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Fünfundfünfzigstes Kapitel

Pawel Iwanowitsch Naryschkin

Im Vorsaal hatte sich das Bild nicht verändert. Man spielte und trank. Nur war jetzt auch noch der Sekretär bei den Edelleuten und machte zu all dem Treiben ein ebenso blasiertes wie angewidertes Gesicht.

Leibniz trat, einer Eingebung folgend, auf ihn zu.

»Darf ich Sie um einige Worte bitten, Herr von Naryschkin?« fragte er leise.

Der Angesprochene sprang erschrocken auf und wieder zuckte es ihm über Kopf und rechten Arm. Er lachte:

»Nun, lange hat die Audienz beim Herrn Wojwoden von Nowgorod nicht gedauert. Sie wollen sich jedenfalls in die Ordensliste eintragen, Baron. Irre ich? Ich glaube kaum. Denn jede Audienz bei Lefort endet so. Ich habe schon ein ganzes Buch voll Namen.« Er sprach in gebrochenem, jedoch verständlichem Französisch.

»Sie irren ausnahmsweise, Herr von Naryschkin«, erwiderte Leibniz, der sich mit aller Kraft zur Liebenswürdigkeit zwang. »Ich habe eine andre Bitte. Wollen wir ein wenig abseits treten, wenn die anderen Herren entschuldigen?«

Naryschkin erhob sich und warf die Karten auf den Tisch, wobei er auf russisch seinen Mitspielern etwas zurief. Dann ging er mit Leibniz in eine Ecke des Saals.

»Ich wollte bitten, Herr von Naryschkin, ob Sie mir nicht eine Audienz bei Seiner Durchlaucht, dem Wojwoden Golowin oder beim Wojwoden Wosnizyn verschaffen können. Ich bin schließlich in wichtiger Mission hier.«

Naryschkin wiegte den Kopf. Dann sagte er langsam:

»Da ist nichts zu holen, Verehrter. Golowin und Wosnizyn schnarchen schon seit einer Stunde. Sie selbst aber fassen, denke ich, unsre Gesandtschaft falsch auf. Wir untersuchen das, was uns beachtenswert ist, und nicht das, was uns die anderen als beachtenswert einreden. Wir müßten ja sonst zehn Jahre durch Europa reisen. Das ist wenigstens, soviel ich weiß, die wahre Absicht des erhabenen Zaren aller Reußen.«

Wieder hatte Leibniz eine Eingebung. Dieser Naryschkin schien einiges zu wissen. War Sekretär oder Adjutant Leforts und ein entfernter Vetter des Zaren. Besser mit Naryschkin sprechen als mit überhaupt niemandem. Und er lächelte:

»Dann darf ich vielleicht Sie um eine Audienz bitten, Herr von Naryschkin?«

Sogleich bereute er aber seine Worte. Denn der Russe blitzte ihn geradezu mit einem Haßblick an, und wieder schüttelte ihn der eigentümliche Krampf.

»Wollen Sie mich verspotten?« fragte er drohend. »Oder meinen Sie noch etwas Versteckteres mit Ihren Worten? Etwa Spionage?«

»Um Gottes willen, Herr von Naryschkin!« erwiderte Leibniz ehrlich entsetzt. »Sie haben mich mißverstanden. Es sollte ein Scherz sein. Ich gebe zu, daß es ein geschmackloser Scherz war. Aber jetzt im Ernst. Würden Sie nicht die große Güte haben, mir einige Minuten zu gewähren, damit ich meinem Souverän wenigstens irgend etwas berichten kann? Ich appelliere an Ihre Kollegialität, Herr von Naryschkin, die ich mir zwar nicht verdient habe, die Sie mir jedoch gütigst gewähren können.«

Naryschkin lächelte höhnisch.

