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Zweites Kapitel.
Die Ethik und § 218

Ernster zu nehmen sind Einwendungen, die aus ethischen Gesichtspunkten heraus erfolgen. Es gibt Menschen, die sagen, sie könnten keiner Fliege etwas zuleide tun. Manchem tut es schon leid, eine Pflanze zu verletzen, ein schuldloses Tier zu töten. Solche zartempfindenden Menschen sind sicherlich nicht die schlechtesten. Sie leben in viel größerer Anzahl unter uns, als man denkt, und durch ihre große Zahl üben sie einen stillen, aber sehr großen Einfluß aus. Ich bekenne mich zu ihnen und gestehe, daß es für mich von jeher nichts Unerfreulicheres gab, als mich gezwungen zu sehen, einen menschlichen wachsenden Keim zu zerstören. Dies ist vielleicht ein Grund mehr für mich, unsere Angelegenheit ganz besonders gründlich, auch unter dem Gesichtspunkt der Ethik, zu betrachten. Wir wissen, daß Religionen des Orients unter ihren Lehren sehr weitgehende Schonungsbestimmungen zugunsten der Tierwelt enthalten. Diese Vorschriften beschränken sich nicht nur auf die heiligen, einer Gottheit geweihten Tiere, sondern sind auf alles ausgedehnt, was Gott geschaffen hat, mit der einzigen Ausnahme der Tiere, die als Feinde des Menschengeschlechts anzusprechen sind. Ein Inder wird sich hüten, auch nur einen Käfer zu töten, der seinen Weg kreuzt. Er würde einen Frevel damit begehen. Jedem Naturfreund, überhaupt jedem nachdenklichen und weichempfindenden Menschen müssen solche Gedankengänge seelenverwandt erscheinen. Und um wieviel wertvoller muß ihm noch ein werdender Mensch sein, wenn er sich auch noch in der Keimanlage befindet! Doch der Angelpunkt unserer Frage ist nicht: »Darf man einen menschlichen Keim zerstören oder nicht?«, sondern: »Soll man alle menschlichen Keime auch auf die Gefahr hin auswachsen lassen, daß eine Überfülle von Menschen geboren wird, die die Lebensbedingungen des ganzen Volkes so einengt und beschränkt, daß das Leben schließlich nicht mehr lebenswert für den einzelnen erscheint?« Ebenso wichtig ist die Frage: »Soll der Keim berechtigt sein, auszureifen, obgleich er die Mutter in Gefahr bringt, siech zu werden oder zu sterben?« Soll er sogar auf die Gefahr hin erhalten werden, daß nur ein minderwertiges Lebewesen aus ihm entsteht? Oder daß er in Verhältnisse hineinwächst, die ihn von vornherein zum Kümmerling, Krüppel oder Verbrecher bestimmen? Ich glaube, daß auch der ausgesprochenste Ethiker diese Streitfragen zugunsten der schon Lebenden und damit zuungunsten des überzähligen oder minderwertigen Keims entscheiden müßte. Gänzlich unverständlich sind mir aber Menschen, die Ethiker sein wollen und doch einseitig nur gegen die Unterbrechung einer Schwangerschaft zu Felde ziehen, während sie den vorbeugenden Verkehr, die gänzliche Enthaltsamkeit, überhaupt die zahllosen Maßnahmen, die allgemein vorgenommen werden, um eine Befruchtung zu verhindern, für erlaubt ansehen. Um den Prohibitivverkehr und die Abstinenz in einem abzutun: Sie sind zweifellos beide unnatürlich und schon deshalb nicht ethisch berechtigt. Um den Vorbeugeverkehr mit einigen Worten kurz zu erledigen: Wer diese Form des Geschlechtslebens verteidigt, darf sich meiner Ansicht nach nicht Ethiker nennen. Diese Betätigung ist unnatürlich und ungemein schädlich. Auch dann sind die Ethiker auf dem Holzwege und verzichten auf das logische Durchdenken der Frage bis zum letzten Ende, wenn sie eine Schwangerschaftsunterbrechung einseitig verurteilen, aber