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Vierzehntes Kapitel.
Vorbedingungen für Unterbrechungsrecht

Wir kämen dann weiter zur Besprechung der Anzeigen zur Unterbrechung, die sich aus einer schlechten wirtschaftlichen Lage ergeben ( soziale Indikation). Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier bis ins kleinste gehende Vorschläge zu machen; ich will dies gern den hierzu berufeneren Volkswirtschaftlern überlassen. Es sei mir nur gestattet, meine Ansichten kurz wiederzugeben.

Zunächst wären die Einkommensverhältnisse zu berücksichtigen. Wir sind heute in der Lage, auf Heller und Pfennig zu berechnen, wieviel dazu gehört, um den allernötigsten Bedürfnissen eines Menschen gerecht zu werden. Wenn man – ich will den Leser mit Zahlen möglichst verschonen – eine Arbeiterfamilie, deren Einkommen gerade genügt, um allen Mitgliedern das Leben notdürftig zu fristen, wenn man diese Menschen zwingt, ihr Einkommen durch weiteren Familienzuwachs noch zu schmälern, müssen sie durch Unterernährung erheblichen Schaden erleiden. Vorwiegend geschädigt werden die schon vorhandenen Kinder, die zuerst zurücktreten müssen und sich dann nur schlecht entwickeln oder gar krank werden. Auch das Elternpaar muß sich einschränken, seine Arbeitskraft und Gesundheit verringert sich, die seelische Widerstandskraft, die für den Kampf des Lebens heutzutage ungeheuer wichtig ist, erlahmt, um schließlich in völlige Verzweiflung überzugehen. Dem Staat ist dadurch nicht gedient. Er kann nur dann gedeihen, wenn die große Masse der einzelnen Familien einigermaßen zufrieden lebt. Er, der Staat, und das ganze Volk werden auch durch Züchtung schlecht entwickelter, kränklicher Menschen nur belastet. Man sollte daher in Fällen, wie sie besprochen wurden, die Unterbrechung der Schwangerschaft freigeben. Es wird den Fachmännern nicht schwer fallen, Leitsätze aufzustellen, um die Vorbedingungen für die Freigabe des Eingriffs genau zu bestimmen. Ein zweiter, ebenso wichtiger wirtschaftlicher Grund könnte vorliegen, wenn infolge der immer noch herrschenden allgemeinen Wohnungsnot eine Familie so eingeengt leben müßte, daß durch die Ankunft eines neuen Sprößlings der Rauminhalt der Wohnung bis zum Unerträglichen und Gesundheitsschädlichen vermindert werden würde. Das deutsche Volk hat sich an die Mißstände im Wohnungswesen bis zu einem gewissen Grade gewöhnt. Am leichtesten ist dies jenen Bevorzugten gefallen, die, mit Glücksgütern gesegnet, geräumige Wohnungen inne hatten. Gerade von ihnen hört man oft die Behauptung, »die Wohnungsnot sei ja gar nicht mehr so schlimm, es würde doch überall so viel gebaut«. Ich bin als Arzt, der besonders in der armen Bevölkerung tätig war, zu einem maßgeblicheren Urteil berufen. Ich muß gestehen, daß selbst der Anblick Schwerkranker mich oft nicht so erschüttert hat, wie das Wohnungselend, das ich zu sehen bekam. Ich lebte in einer Stadt von ungefähr 25 000 Einwohnern und bin überzeugt, daß es dort vielleicht noch nicht so schlimm aussah wie an anderen Stellen unseres Vaterlandes. Um das vorher von mir erwähnte falsche Urteil mancher Begüterter zu berichtigen und möglichst vielen von ihnen die Augen gründlich zu öffnen, kann ich mir nicht versagen, einiges aus einem am 14. November 1926 erschienenen Zeitungsbericht hier zu bringen.

»Tramm-Demmigsdorf. – Ein Schandfleck Hannovers.

Mit einem anderen Ausdruck kann man die Eisenbahnwagenkolonie auf dem Tönniesberg nicht bezeichnen. Wenn aus Linden, aus Hainholz, aus Stöcken, aus Ricklingen bittere Klagen über unhaltbare hygienische Verhältnisse kommen, so sind die Verhältnisse in diesen Orten noch golden gegen die in Tramm-Demmigsdorf. Hier sind die Bewohner der alten Eisenbahnwagen so zusammengepfercht, daß es aller Beschreibungen spottet. In einem solchen Wagen wohnen fünf und teilweise noch mehr Personen. Dabei sind die Wagen so feucht, daß die Sachen darin nicht trocken zu bekommen sind. Senator B. gab zu, daß die Wagen zu eng und klein sind. Als Entschuldigung für den Magistrat führte er an, daß es ja aber auch keine Wohnungen seien, sondern nur Unterkünfte, die aus einer Zwangslage heraus geschaffen werden mußten, weil die Stadt kein Beschlagnahmerecht habe, zumal augenblicklich weitere siebzig Familien aus ihren bisherigen Wohnungen ausgewiesen seien und ebenfalls von der Stadt in Waggons untergebracht werden müßten.«

Kollwitz: Deutschlans Kinder hungern!

