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Es war wenige Tage vor Weihnachten des Jahres 1676, als Leibniz, vom Westen kommend, mit seinem Reisewagen die Brücken der Leine und Ihme übersetzte und in Hannover einfuhr. Feierlich und sonderbar war ihm zumute. Denn von allen Kirchen tönte, durch einen Ostwind ihm entgegengetragen, das vielstimmige Lied der Mittagsglocken. Und ein leichtes, munteres Schneegestöber wirbelte durch die Luft, über die Kirchtürme, Bastionen und die zahllosen spitzen Giebel hochragender Häuser.
In den Straßen tummelte sich in Vorweihnachtsstimmung die Jugend. Zahlreiche Bürger, Offiziere, Frauen, Kleriker lustwandelten und besahen sich ohne Hast und mit behaglichem Schmunzeln die ausgelegten Waren. Aus den Schornsteinen aber stieg dicker Rauch, und es duftete, vermengt mit herrlichem Schneegeruch, allenthalben von Kuchen und Braten.
Leibniz schämte sich nicht, diese letzten höchst alltäglichen Lockungen so stark zu verspüren. Wie die Reste eines erhabenen, furchtbaren und verwirrend bunten Traumes erloschen mächtige Bilder und Gesichte in seinem Innern: Paris, England, Holland. Spinoza und Leeuwenhoek. Die Reise durch endlose Marschen und Ebenen, zwischen Windmühlen und Kanälen. Der Rhein, den er neuerlich überquert hatte. Dunkle Föhrenwälder. Die rote Erde Westfalens. Unsagbar traurige und doch schöne Heiden. Hügel, Dörfer und Schlösser ...
Um ihn tönten jetzt deutsche Laute, als sein Wagen in der Nähe der Ägidienkirche vor einem uralten Fachwerkbau hielt: Vor dem Gasthof, den er zunächst beziehen würde. Und als er ausstieg und nichts als deutsche Worte ihm entgegenklangen, verdichtete sich seine innere Schau zu einem Jubelgefühl. Der Duft von Kuchen, von Braten, sein wild erwachender Hunger machten ihn zum Kinde, das zur Mutter zurückgekehrt ist und von ihr mit Leckerbissen empfangen wird.
Der alte Wirt verbeugte sich tief vor dem neuen Würdenträger am Hof des Herzogs, dessen Ruhm seinem körperlichen Erscheinen vorangeeilt war. Leibniz drückte dem Verdutzten, der hochtrabende, mit lateinischen, falsch verwendeten Brocken gewürzte Begrüßungsworte stammelte, kräftig die fettige Hand und lachte laut wie ein Berauschter; was den devoten Wirt noch weit bedenklicher stimmte, da er solches Betragen geradezu für die hämische Laune eines ansonst grausamen und maßlosen Herrn hielt. Er krümmte also neuerlich den Rücken und versicherte, daß sein armseliges Haus dero Gnaden vielleicht nicht vollends den Eindruck einer Buschenschenke oder Räuberhöhle machen würde, und daß er dero Gnaden bis ans Lebensende obligiert wäre, wenn hochdero Relation ihm seinerzeit nicht die Ausstoßung aus der Zunft eintragen würde. Im übrigen sei alles, soweit ein schwacher Verstand es fassen könne, aufs diligenteste vorbereitet, es würde aber aller Voraussicht nach einem Herrn, der Paris gewohnt sei, nur ein mitleidiges Lächeln entlocken. Denn wenn auch Jugend kein Hindernis für hohe Würden sei, könnte sie gleichwohl ein Hindernis für die Milde sein, die ein armer Gastwirt aus Hannover von einem sozusagen französischen Edelmann höchst nötig habe.
Während dieser im weiteren Verlauf nicht mehr gestammelten, sondern hervorgesprudelten Rede betrachtete der Wirt mit wasserblauen, unter goldgesticktem Käppchen hervorblinzelnden Augen wie fasziniert das Antlitz seines Gastes, das von der frischen Schneeluft gerötet war und noch weit jünger aussah als sonst.
»Ich bin ein Deutscher, will ein Deutscher sein und werde mit dem vorlieb nehmen, was mir mein Vaterland bietet«, sagte Leibniz, als sie schon in den Flur gingen. »Dabei glaube ich, daß mir Deutschland ebensoviel bieten kann, wie jedes andre Land. Mein Diener aber kann Ihnen einige französische Rezepte verraten, falls sie Ihnen nicht ohnedies schon bekannt sind.«
Der Ton Leibnizens war um einen Schatten weniger froh und heiter, als er, noch lächelnd, diese Worte aussprach. Denn schon hier, an der Schwelle seines Vaterlandes, erreichte ihn die große Warnung. So klein auch das Vorzeichen war: Bis hieher griff die riesige Kralle, die Boineburg einst vor Jahren über den Rhein hatte langen sehen. Deren Nägel die furchtbaren Lilien des Sonnenkönigs waren.
