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Fünftes Kapitel.
Proletariat und § 218

Ich kann es mir nun nicht versagen, zu untersuchen, ob wirklich dem Staate damit gedient ist – und zwar gerade unserm deutschen Staate in seiner heutigen Lage und Verfassung –, wenn er das Volk zwingt, sich hemmungslos zu vermehren. Es wäre zunächst zu erforschen, warum denn die Gesetzgeber früherer Zeiten die werdende Frucht so streng geschützt haben. Gewiß kann eine rasche Volksvermehrung einem Staate nützlich sein, wenn er weite, noch freie Landflächen besitzt, wenn lange Kriege die Volkskraft und Wehrfähigkeit verminderten, wenn Seuchen geherrscht haben, kurz gesagt, wenn Raum für den Zuwachs vorhanden ist. Mit diesem Nutzen des Staates können Vorteile einzelner Kreise des Volkes gleichläufig sein. Der Werkherr wird es nur begrüßen, wenn infolge einer bestehenden Uebervölkerung auch ein Überangebot Arbeitswilliger vorliegt, das diese zur gegenseitigen Unterbietung bringt und zu dem Vorhandensein billiger Arbeitskraft führt. Daher kämpft die Vertretung der Werkherren mit all ihren reichen politischen und Geldmitteln von jeher Schulter an Schulter mit dem Staat gegen die Aufhebung des Abtreibeverbots. Staat und Gesetze sind aber nicht dazu da, um die Vorteile einzelner auf Kosten der Gesamtheit zu fördern! Zuerst muß jedem im Volke die Möglichkeit gegeben werden, die einfachsten Bedürfnisse des täglichen Lebens decken zu können, dann erst soll man das Recht haben, zum Beispiel die Gewerbetätigkeit besonders zu fördern, was bis zu einem gewissen Grade zum Vorteil des gesamten Volkes und des Staates dient. Der Staat muß vor allem für unbedingt verpflichtet angesehen werden, dafür zu sorgen, daß ausreichend Brot und Wohnraum für die ankommenden Kinder bereit ist. Wie wenig dies heutzutage der Fall ist, lehrt ein Gang durch jede Stadt. Nicht einmal nur in den Großstädten besteht ein Mangel an Unterkunft, der jeder Beschreibung spottet, nein, auch in mittleren und Kleinstädten, sogar auf dem Lande, in vielen Dörfern ist das der Fall. Wie unsicher zudem das Dasein der Arbeiterschaft ist, lehrt ein Blick in die Zahlenreihen der Aufzeichnungen über die Erwerbslosigkeit; wie dürftig das Einkommen auch des Arbeiters ist, der das Glück hat, noch Arbeit oder Halbarbeit zu haben, lehrt ein Blick in seine Lohntüte. Die Einkommensverhältnisse der kleinen Beamten und ähnlicher Kreise sind – wenn diese auch etwas gesicherter leben – ebenso trostlos. Sie leben »von der Hand in den Mund«. Durch die Krankheit eines Mitgliedes der Familie oder irgendein anderes unerwartetes Ereignis kommen sie sofort in Bedrängnis. Es ist ihnen unmöglich, mehr als ein, allerhöchstens zwei Kinder großzuziehen. Deshalb ist es in der Mehrzahl der Fälle nicht etwa Leichtsinn oder Gewissenlosigkeit, sondern gerade ein gesundes Verantwortlichkeitsgefühl, das diese Menschen veranlaßt, die Zahl der Kinder mit allen Mitteln – den erlaubten und unerlaubten – einzuschränken. Die Elternliebe zu den schon vorhandenen Kindern spielt in den Kreisen der Vermögenslosen dabei mit eine große Rolle. Ein Beamten-, ein Angestelltenehepaar hat den starken Trieb, seine Kinder so großzuziehen, daß sie über die Engigkeit und Sorgen des Daseins der Eltern hinauswachsen. In früheren, besseren Zeiten haben sich diese Familien als eine sehr wertvolle Kraftquelle für zahlreiche andere Berufsklassen und Stände erwiesen, die man als an sich ihnen gesellschaftlich und wirtschaftlich übergeordnet ansah. Diese geistige Blutauffrischung hat unser Volk überhaupt erst befähigt, den Aufgaben seiner Weiterentwicklung gerecht zu werden. Die Sippen kommen und gehen; sie entarten, wenn allzuviel Zeitgeschlechter einer Familie hintereinander in gleichen höheren Berufen tätig sind, und dies geschieht um so rascher, je mehr noch durch Ineinanderheiraten solcher Familien der Zustrom frischen Blutes ausgeschaltet wird, der allein fähig ist, der Entartung, die durch Inzucht droht, vorzubeugen. Zwingt man diese wenig Bemittelten, aber für den Staat trotzdem sehr wichtigen Kreise, mehr Kinder zu zeugen und großzuziehen, als sie eigentlich können, so verringert man für jedes einzelne dieser Kinder die Plattform, von der aus es zum Kampf des Lebens antritt. Man verstopft damit in einer dem gesamten Volk abträglichen Weise die gesunden, natürlichen Kraftquellen, die bisher zur Auffrischung und Erneuerung der geistig führenden Oberschicht unseres Volkes flossen.