Man kann dies alles nicht lesen, ohne tief bewegt zu werden.

Es ist vollständig gleichgültig, ob der von mir angezogene Bericht etwas übertreibt oder nicht, es bliebe immer noch genug übrig. Ich möchte ein eigenes Erlebnis als Ergänzung berichten, das für fast alle hier schon behandelten Fragen als Musterbeispiel dienen könnte. Ich wurde als Arzt zu einer leicht lungenkranken Arbeiterfrau gerufen. Um das Schicksal der Frau vorwegzunehmen: Sie hatte infolge von Schwindsucht eine nicht sehr erhebliche Lungenblutung, war aber in einem noch leidlichen Kräftezustand. Nachdem sie einige Monate behandelt worden war, erholte sie sich, ich warnte sie nachdrücklich vor neuen Schwangerschaften; sechs Monate später war sie aber doch wieder in anderen Umständen. Sie suchte, weil ich abwesend war, meinen Vertreter auf, der sich durch den noch immer leidlichen Allgemeinzustand der Frau blenden ließ und ihr riet, auszutragen. Zwei Monate später starb die Unglückliche trotz aller Bemühungen an der sich plötzlich verschlimmernden Schwindsucht, und die dreizehneinhalbjährige älteste Tochter mußte nun Hausfrau und Mutter der Geschwister spielen. Aus dem Gesagten erhellt zunächst, wie schwierig die Aufgabe des Arztes, den richtigen Entschluß, zu fassen, ist, ferner wie eine Lungenschwindsucht leicht eine unerwartete schlimme Wendung nehmen kann, wenn sie durch eine Schwangerschaft erschwert wird. Ich habe mich um diese Familie menschlich weiter gekümmert und sie unterstützt; dabei machte ich allerlei Beobachtungen. Diese zehn Menschen verfügten über einen – zwei zu drei Meter großen – Verschlag als Küche und Vorratsraum, in dem ein ständig rauchender Kanonenofen zum Kochen diente, und über zwei kleine, niedrige, ungefähr drei zu vier Meter große Stübchen als gesamten Wohn- und Schlafraum, in denen ein großes, ein kleines Bett, ein Tisch, eine wacklige Kommode, ein zerschlissenes Sofa und einige Stühle die gesamte Einrichtung bildeten. Um nichts zu vergessen! An einem Nagel hingen an der Wand das Eiserne Kreuz und das Braunschweigische Militärverdienstkreuz. Diese sauer verdienten Orden erklärten auch den Verfall der Familie. Der Vater – ein fleißiger Arbeiter – hatte vom ersten bis letzten Tage des Krieges im Schützengraben gelegen, die Mutter hatte infolge ihrer Kränklichkeit und vielen Kinder nicht arbeiten können, deshalb war im Kriege ein Stück nach dem andern verkauft worden. Auch die Bekleidung der Leute war unbeschreiblich dürftig. Infolge der Unterernährung kränkelten fast alle Kinder und mußten das Mitleid jedes fühlenden Menschen erregen, wenn man sie so abgezehrt und blaß vor sich sah. Wie diese zehn Menschen geschlafen haben mögen, ist mir ein Rätsel geblieben! Ich bedauere nur, daß ich nicht die Gaben einer Kaethe Kollwitz, eines Zille besitze, um die Eindrücke mit dem Griffel zu veranschaulichen, die ich bei meinen zahlreichen Besuchen von dieser Familie empfing. Wahrlich, man brauchte nicht, wie Zille es tat, nur in Berlin, der übervölkerten Hauptstadt des Reiches, nach Vorwürfen für das Elend unseres Volkes zu suchen, man kann sie heute überall finden, diese unwürdigen und beschämenden Zustände, wie der Meister sie uns in seinen durchaus wahrheitsgetreuen Zeichnungen bietet, in Bildern, die wohl erst ein Lächeln hervorrufen mögen, dann aber schnell nachdenklich werden lassen und schließlich jeden Menschenfreund zu Tränen rühren müssen.

Das Wohnungselend Deutschlands zeigt sich mit erschreckender Deutlichkeit auch in folgender statistischen Gegenüberstellung:

Eine Arbeiterfamilie von vier Köpfen bewohnte im Jahre 1925 an Durchschnittsräumen in Amerika 5, in England 3, in Frankreich 2,5, in Deutschland 1,4. Die durchschnittliche Einwohnerzahl jedes Hauses betrug im Jahre 1921: in London 7,8, in New York 7,2, in Paris 38, in Berlin 75,9. Von den ermittelten Wohnungen in der Reichshauptstadt im Jahre 1925 hatten 47 889 Familien nur einen Raum, 336 279 zwei Räume (die Küche mit eingeschlossen). – Solche Ziffern lassen ein gut Teil Kopfzerbrechen über die Gründe des Niederganges in unserem Volke und pharisäisches Schuldigsprechen als mindestens – überflüssig erscheinen.


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