Er hatte sich einem Lande, einem Herrscher verdungen, der im Bündnis mit Ludwig dem Vierzehnten stand, der Subsidien von Frankreich nahm und seine Truppen durch einen französischen General, einen Vasallen des brutalen Herrn von Louvois drillen ließ. Und diese Lilien-Kralle hatte selbst den biederderben Wirt gepackt und ihn so sehr aus dem Gleichgewicht geworfen, daß er vor Frankreich katzbuckelte und sich seines Deutschtums schämte. Was wußte dieser tolpatschige Gallo-Grec (wie man neuerdings die Franzosenknechte in Deutschland spottend nannte), wen er da mit Leibniz ins Haus bekommen hatte? Einen »sozusagen französischen Edelmann«? Der ihm noch mehr imponierte, als wenn bloß ein neuer deutscher Höfling hereingerasselt wäre? Was wußte der Wirt? Würde er nicht ein Kreuz schlagen wie vor dem Gottseibeiuns und wie vor einem Hochverräter, wenn er die Wahrheit wüßte? Nämlich, daß dieser durch Schicksal ewig zwei- und zehndeutige Leibniz geradezu als Deserteur Londons und Spinozas, vollbepackt mit geheimer Konterbande, gegen die alle Spezereien, Spitzen und geheimen Militärdokumente harmloses Kinderspiel waren, seine Heimat an gefährdetster Stelle wieder betrat, um seiner Nation das zu bringen, was ihr fehlte? Und dadurch vielleicht auch der »beraubten« Nation zu nützen? Weil diese dann nicht mehr so selbstherrlich und siegessicher, bessere Ziele anstrebte als die Plünderung und Einsackung des Nachbarn?
Vielleicht war er ein mehr als gelehriger Schüler und Erbe des großen, verewigten Boineburg. Ewig noch, ewig begeistert, glühend in Patriotismus – und gleichwohl stets in der Rolle eines Verräters ...
Leibniz freute sich der behaglichen Wärme in seinen beiden großen halbdunklen Zimmern, als er eingetreten war und sie durchschritt. Auf dem Tisch dampfte eine würzige Suppe, frisches Brot lag in leckeren Schnitten auf einem silbernen Teller und eine Flasche Rheinwein stand, noch angelaufen vom Schnee und verstaubt, daneben.
Er warf sich, gegen seine sonstige, eher bedächtige Art, gelöst in den Polstersessel und bat den Wirt, seinen Diener vorerst mit einer Mahlzeit zu versorgen. Dann möge er mit diesem zusammen das Gepäck herauf schaffen und alles, was noch fehlte, einrichten. Denn er, Leibniz, müsse in einigen Stunden vor seiner Hoheit, dem Herzog Johann Friedrich erscheinen. Und dies in höfischer Tracht.
Wieder gab es dem Wirt einen Stoß. Leibnizens Äußerung hatte ihm die volle Wirklichkeit der Höhenluft gezeigt, die diesen jungen Fremdling umwitterte. Dazu sollte er noch ein Protestant sein und ein Gelehrter. Ein Rechtsgelehrter, ein Physikus, ein Philosoph, Geometer, vielleicht gar ein Alchimist. Redete in zehn Zungen, wenn die Fama nicht log. Und sah aus wie ein Student, wenn er nicht gar so sicher, hoheitsvoll und herrisch blickte. Aber er fluchte ja nicht, war freundlich und lächelte. Ah, auch noch ein Staatsmann und Diplomat! Gewiß, bei ihm, dem tüchtigen Wirten, waren schon hohe Herren abgestiegen. Die aber reisten wieder fort. Nach Tagen, Wochen, Monaten. Der aber, dieser Leibniz, dieser allerunheimlichste Lächler, der mit seinen Augen schon einigemale weiß Gott in welch ferne Zauberwelten geblickt hatte, würde hier bleiben. Fuhr heute schon zum Herzog. Man war keinen Herzschlag sicher. Jetzt, eben einige Tage vor Weihnachten. Vielleicht brachte er gar den Krieg oder Umwälzung. Und dieser Herr Leibniz, der mit seinem Kindergesicht schon ein Intimus des Herzogs war, was würde der erst werden in zwanzig, dreißig Jahren? Man mußte ihm zureden, sich bald ein Haus zu kaufen. Dabei ließ sich noch einiges verdienen. Und man hatte ihn los und hatte ihn noch verpflichtet. Wenn das Haus ihm aber nicht gefiel? Ihm, der eben aus Paris kam, wo die Häuser bis zum Himmel strebten? Und wahrscheinlich ganz aus Marmor, Bronze und Kacheln erbaut waren? Und dann wollte er einen noch fangen und ausholen und behauptete, er sei ein begeisterter Deutscher. Damit man höflich zustimmt und er dann am Nachmittag dem Herzog erzählt, schon sein erster Schritt in Hannover habe