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Sechstes Kapitel.
Oberschicht und § 218

Wie oft hört man die Klage: Warum haben denn die gebildeten und reichen Leute allgemein so wenig Kinder und umgekehrt wir armen »Proleten« (ich gebe das Fremdwort ursprünglich wieder) so viele?! Ich glaube, wenn man in reichen und gebildeten und ihnen verwandten Kreisen, gerade auch in Ärztekreisen selbst, genaue Erhebungen über die Kinderzahl anstellen würde, ergäben sich recht geringe Zahlen, so daß man annehmen müßte, daß der von mir früher als »mönchisch« gekennzeichnete Standpunkt, der zielbewußte Keuschheit und Enthaltsamkeit vorschreibt, in ihnen schon tiefe Wurzeln geschlagen hat. Ich möchte deshalb keine andere Erklärung suchen, weil ich keinesfalls annehmen kann, daß diese geschmackvollen und sittlichen Menschen sich durch vorbeugende Handlungen oder eheliche Selbstbefriedigung herabwürdigen. Daß geistige Arbeiter an sich »unterfruchtig« sind, ist mir wohl bekannt, es genügt aber noch nicht zur Erklärung. Eine weitere unheilvolle Folge der Furcht vor Schwangerschaften ist die Zerrüttung des ehelichen Geschlechtslebens, das in unnatürliche Formen ausartet, wenn Eheleute infolge ihrer stark sinnlichen Veranlagung es nicht vermögen, sich zu dem hohen Standpunkt durchzuringen, den ich in den Sätzen vorher für die sogenannten Gebildeten und ihnen verwandte Kreise in Anspruch nahm. Noch viel schlimmer ist es für die heilige Einrichtung der Ehe, wenn die Eheleute so gewaltige Angst vor Familienzuwachs bekommen, daß die Ehefrau schließlich, wenn auch schweren Herzens, dem Ehemann das Recht einräumt, seine Triebe bei anderen Frauen zu befriedigen. Solche Fälle kommen viel häufiger vor als man denkt! Ein Staat, der die Heiligkeit der Ehe und deren Aufrechterhaltung zu seinen wertvollsten Gütern zählt, sollte an dieser bedeutungsvollen Verfallserscheinung des Ehelebens, die sich in immer steigendem Maße zeigt, nicht so achtlos vorbeigehen wie bisher. Ich nehme zugunsten der Hüter des Staates an, daß sie von diesen Erscheinungen bisher deshalb nicht die richtige Kenntnis erlangt haben, weil diese wenig schönen Vorgänge sich so heimlich wie möglich abspielen. Ich war als Arzt viele Jahre hindurch der Vertraute zahlreicher Familien, und gerade weil mir oft Frauen das Leid geklagt haben, von dem ich berichtete, bin ich berechtigt, aus eigener Erfahrung heraus zu sprechen und glaube verpflichtet zu sein, mit dem Finger auf diese offene Wunde zu zeigen. Die genannten Frauen kamen oft – und das war das Schreckliche dabei – um sich von Geschlechtskrankheiten heilen zu lassen, die der Ehemann sich auf seinen Abwegen zugelegt und dann auf die eigene Ehefrau übertragen hatte. Es muß hier wieder eine neue, höchst verderbliche mittelbare Wirkung des § 218 des Strafgesetzbuches festgestellt werden, der zur uneingeschränkten Fortpflanzung zwingen will und doch nur – wie sich auch schon an anderen Beispielen erwies – das Gegenteil erreicht. Der Staat verliert, um auf das zuletzt Erörterte zurückzukommen, die Gebärkraft dieser geschlechtskrank gewordenen Ehefrauen für immer, ohne das Geringste dabei zu gewinnen. Die von mir schon als besonders fein gebaut gekennzeichneten Geschlechtsorgane der Frau werden nämlich – dies steht wissenschaftlich fest – vorwiegend durch die Geschlechtskrankheiten und dann immer für lange Jahre, meist aber für alle Zeiten unbrauchbar gemacht, ihre Bestimmung zu erfüllen. Dagegen würden viele dieser Frauen zweifellos im Laufe der Jahre noch das eine oder andere Kind gebären, wenn man ihnen nur etwas Spielraum dabei ließe. Die sittliche Seite dieser ganzen Sache ist dazu so unendlich traurig und beschämend, daß ich bei dieser ihrer Kennzeichnung mich wohl mit den hartnäckigsten Verteidigern des § 218 eins wissen darf. So zerstört das starre Festhalten an diesem veralteten Paragraphen Ausbildungswerte unseres Volkes aller Art, die in mühevoller, jahrhundertelanger Arbeit von unseren Vorfahren geschaffen wurden. Ich glaube bewiesen zu haben, daß in zahlreichen wertvollen Familien das Glück des Daseins durch den Paragraphen – wie ich ihn einfach bezeichnen will – erheblich gemindert, wenn nicht ganz zerstört wird. Ob ein Fortbestehen dieser Zustände in einem Volksstaat erträglich ist, ist zu bezweifeln. Gewiß hat sich der Bürger dem Staat unterzuordnen, aber es muß sich im Streitfall erstens: um wirkliche Vorteile – nicht bloß um eingebildete – des Staates handeln, und zweitens: darf der Staat von der überwiegend größten Menge seiner Angehörigen eine Aufopferung des Lebensglücks, der einfachsten Forderungen, die jeder Mensch an das Leben zu stellen berechtigt ist, nur dann verlangen, wenn für ihn »Sein oder Nichtsein« auf dem Spiele steht. Das liegt in unserem Falle aber nicht vor! Der Staat könnte es sehr gut aushalten, wenn die Zunahme der Bevölkerung eine Zeitlang aufhörte, wenn sie sich sogar vorübergehend in eine – nicht zu große – Abnahme verwandelte. Wir haben zweifellos auch jetzt noch zuviel Menschen in unserem Vaterlande, und dies wird noch für eine Reihe von Jahren zutreffen. Wenn ein Landmann zu enge Stallungen und zu wenig Futtervorräte hat, dabei infolge Geldmangels weder bauen noch Futter kaufen kann, wird dessen Betrieb wohl erstarken, wenn er jahraus jahrein die Zuchttiere Nachzucht hervorbringen läßt, obwohl er – angenommen – gar keine Möglichkeit hat, diese nutzbringend zu verwerten? Die vielen jungen Tiere müssen doch Enge und Futtermangel nur noch vermehren!? Wie würde man die Einsichtskraft dieses Mannes beurteilen?! Ob wir eine Million an Bürgern mehr oder weniger zählen, erscheint mir dabei gleichgültig, weil mir grundsätzlich die Wertigkeit des einzelnen über der möglichst großen Gesamtzahl des Volkes steht.


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