andererseits gestatten wollen, daß man männliche Keime in irgendeiner Weise hindert, ihrer natürlichen Bestimmung gerecht zu werden. Logisch betrachtet, ist nämlich schon ein Prohibitivverkehr, eine Ausspülung nach dem Verkehr, ein Verschließen der Gebärmutter, ja sogar die sexuelle Abstinenz, der Abtreibung ideell völlig gleich zu setzen. Der betreffende Mensch durchkreuzt eben den Willen der Natur oder »der Gottheit«, wenn man dies lieber will, wenn er einen von ihm ausgehenden Keim, der dazu geschaffen ist, ein neues Lebewesen hervorzubringen, bewußt hieran hindert. Ich glaube, durch meine Darlegung klar gemacht zu haben, daß sich über alles das, was man aus ethischen Gründen gegen die Freigabe der Schwangerschaftsunterbrechung vorbringen zu können glaubt, erheblich streiten läßt. Den wichtigsten, allerdings nicht rein ethischen, Gesichtspunkt bespreche ich zuletzt. Die Mutterschaft umgibt ein geheimnisvoller Zauber. Der kleine, in den Mutterschoß versenkte Fruchtkeim übt nicht nur auf den Körper eine große Wirkung aus, sondern er greift auch an die Seele der werdenden Mutter. Nicht ganz mit Unrecht hat man daher eine Frau, der durch einen Eingriff ein keimendes Leben genommen wird, mit einem Baum verglichen, dem der Gärtner einen großen Zweig raubt, obwohl der Baum gerade in Blüte steht oder Früchte trägt. Dieses Bild ist so schön und wirkt so auf das Gemüt des Laien, daß man den Vergleich, der durch dieses Bild hervorgezaubert wird, oft anwenden hört. Dieser Vergleich hinkt aber wie die meisten Vergleiche. Wenn nämlich ein geschickter Gärtner einen zu reich blühenden oder tragenden Baum zurückschneidet und dies kunstgerecht ausführt, so nützt er dem Baume nur, anders allerdings, wenn eine rohe, ungeschickte Hand einen großen Zweig einfach abreißt und die Wunde nicht verbindet. Genau so liegt es bei der Schwangerschaftsunterbrechung. Wird diese kunstgerecht vorgenommen, so ist sie völlig gefahrlos, worauf ich später noch ausführlich eingehen werde. Greift dagegen eine ungeschulte und unsaubere Hand ein, so kann der größte Schaden entstehen. Um nun zu der Frage der seelischen Vorgänge zu kommen und zu prüfen, wie diese durch den Eingriff gestört werden! Gewiß mag es auch heute noch Frauen geben, die eine Schwangerschaftsunterbrechung innerlich schmerzlich empfinden, und in früheren Zeiten mag das sogar die Regel gewesen sein. Wenn Frau Biedermeier dem geliebten Mann ihre Mutterhoffnung als süßes Geheimnis ins Ohr flüsterte, zog er sie wohl dankerfüllt stumm an die Brust und schlug das blaue Auge wortlos zum Himmel auf. Heute antwortet der Proletarier, gleichviel ob er Arbeiter, kleiner Angestellter oder Beamter ist, seiner Frau mit einem Kernfluch, wenn sie ihm zitternd und weinend berichtet: »Ich bin schon wieder verfallen.« »Verfallen.« Dies Wort ist gang und gäbe und spricht Bände. Das klingt roh, was ich da berichte, aber es ist die Wirklichkeit! Und wenn dann eine solche Frau jemand findet, der ihre Schwangerschaft unterbricht, so bedeutet das eine Erlösung für sie. Von irgendwelchen großen Seelenschmerzen ist gar keine Rede, und selbst wenn sich bei ihr aus mütterlichem Instinkt heraus ein leichtes Bedauern regen sollte, so kann dies angesichts der Sorgen, die die Ankunft eines neuen Kindes für sie bedeuten würde, gar nicht ins Gewicht fallen.

Kollwitz

Nun wollen wir uns mit den in den Ärztekreisen herrschenden Ansichten auseinandersetzen.


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