Kollwitz: Ins Wasser (Tuschzeichnung)

Um die Wahrheit zu gestehen: Es ist mir in meiner Arzttätigkeit immer besonders peinvoll gewesen, wenn solche einsichtsvollen und durchaus anständig denkenden Frauen kleiner Beamten, Lehrer, kaufmännischer Angestellten kamen und bei der Bitte um Unterbrechung der Schwangerschaft neben anderem auch die Gründe anführten, die ich in den letzten Sätzen besprach. Wie schwer muß es solchen wertigen Menschen bei ihrer sonstigen Gesetzesscheu, oft auch Frömmigkeit, sein, dem Arzt überhaupt mit solchen Bitten zu kommen! Welche inneren Qualen mögen sie durchgemacht haben, ehe sie so weit kamen, wie groß muß ihre innere und äußere Not sein! Und wenn sie sich wirklich doch entschließen, sechs, acht Kinder in die Welt zu setzen, so ist dies ganz und gar nicht zum Vorteil des Staates. Diese Kinder wachsen so dürftig auf, daß sie nicht zum Aufsteigen kommen können, sie sinken in Schichten zurück, die wirtschaftlich und geistig unter der Stufe stehen, die die Eltern der betreffenden Kinder, von denen hier die Rede ist, schon erreicht hatten. Diese Gedankengänge über den hohen Wert eines gesunden Mittelstandes für das ganze Volk liegen eigentlich auf der Hand. In jedem Geschichtsbuch kann man finden, daß der Aufbau des preußischen Staates nur auf dem breiten Grund seines pflichtgetreuen Beamtentums errichtet werden konnte, auch das halbe Scherzwort, das dem preußischen Schulmeister den Gewinn der Schlacht von Königgrätz zuspricht, enthält viel Wahrheit! Der Staat sollte sich daher sehr hüten, diesen ehernen Felsen, auf dem er gegründet ist, der Zerstörung preiszugeben. Woher sollen sich dann die führenden Kreise ergänzen? Der Aufstieg aus den untersten Schichten der Arbeiterschaft wird auch im heutigen Staate immer noch nur ganz wenigen gelingen, dies genügt daher zahlenmäßig ganz und gar nicht. Die Kreise des Handels und Gewerbes sind infolge der Vererbung und Erziehung nicht so geartet, daß sie die nötige Anzahl Menschen für die Lösung der Aufgaben des Staates stellen können, sie sind auch von sich aus wenig geneigt, den vollen Futtertrog des freien bürgerlichen Daseins mit der mageren Krippe des Staatsdieners, des Lehrers und ähnlicher Berufe zu vertauschen. Der größte Teil der vermögenslosen Bevölkerung besteht aus Handarbeitern. Wirtschaftlich liegen bei ihnen die Verhältnisse ungefähr ebenso wie in den bisher besprochenen Familien der Beamten. Diese verdienen vielleicht etwas mehr, ihre Lage ist gesicherter, die Familie und das eigene Alter ist durch den Anspruch auf Ruhegeld einigermaßen geschützt. Da sie aber fast ohne alle Aufstiegsmöglichkeiten sind, zudem eine Reihe von Standesaufgaben tragen müssen, ist ihre Lage im großen und ganzen genommen der des Arbeiters beinahe gleich, wenn sie dies auch nach außen hin durch stramme Haltung und Gesinnung zu verbergen trachten. Das Verantwortlichkeitsgefühl, von dem ich weiter oben sprach, das Eltern, besonders mit Rücksicht auf die schon vorhandenen Kinder, weiteren Familienzuwachs verwünschen läßt, ist zweifellos auch in den Arbeiterfamilien vorhanden. Nur ist es dort infolge einer etwas geringeren Bildung und Einsicht – dies ist gewiß nur durchschnittlich gemeint – etwas in den Hintergrund gedrängt. Die große Masse unserer Arbeiterschaft lebt zudem, besonders in den Städten, in so unsicheren wirtschaftlichen Verhältnissen, in so großer Dürftigkeit und Wohnungsenge, daß sie meist zu verzweifelt ist, um sich überhaupt noch viel Gedanken zu machen. Die immer wieder neu hinzukommenden Kinder – von einem »Kindersegen« will ich nicht sprechen, das wäre blutiger Hohn! – werden schließlich mit derselben Gefaßtheit hingenommen wie das Dahinwelken oder Sterben des einen oder anderen schon vorhandenen Kindes. Mit derartigen