»Ah, das ist ein andrer Ton, Herr, Herr – wie heißen Sie doch?«

»Leibniz.«

»Also, Herr Leibniz. Wir sind Russen, Herr Leibniz. Auch Lefort ist schon ein Russe. Ihnen kommt da manches sonderbar vor. Aber es ist alles noch viel, viel sonderbarer. Gut, Herr Leibniz, gehen wir also irgendwo in ein leeres Zimmer. Sie haben mich liebenswürdig gebeten, und ich habe in Paris die gute Form ein wenig schätzen gelernt. Ich habe Zeit. Die anderen schlafen ohnedies. Aber es ist Ihnen doch klar, Herr Leibniz, daß ich sehr gebunden bin in meinen Reden? Denn bei uns ist man vor allem mißtrauisch. Dann ist man zum zweiten mißtrauisch. Und zum dritten hat man kein Vertrauen!« Er lachte leise auf und ging mit langen, schwankenden Schritten voran.

 

Nach einer Stunde schien Herr Pawel Naryschkin unter dem Eindruck einer Bouteille Rotweins, die ihm ein mürrischer Heiducke gebracht hatte, sein Programm des Mißtrauens einigermaßen revidiert zu haben. Denn er war nicht nur lebhaft geworden, sondern hatte auch schon mehr als einmal den Zaren in die Debatte gezogen. Und dies nicht immer gerade in ehrerbietiger Weise. So hatte er merklich ironisch vom Sieg des Türhüters Leeuwenhoek über Rußland berichtet, bei dem er, Naryschkin, zufällig dabei gewesen war. Wie gewöhnlich hatte es dem Zaren nämlich nicht genügt, das zu sehen, was man ihm zeigte. Sondern er hatte eigene Experimente, und zwar gleichsam vivisektorische, vorgeschlagen. Da hatte nun Leeuwenhoek kurzerhand seine Mikroskope eingepackt und alles Toben Peters, selbst die Intervention der Ratsherren von Delft, hatten nichts genützt. Leeuwenhoek hatte einfach Bedingungen gestellt. Und der Zar, dessen Neugierde schließlich größer war als sein Stolz, hatte nachgegeben. Er hatte auf das Kruzifix schwören müssen, nicht nur selbst keine Tiere mehr zu quälen, sondern in seinem Reiche auch die Tierquälerei zu unterdrücken. Erst nach diesem Eid hatte Leuwenhoek die Mikroskope wieder ausgepackt.Und der Zar habe es nicht bereut, eingelenkt zu haben ...

Da während dieser und während anderer Berichte Naryschkins manchmal ein äußerst ironisches Lächeln über das Antlitz des Erzählenden huschte, blickte Leibniz aus Takt zum Fenster hinaus. Sie saßen nahe diesem Fenster in einem altdeutsch eingerichteten Erker. Und weit draußen schloß die düstergrüne Wand eines Waldabhanges die Aussicht ab. Naryschkin aber kicherte leise und erzählte eine Anekdote nach der anderen.

In Leibniz begann leises Unbehagen und ein bestimmter Verdacht aufzusteigen. Er hatte gehört, daß der Zar durchaus nicht bloß Freunde ins Ausland mitgenommen hatte. Im Gegenteil. Gerade einige Personen, die er in starkem Verdacht hatte und die während seiner Abwesenheit in Rußland Schaden stiften konnten, hatte er zur Gesandtschaft kommandiert, um sie beobachten, vielleicht sogar, um sie unauffällig aus dem Weg räumen zu können. Nun war Naryschkin ein Verwandter des Zaren. Eben aus der Linie, von der in Rußland die Revolten der letzten Jahre ausgegangen waren. Man mußte, wenn man nicht viel verderben wollte, vorsichtig sein. Vielleicht versuchte Naryschkin bloß, sich in Europa Verbündete zu schaffen. Zur Partei der Fremden-Anhänger gehörte er sicherlich. Das bewies schon seine fast läppische französelnde Tracht und seine manchmal affektierte Mühe, den westlichen Edelmann zu spielen. Gleichwohl aber war vielleicht gerade Naryschkin der geeigneste Mann, durch den Leibniz etwas erfahren und durch den er seine Pläne verwirklichen konnte. Aber wie gesagt, man mußte vorsichtig sein, vorsichtiger als vorsichtig. Denn am Ende war er nichts als ein Spitzel des Zaren, der Stimmungen zu sondieren hatte.