ihn Conspirationes gezeigt, die im Bürgertum schwelten. So sei der Wirt, bei dem er, Herr Leibniz, wohne ein »begeisterter Deutscher« und Feind des Bündnisses mit Ludwig. Sei also schnurstracks ein Aufwiegler gegen die Staatskunst Seiner Hoheit. Ergo mit ihm ins Loch. Oder sagte er es heute noch nicht, weil er nicht dazukommt? Aber vielleicht morgen oder übermorgen? Oder aus Zorn, wenn einmal der Braten zu klein ist oder die Pastete, Gott sei davor, anbrennt?! Oder wenn ein Floh in seinen Kissen hüpft? Wer kann das aushalten, jetzt, einige Tage vor Weihnachten, wo sich Frauen und Kinder schon auf den Christbaum freuen! Was aber soll man machen? Es wird auf jeden Fall am billigsten sein, ihm weniger zu rechnen als allen andern und ihm gerade das Allerbeste vorzusetzen. Er ruiniert mich sonst, dieser unheimliche junge Hofmann. Er ist mein Unglück, ich weiß es! Ich werde eine Messe zahlen. Vielleicht schützt mich Gott, weil dieser Herr ein Protestant ist. Und dann werde ich dem Diener so viel Wein geben, daß er mir die Wahrheit über seinen Herrn sagt. Und die Mägde dürfen nicht in seinen Sachen kramen. Ein hochnotpeinlicher Spionageprozeß ist schnell vom Zaun gebrochen. Dabei, und das ist das größte Unglück, gefällt er mir. Wenn ich ihn nur schon los wäre! Oder verscherze ich mir dadurch noch dazu einen Gönner? Ah, da ist ja der Diener! Und den soll ich füttern. Es ist eigentlich nett von diesem hohen Herrn, daß er zuerst an die Mahlzeit des Dieners und dann erst an die Ordnung seines Zimmers gedacht hat. Ungeduldig und hastig scheint er nicht zu sein. Aber er ist ein Diplomat. Da kann man nichts, rein gar nichts aus seinen Worten schließen. Wenn nur alles gut endet ..
Und der aufgewühlte, fette Wirt wendete sich seufzend zu seinem Schutzbefohlenen und war erstaunt, daß dieser die Einteilung höchst selbstverständlich fand und sich weit mehr für die Mahlzeit als für das Auspacken der Habseligkeiten seines großen Herrn interessierte.
Inzwischen trug eine saubere Magd die vollen Schüsseln und Terrinen zu Leibniz hinauf und freute sich aufrichtig, daß er den Speisen so unverhohlen gierig zusprach. Solcher Appetit war im Hinblick auf die lange beschwerliche Reise höchst begreiflich, obwohl man oft behauptet hatte, die Vornehmheit bestehe im Maßhalten.
Als nun Leibniz die letzten Reste des Desserts verzehrte und eben in einen roten Apfel biß, wurde ihm der Umschwung in seinem Leben mit einer gewissen leisen Melancholie deutlich und bewußt: Er begann plötzlich die Enge Hannovers, die Kleinheit der Herzogtümer Celle und Calenberg zu fühlen, obgleich ihn vor einer Stunde gerade diese Begrenztheit so eigentümlich vertraut angemutet hatte. Von Frankreich und England gar nicht zu sprechen. Selbst an Holland gemessen, war das Format dieser Überbleibsel welfischer Herrlichkeit beinahe pfahlbürgerlich. Man stieß nach oben bald an die Spitze, nicht so wie in Paris, wo man stets ganz unten blieb, wie hoch man auch stieg. Aber auch von der Bewegtheit kurmainzischer Aktivität, von einer Einmischung in europäische, in Weltzusammenhänge war hier, soweit er es bisher aus der Ferne erforscht hatte, nichts zu merken. Ehrgeizige Miniaturkopie von Versailles auf deutschem Boden. So lächelte man über diesen Hof in Paris; wo man die Anhänger beinahe mehr verachtete als die erklärten Feinde. Und der Franzosengeist erstreckte sich in Hannover bis in die erleuchtesten Köpfe.
Hermann Conring, der Allwisser, der Begründer der deutschen Rechtsgeschichte, der Mathematiker, Philosoph, Mediziner, Chymist und Statistikus. Der große Conring aus Helmstädt, von jener erlauchten Universität, die den Hannoverschen Herzögen unterstand, dieser Conring ging fast allen voran in seiner Unterwürfigkeit gegen Frankreich und Ludwig; denen er noch tiefer ergeben zu sein schien als seinem Aristoteles. Und zu eben diesem Conring hatte Leibniz noch keinerlei Brücke schlagen können. Mehr als das. Conring lehnte ihn beinahe ab, nahm ihn irgendwie und an irgend einer Stelle nicht ernst im geistigen Universum.
