter, Künstler ist, zu verheimlichen versucht wird.
Solche armseligen Kinderexistenzen werden dann bei den Ärmsten von den Eltern zum Betteln oder Stehlen veranlaßt. Dann durchsuchen solche Kinder die Müllkästen und Abfalleimer nach Lumpen und Papier, bleiben der Schule fern. Als Folge ergibt sich eine verringerte seelisch-geistige Leistungsfähigkeit der Kinder. Sie leiden an erhöhter Unrast, gesteigerter Überlebhaftigkeit, Überempfindlichkeit, zeigen Mangel an Konzentrationsfähigkeit und Willensstärke, die Merkfähigkeit läßt nach, die sittlichen Begriffe werden verwischt, die Lügenhaftigkeit und Unehrlichkeit nehmen zu, ebenso geschlechtliche Verfehlungen.
Das sind, abgesehen von dem geringen Prozentsatz richtig gepflegter, gehüteter und ernährter Kinder, unsere Enkel, die Deutschland wieder aus dem Notleben herausarbeiten sollen.
Aus dem Material, das der »Deutsche Zentralausschuß für die Auslandhilfe« gesammelt hat, um die Verhältnisse zu zeigen, in denen Berliner Kinder aufwachsen, sei nur eine typische Unterhaltung herausgegriffen, die man bei den Untersuchungen durch die Schulärzte stets hören kann:
»Wie alt bist du?«
Das kleine, lebende Skelett antwortet: »Elf Jahre!«
»Erzähl« einmal, was du zu essen bekommst.« – Verlegenes Lächeln.
– »Na, was gibt Mutter dir des Morgens?«
»Zwei Stullen mit Margarine oder Mus.«
»Bekommt ihr auch Gemüse?«
»Sonntags mal Weißkohl.«
»Und Fleisch?«
Der Junge sieht ganz erstaunt drein. »Fleisch???« sagt er zögernd, das ist ihm ein unbekannter Begriff – –, »Fleisch??? Nein, Fleisch bekommen wir niemals.«
Ist es da ein Wunder, daß ein Drittel aller Berliner Kinder, die knappe Hälfte dieser Schüler dieser Volksschule, als schwer unterernährt, als dringend speisungs- und erholungsbedürftig bezeichnet werden muß?
Oberbürgermeister Böß sagt in seiner Abhandlung: »Die Zustände in Berlin können für die Beurteilung der Verhältnisse im übrigen als bedeutungsvoll angesehen werden. Berlin galt vor dem Kriege als eine der wohlhabendsten und bestversorgtesten Gemeinden im Reich und hat sich diese Stellung vergleichsweise auch jetzt noch bewahrt. Es ist ferner bekannt, daß von Berlin aus, als der am häufigsten besuchten Fremdenstadt, in erster Linie die irrtümlichen Ansichten von dem in Deutschland herrschenden Überfluß und Wohlleben ausgehen. Dieser irreführende Eindruck wird in erster Linie von den zahlreichen ständig oder vorübergehend in Berlin lebenden Fremden hervorgerufen. Um so notwendiger scheint es, die Verhältnisse in Berlin so zu schildern, wie sie wirklich sind, durch einfache Tatsachen und Zahlen.«
Fiel mir da auch neulich eine Schrift in die Hände, in der sich ein beamteter Mediziner und ein Jurist über die Abtreibungsseuche ausließen. Beide Herren waren anscheinend in den gleichen Gedankengängen befangen, in denen sich der vorher erwähnte Herr Obergeneralarzt bewegt. Gewaltig ist die Not unseres Volkes, die doch, wie jeder, der mit offenen Augen in diese Angelegenheit hineinschaut, weiß, in 95 vom Hundert aller Abtreibungsfälle die Triebfeder zum Eingriff abgibt; an dieser Not gehen diese starr eingestellten Männer allem Anschein nach ungerührt vorbei. Ihre Schrift ist sicherlich in hohem Maße dem Bestreben gewidmet, die praktische Ärzteschaft fest vor den Wagen des Staates vorzuspannen. Diese Herren sollten doch einmal wenigstens Versuchen, einen anderen Standpunkt einzunehmen, einen Standpunkt, wie ihn beispielsweise der Nationalökonom Julius Wolf wählt. Der sagt: »Nicht die Wohlhabenheit ist es in erster Linie, welche den Wunsch nach einer geringeren Kinderzahl auslöst, sondern fortschreitende Bildung und gesteigerter Ordnungssinn der Masse.« Wolf bespricht die verschiedenen Vorschläge zur Abhilfe, die namentlich in Frankreich gemacht worden sind und charakterisiert sie in folgendem Satz: »Fast alle haben an den Patriotismus appelliert, sich einbildend, daß man Kinder aus Vaterlandsliebe zeuge.« Von der Bevölkerungspolitik erwartet er nicht allzuviel. »Ein leichtes Nachlassen des Geburtenrückganges dürfte alles sein, was eine Bevölkerungspolitik bewirken kann.« So kommt Wolf zu dem Schluß, »daß wir eine Volksvermehrung nicht mehr durch eine Steigerung der Geburtenzahl erreichen werden, sondern nur durch eine Verminderung der Sterblichkeit.«