Wieder gab es einige Zeit nichts anderes als höchst bizarre und manchmal geradezu haarsträubende Geschichten. So etwa, daß der Zar in Holland, als die Generalstaaten zu seinem Empfang versammelt waren, sich geweigert hatte, zwischen den Abgeordneten durchzuschreiten, wenn sie sich nicht alle mit dem Gesicht zur Wand kehrten. Als man ihm mitteilte, die holländischen Gesetze böten keine Handhabe, den Abgeordneten etwas zu befehlen, habe er plötzlich den Hut übers Gesicht gezogen und sei wie ein Gehetzter in mehreren Sprüngen durch die entsetzte Versammlung gelaufen, bis er endlich die Tür gewonnen habe. Dann sei er einige Tage unauffindbar gewesen. Bis man ihn als gewöhnlichen Matrosen auf einem Fischkutter wieder aufgestöbert habe.

»Können Sie es irgendwie erklären,« fragte Naryschkin, um einen Schatten ernster, »daß der Herr eines Riesenreiches, ein Held und Gewalttäter wie unser großer Zar, solche Anwandlungen von Schüchternheit, ja von Menschenfurcht erleidet? Mir ist es ein Rätsel.« Und er goß ein Glas Rotwein hinunter.

»Ich habe heute schon über manches dieser Probleme gegrübelt«, erwiderte Leibniz langsam. »Ich behaupte aber nicht, daß mir eine Lösung geglückt wäre. In solchen abgründigen Dingen kann man nur Vermutungen aussprechen.«

»Und was vermuten Sie?«

»Ich glaube, daß dies alles mit dem Problem des Schauens und des Denkens zusammenhängt.«

»Was heißt das?«

»Das heißt«, sagte Leibniz, »daß der große Zar sich nur dort sicher fühlt, wo erkannt und gehandelt wird. Und sich dort ängstigt, wo die Worte und die Gedanken schwirren. Sie haben eben früher von seiner unwahrscheinlichen Handfertigkeit erzählt. Wie er etwa nach kurzem Zusehen ein Büttenpapier schöpfte, das einem Meister zur Ehre gereicht hätte. Solche Dinge sind für mich bezeichnend. Der Zar sieht, erkennt und handelt. Und kann es nicht verstehen, daß durch einen Wortschwall, dem er aus mangelnder Übung nicht gewachsen ist, seine klare Wahrheit getrübt und verfälscht wird. Solche Konflikte, Herr von Naryschkin, ziehen sich bis in die Höhen exaktester Wissenschaft hinauf. Es handelt sich um einen der großen Urgegensätze, Herr von Naryschkin.«

Der Russe sah Leibniz starr an. Und wieder packte ihn das konvulsivische Schütteln. Dann wiegte er den Kopf.

»Eine merkwürdige Auslegung«, erwiderte er nachdenklich. »Eine sehr, sehr merkwürdige Auslegung!« Er lachte plötzlich höhnisch auf. »Nun gut, Baron. Nehmen wir an, Sie hätten recht. Nehmen wir es einmal an. Und nun, da Sie als Arzt die Krankheit erkannt haben, sagen Sie mir die Heilmittel. Kollegialität gegen Kollegialität. Ich habe es Ihnen möglich gemacht, Ihrem Herzog etwas zu erzählen. Ermöglichen Sie es jetzt mir, mich beim Zaren mit einer neuen Weisheit einzuschmeicheln. Ich habe es, bei der schwarzen Gottesmutter, äußerst nötig! Ich will nämlich Rußland wiedersehen. Sie verstehen mich.« Und er grinste verzerrt.

Also doch ein Verdächtiger? Vielleicht sogar ein Gerichteter? Gut, er sollte seine Auskunft haben. Alles lief genau in der Richtung der Pläne Leibnizens.