Zuständen kann dem Staat gewiß nicht gedient sein. Er kann nur gedeihen, wenn sein Gefüge sich auf einer Gesamtsumme der überwiegenden Mehrzahl aller der zu Familiengemeinschaften zusammengewachsenen Menschen so aufbauen kann, daß diese Sippen wenigstens noch etwas Lebenslust haben, genug, um noch Anteil an dem Fortbestand des Staates nehmen zu können, zu dem sie gehören. Dies ist heute zweifellos nicht mehr der Fall. Wenn ein neuer Erdteil entdeckt werden würde, der auch nur einige Aussichten böte, dort leben zu können, so würden drei Vierteile der Deutschen dorthin auswandern! Ich möchte die Behauptung, daß das Gedeihen des Staates mit dem der Sippe eng verknüpft ist, noch weiter erörtern. Die seelische Unruhe, von der die Familie eigentlich während der ganzen Zeit der Gebärjahre der Mutter erfüllt ist, überträgt sich von selbst auf unser ganzes Volk und sein Leben. Jeder Arzt, jeder Ehemann weiß, von welch großer, monatlich wiederkehrenden Sorge die heiklen Tage und Nächte erfüllt sind, in denen das Eintreten und Ausbleiben der natürlichen Vorgänge bei der Frau die Entscheidung bringen soll, ob eine Schwangerschaft vorliegt oder nicht. Dieser mißliche Seelenzustand herrscht nicht nur in den gänzlich vormögenslosen Schichten, sondern auch in den Familien der mittleren und höheren Beamten, der wissenschaftlichen Kreise, der höheren und mittleren Lehrerschaft, der bessergestellten selbständigen Handwerker und Angestellten, kurz in jener Mittelschicht, die zwar nicht gänzlich vermögenslos ist, aber doch im Grunde genommen in bezug auf die Aufzuchtsmöglichkeit ihrer Kinder nicht viel besser daran ist als die ganz unbemittelten Familien, deren Verhältnisse vorher besprochen wurden. Durch unser ganzes Volk geht eben ein gar nicht so unberechtigter Zug von Vertrauenslosigkeit in bezug auf die Zukunft, ein Zug, der sich immer mehr verstärkt. Unser Staat hat in all den Jahren nach dem Kriege den Vertretungen der uns früher feindlich gesinnten Länder klarzumachen versucht, wie ungünstig die wirtschaftliche Lage des deutschen Volkes ist. Es war nicht nötig, diese Lage irgendwie zu übertreiben. Ein so langer verlorener Krieg dieses gewaltigen Ausmaßes mußte auch ein so tüchtiges, bescheidenes und fleißiges Volk wie das deutsche bis an den Rand des Verderbens führen! Man wird dessen am besten belehrt, wenn man es sich an Beispielen klar macht. Ein versuchsweise eingestellter Beamter, der infolge des jetzt überall durchgeführten Abbaus seine Stelle verliert und dann nicht mehr 120 Mark im Monat, wie bisher, verdient, eine Summe, die schon kaum genügte, ihm mit Frau und auch nur einem Kind das Leben zu fristen, muß dann »Stempeln« gehen, denn Arbeit bekommt er nicht, und hat nur noch die knappe Hälfte seines früheren Einkommens. Ebenso ist das Schicksal des Handarbeiters, wenn ein Werk sich infolge der schlechten Geschäftslage gezwungen sieht, seinen Betrieb zu schließen. Nur liegen dann gleich Hunderte von Familienvätern auf der Straße und müssen »Stempeln« gehen (so bezeichnet der Volksmund die Zugehörigkeit zur Erwerbslosenfürsorge). Und diesen Leuten, die vor Sorgen schon nicht mehr ein noch aus wissen, mutet man zu, ihre an sich schon unerträgliche Daseinslast noch durch die Geburt weiterer Kinder vermehren zu lassen! Der höchste deutsche Staatsmann (als Reichskanzler zu Beginn des Krieges) hat unsern Einfall in das parteilose Belgien mit dem alten, etwas abgegriffenen deutschen Sprichwort: »Not kennt kein Gebot« entschuldigen zu müssen und zu können geglaubt. Wenn Verzweifelte sich, allerdings unter Nichtachtung der staatlichen Strafgesetze, auch dieses alte Wort zunutze machen und eine Schwangerschaft abtreiben, trifft sie die ganze Schärfe des Gesetzes. Im Anschluß an ähnliche schon früher gemachte