»Das ist nicht bloß ein persönliches Problem des Zaren«, sagte Leibniz überzeugt. »Diese merkwürdige Disproportionalität zwischen Erkenntnis und Bildung scheint mir ein allgemeines Problem Rußlands zu sein, soweit ich von hier aus urteilen kann.«

»Möglich, daß Sie recht haben. Der Zar versucht ja auch, europäische Kunstfertigkeit in seinen Dienst zu stellen.«

»In dieser Art ist sein Vorgehen falsch, Herr von Naryschkin.«

»Wieso? Sie widersprechen sich, mein Lieber.«

»Ich widerspreche mir nicht, Herr von Naryschkin. Nicht im mindesten. Denn was der Zar bis heute unternimmt, sind machtpolitische und nicht kulturelle Europäisierungsversuche.«

»Zuerst die Macht, dann der Krimskrams!« erwiderte Naryschkin ein wenig scharf. Dann aber lenkte er sofort wieder ein. »Sie können trotzdem recht haben, Herr Leibniz. Man wird dadurch noch kein Europäer, wenn man weiß, daß die Artillerie, die Tuchherstellung, die Papiererzeugung und die Bearbeitung des Eisens so und so einzurichten sind. Man hat nachgeahmt, und inzwischen erfindet ihr im Westen wieder Neues.«

»Ganz richtig«, sagte Leibniz liebenswürdig. »Ich denke, wir sind auf dem Weg, uns zu verständigen. Aber das Problem liegt noch tiefer. Und dort wieder wird es, obwohl es ein Kulturproblem ist, eine Frage der Politik.«

»Das ist mir zu dunkel.« Naryschkin, der plötzlich merkwürdig unruhig, beinahe zornig geworden war, stand auf und begann mit schlottrigen, raumgreifenden Schritten umherzuwandern. Unvermittelt ergriff er die Weinflasche und warf sie aus dem Fenster.

Leibniz zuckte zusammen. Hatte Sophie recht? War das eine Gesandtschaft von Wahnsinnigen?

»Ich habe mich höchst undeutlich ausgedrückt. Ich gebe es gerne zu«, antwortete er so ruhig und glatt als er es konnte. »Ich werde es sogleich genau ausführen, was ich meinte.«

»Aber schnell, mein Lieber!« Naryschkin hatte sich vor Leibniz aufgepflanzt und starrte ihn an. »Schnell, mein Lieber. Ich fürchte nämlich, daß dieser elende Säufer, dieser Lefort, aufwacht und mich zu sich ruft. Also reden Sie. Sie wissen jetzt, warum ich ungeduldig bin.« Und er schüttelte sich diesmal, als ob er eine Welt von Unmut loswerden wollte.

Ach, das Mißtrauen! Leibniz begriff. Naryschkin begann sich zu fürchten. Man konnte seine lange Unterredung mit dem Fremden mißdeuten. Gleichwohl aber war der Russe begierig, etwas zu erfahren, mußte etwas erfahren, um sich beim Zaren einzuschmeicheln. Er soll seinen Willen haben. Denn auch er hat mir geholfen.

Und Leibniz begann schnell und fließend zu sprechen:

»Ich meinte meine Andeutung so: Rußland, das riesige, kraftschwangere Rußland, dieser Länderkoloß ohne jeden Ausgang zum Meer, beginnt sich zu recken, beginnt aus jahrhundertelangem Schlaf zu erwachen. Nicht zuletzt durch seinen hellsichtigen Zaren. Ich verstehe, was der Zar fühlt, wenn er unter ungeheuren Mühen endlich Asow erobert und schon wieder beim Bosporus die Türe verschlossen findet. Und wenn zwischen ihm und der Ostsee Ingermanland liegt. Und wenn ihm am Ende nichts übrig bleibt, als seine jungen heißgeliebten Flotten aus dem Eishafen Archangelsk ausfahren zu lassen. Wie gesagt, das begreife ich. Ich verstehe es weiter, daß er alles daransetzt, Luft zu bekommen. Und daher zuerst die Vollendung der Bewaffnung, dann aber erst andre Dinge anstrebt. Nur ist ein Rechenfehler in diesem Plan.«

»Ein Rechenfehler?« Naryschkin lächelte höhnisch und setzte sich.

»Ja, ein Rechenfehler.« Leibniz beachtete den Zwischenruf kaum. »Zar Peter wird nämlich bei seinem Beginnen im Süden auf die ganze Wut der Türken, im Norden auf den verzweifelten Zorn Schwedens stoßen.«

Naryschkin lachte schmetternd auf.

»Ich glaube, dieses Geheimnis ist dem Zaren bekannt. Ist das der Rechenfehler?«

»Nein, noch nicht.« Leibniz ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Die falsche Rechnung ist erst eine Folge dieser Tatsachen, von denen auch ich nicht annahm, daß sie irgendwem unbekannt seien. Kurz, wir stellten fest, es werde Krieg geben. Krieg mit der Türkei. Besser, eine Fortsetzung der durch Rußland geführten Türkenkriege. Das liegt im Interesse des christlichen Europa. Beim Krieg mit Schweden ist es schon anders. Was wird Polen sagen, was Litauen, was Kurbrandenburg? Und was England und Holland, wenn ein neuer Seehandelsstaat mit unerschöpflichen Ausfuhrmöglichkeiten auf den Plan tritt? Gut, wir wollen annehmen, daß Rußland mehr Soldaten, mehr Kanonen, mehr Pferde aufbringt, als wir alle anderen zusammen. Wir schlafen aber auch nicht, Herr von Naryschkin. Und gerade Ihre höchst bemerkenswerte Gesandtschaft hat uns eher aufgeklärt als erschreckt. Auch wir haben noch Augen, wenn wir auch viel sprechen.«

»Ist das eine Drohung gegen unser heiliges Rußland, Baron?« Naryschkin knirschte mit den Zähnen.

»Eine Warnung, Herr von Naryschkin, und außerdem ein sehr, sehr wohlmeinender Rat. Durchaus nicht allein in unsrem eigenen Interesse. Ich leugne nicht, daß wir auch ein Interesse daran haben, daß ein solches Rußland nicht in Europa einbricht. Wir alle. Von Polen bis Spanien. Von Schweden bis Sizilien.«

»Was heißt ›ein solches Rußland‹? Sie unterschätzen uns maßlos, Baron. Und überschätzen sich und Europa. Eure berühmte Gesittung ist mehr eine überhebliche Einbildung als eine greifbare Wirklichkeit!«

»Das leugne ich nicht, Herr von Naryschkin. Ich habe in Rom über das Verhältnis von China zu Europa Ähnliches gesagt. Gleichwohl aber, das erwähnten Sie selbst, bilden wir uns die höhere Gesittung ein. Diese allgemeine Einbildung, der der Zar durch seine Flucht aus dem Verhandlungssaal der Generalstaaten noch sinnbildhaft Vorschub leistete, kann für einen Kreuzzug Europas gegen Rußland genügen. Es handelt sich da nicht um die unterste Wahrheit, sondern um die oberflächlichste Gefühlsströmung. Verstehen Sie mich recht, Herr von Naryschkin? Vielleicht ist Gesittung nichts als Heuchelei. Vielleicht. Ich halte sie – in Parenthese – für mehr. Nämlich für eine Idee, die man aufrichtet, um ihr auch wirklich nachzustreben. Das wollen wir aber jetzt nicht erledigen. Wir wollen annehmen, Gesittung sei nichts als Heuchelei. Warum wollt ihr Russen nicht heucheln? Nicht einiges tun, das euch fast nichts kostet und euch das Leben erhalten kann ? Errichtet Universitäten, Sternwarten, Laboratorien. Sendet uns Pflanzen, Tiere, Fossilien und Gesteinsproben. Erforscht die Sprachen und Sitten im Ural und in Sibirien. Regelt euren Kalender in unsrem Sinn. Bekämpft die Stumpfheit des Volkes. Und eignet euch die Gesellschaftsformen des Westens an. Zumindest äußerlich. Dann wird es nicht mehr vorkommen, daß euer unzweifelhaft titanisch begabter Herrscher vor den Krämern von Amsterdam die Flucht ergreift und sich auf einer Fischerbarke verstecken muß. Und wir, wir Europäer, können dann leicht und willig mit euch verhandeln und beraten. Können euch in unser Staatensystem eingliedern. Ja noch mehr. Wir werden euch wahrscheinlich sogar dazu verhelfen, den wichtigern, den südlichen Ausgang zum Weltmeer zu gewinnen. Denn dort sitzt als Pförtner unser Erbfeind, der Feind der Christenheit, der Türke!« Leibniz schwieg.