Ausführungen führe ich diesen Vorgang nur an, weil er meine Behauptung, wie grundverschieden die Pflichtenlehre des Staates sein kann, je nachdem, ob es sich um ihn selbst oder um andere handelt, abermals beweist. Selbst wenn man geneigt ist, hierbei dem Staat eine Ausnahmestellung zuzubilligen, muß man doch verlangen, daß dann wenigstens die Verhältnisse für die einzelnen Staatsbürger gleich gemacht würden. Daß dem aber nicht so ist, das pfeifen die Spatzen von den Dächern! Die Vermögenslosen nicht allein, wir alle wissen genau: Wer nur das nötige Geld dazu hat, kann eine Schwangerschaft loswerden, ohne dem Strafgesetz zu verfallen! Der bequemste Weg hierzu führt ins Ausland: Holland, Belgien, auch Frankreich liegen nahe vor unseren Grenzen, sie haben neuzeitlichere Gesetze als wir, und die Unterbrechung der Schwangerschaft ist dort straffrei, auch wenn es sich um deutsche Staatsangehörige handelt, die sie vornehmen lassen. Es soll übrigens in Deutschland, besonders in den größten Städten, auch nicht wenige Ärzte, vorwiegend solche, die vermögende Leute zu ihrer Kundschaft zählen, geben, die großes Entgegenkommen zeigen. Ich will mir diese Behauptung nicht zu eigen machen, weil ich sie nicht beweisen könnte, auch wenn sie auf Tatsachen beruhte. Da das Geld bei solchen Fällen gar keine Rolle spielen würde, würde man zweifellos durch Heranziehung einer ganzen Anzahl ebenso unsicher eingestellter anderer Ärzte sich mit derartigen wissenschaftlichen Sicherungen umgeben, daß ein Staatsanwalt es nicht wagen könnte, vorzugehen, ohne in die Gefahr zu kommen, mit seiner Anklage kläglich Schiffbruch zu erleiden. Solche Eingriffe würden sich dann wohl auch hinter den ängstlich behüteten Toren eines nicht öffentlichen Krankenhauses unter dem unverbrüchlichen Schweigen aller Beteiligten abspielen und unter den besten äußeren Voraussetzungen für einen gefahrlosen Ablauf des Eingriffs. Eine derartige Tätigkeit wäre allerdings im Vergleich mit der gleichartigen eines Arztes in der Armenbevölkerung als wesentlich gefahrloser und auch viel gewinnbringender anzusehen. Wie verschieden das Maß ist, mit dem gemessen wird, beweist eine Veröffentlichung, die im ersten (oder zweiten) Vierteljahr 1926 durch einen angesehenen Frauenarzt (aus Breslau) im ärztlichen Zentralblatt erfolgte, das in einer Auflage von 50 000 Abdrucken hinausgeht, also überall zur Kenntnis kommt; wohl auch in den Kreisen der Rechtsgelehrten. Dieser Facharzt, der nach seinen Ausführungen sicherlich auf einem streng gesetzlichen Boden in bezug auf die Schwangerschaftsunterbrechung steht, klagt da sein Leid, er hätte unter Zuziehung hervorragender anderer Fachärzte vielfach Schwangeren die Unterbrechung abgelehnt, diese hätten dann in Krankenhäusern »ein williges Kollegenohr« gefunden. Wenn mit gleichem Maß gemessen würde, dann müßte die Staatsanwaltschaft in Breslau dieser Sache nachgehen, wenn sie ihr zu Ohren kommt. Denn der betreffende Arzt will doch zweifellos den Vorwurf erheben, daß in den betreffenden Fällen nicht einmal ärztlich vollbegründete Unterbrechungen vorgenommen worden sind. Ich vermag, ehrlich gesagt, dem nicht viel entgegenzusetzen, wenn die armen Leute sagen, eine reiche Frau könne in Deutschland oder im Ausland jederzeit eine unerwünschte Schwangerschaft loswerden, obwohl bei ihr »der Knüppel doch lange nicht so beim Hunde läge« – man verzeihe mir die Wiedergabe dieses platten Vergleichs – wie bei einer armen Frau, die immer Gefahr laufe, ins Gefängnis zu kommen. Wie zersetzend derartige Zustände auf das Gefühl der Rechtssicherheit, auf das Vertrauen zur Gerechtigkeit des Staates, ja zur göttlichen Weltordnung wirken müssen, darüber ist wohl kein Wort zu verlieren.


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