Naryschkin aber war wieder aufgesprungen. Wie ein Besessener, bald erblassend, bald gerötet, schritt er auf und nieder und ein Schüttelkrampf nach dem andren packte seinen Kopf und seinen rechten Arm.

Plötzlich blieb er knapp vor Leibniz stehen und sagte heiser:

»Gehen Sie jetzt schnell, Baron Leibniz! Ich habe Angst, weiter mit Ihnen zu sprechen. Auf jeden Fall aber werde ich alles dem Zaren berichten. Und senden Sie mir über diese Dinge ausführlichste Denkschriften nach Rußland. Ausführlichste! Nicht bloß Entwürfe und Andeutungen. Ich werde Ihnen dagegen Grundlagen über Land und Leute zukommen lassen. Auf Wiedersehen! Hoffentlich haben wir beide Glück – beim sonderbaren, verrückten Zaren.« Und er lachte gellend auf und lief aus dem Zimmer.

 

Als Leibniz am Abend in Herrenhausen einfuhr, war er merkwürdig verstört. Hatte er einen Fehler begangen? Hatte Naryschkin seinen Plan durchschaut? Den Plan, die Gefahr asiatischer Urkraft und Skrupellosigkeit, gepaart mit europäischer Bewaffnung, von Europa abzuwehren? Oder zumindest durch Eindringen westlicher Gesittung nach Rußland zu mildern? Oder war Naryschkin eine nichtssagende Null, die sich hüten würde, dem Zaren zu berichten? Oder war er gar ein Spion oder Verschwörer?

Leibniz war noch immer ein wenig gedrückt, als er in einem hellerleuchteten Salon vor Sophie und vor Charlotte stand.

»Setzen Sie sich, mon cher, und erzählen Sie uns, was Sie bei Herrn Admiral Lefort ausgerichtet haben«, begann Charlotte ironisch lächelnd.

Leibniz berichtete in kurzen Worten über seine Eindrücke. Als er aber geendet hatte, lachte Charlotte leise auf. Dann sah sie zu Boden und sagte:

»Heute, mein Verehrter, sind alle übrigen gescheiter gewesen als unser Weltwunder Leibniz. Und in höherem Sinne gleichwohl dümmer. Aber das ändert nichts an der Tatsache, an der pikanten Einzelheit, daß Zar Peter von Rußland ausschließlich zu dem Zweck den Umweg über Hannover gemacht hat, um einen gewissen Herrn Leibniz kennen zu lernen.«

Leibniz zuckte unter dem merkwürdigen Ton empor.

»Er ist doch in Halberstadt ?« fragte er verwirrt.

»Nein, er ist Herr von Naryschkin, mon eher!« antwortete mit einem schalkhaften Blick die Kurfürstin Sophie.

»Naryschkin war – der große Zar ?« Leibniz verlor beinahe die Haltung.

Dann aber schoß es ihm plötzlich durch das Bewußtsein, daß er nunmehr mit seinem Geist durch Grimaldi über Goa und Hinterindien bis nach Peking und durch den Zaren von der Weichsel über den Ural und über Sibirien bis an die Nordgrenzen Chinas griff.


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