Merkwürdig, daß der Landesherr eben dieses größten lebenden Polyhistors in deutschem Land sich durch ein solches Urteil nicht hatte beeinflussen lassen und so hartnäckig nach Leibniz gefahndet hatte. Aber trotzdem bedeutete jede Fremdheit eine ernste Belastung, die in so engem Kreise seiner Tätigkeit auferlegt war. Denn daß Conring hier, in seiner Heimat, beim Hof, bei den Fakultäten, beim Volk nichts mitzureden hatte, daß er bedeutungsloser war als ein zugereister Dreißigjähriger, konnte selbst aller Optimismus schwerlich voraussetzen.
Was überhaupt würde hier am Welfenhof seine Tätigkeit sein? Er wußte darüber so gut wie nichts. Welchen Leibniz wollte und suchte Johann Friedrich? Den Gelehrten? Den Diplomaten? Wo er Conring und den berühmten Grote besaß? Oder den Mathematiker, von dem er kaum Wesentliches wußte? Oder war alles nur Fürstenlaune, war nur eine Art von flüchtiger Sympathie, über deren Gründe sich der Herzog nicht den Kopf zerbrach, die er einfach befriedigte, indem er einen »Rat« mehr anstellte? Und es dem Schicksal überließ, wie man diesen Rat gelegentlich verwenden konnte?
Gewiß, mit dieser Möglichkeit mußte man rechnen, wenn auch sogar das Benehmen des Gastwirtes dagegen sprach. Aber der Gastwirt war eben ein Untertan und dienerte wahrscheinlich vor allem, was nur entfernt mit dem Hof zusammenhing.
Auf jeden Fall war es zu erwarten, daß der kleine Hof ihn vor eine Vielfalt von Aufgaben stellte, etwa wie in einem kleinen Hause sich Diener und Mägde nach mehrerlei umsehen mußten als in einem Palast, wo die Rollen der Einzelnen strenger zugeteilt sind.
Und eben das war es gewesen, was Leibniz hiehergelockt hatte, was ihn vermocht hatte, dem Nachlaß Blaise Pascals und seinen Pariser Freunden den Rücken zu kehren.
Also praktische Aufgaben mannigfacher Art. Der Herzog aber würde nicht grübeln, was er mit dem fremden Vogel beginnen sollte. Leibniz selbst mußte sich den Wirkungskreis erschließen. Mußte heute noch Vorschläge erstatten. Welche? Womöglich ähnliche, wie sie ein Colbert, ein Louvois, ein Pomponne ihrem Herrn erstatteten. Diese Nachahmung der Franzosen war nicht bloß erlaubt, sie war sogar im Interesse des Deutschtums geboten. Und sie würde hier, im Mittelpunkt der Franzosenanbeterei, leichter durchzusetzen sein als irgendwo anders. Und konnte mit einem Ruck ins Gegenteil umgebogen werden, wenn es gelang, Johann Friedrich einmal von seinem Bündnis mit Ludwig abzubringen.
Leibniz rief nach seinem Diener. Er solle so schnell wie möglich die Buchladen der Umgebung durchstöbern und möge eine Landkarte Hannovers und eine Beschreibung des Landes auftreiben. Vielleicht gebe es Kalender oder ähnliche Schmöker. Vielleicht auch kenne der Gastwirt derartige Wegweiser oder besitze sie gar.
Der Diener entfernte sich nicht ohne Kopfschütteln. Er hatte zwar dem Gastwirt über seinen Herrn nur Gutes berichten können, war aber jetzt verwirrt. Denn wie sollte er in der fremden Stadt fremde Bücher suchen und gleichzeitig die Hofkleidung vorbereiten?
Auch Leibniz fiel dieses Dilemma ein, als der Diener schon durch die Straßen eilte. Aber noch etwas fiel ihm ein. Daß er nämlich vor dem Wirt zu eindeutig über seine heutige Audienz beim Herzog gesprochen hatte. Diese Audienz konnte ebensogut seine eigenste Einbildung sein. Oder ein Wunsch ohne sichere Grundlage. Gewiß, er hatte nach Holland ein Kabinettschreiben erhalten, in dem ihm befohlen wurde, »am ersten Tag seines Eintreffens in Hannover sich ohne überflüssige Verzögerung, gleichgültig zu welcher Tagesstunde, untertänigst bei Seiner Hoheit zu melden und sich hochdemselben gehorsamst vorzustellen.« Es war aber damit noch keineswegs gesagt, daß eben heute der Herzog ihn empfangen wollte oder konnte. Denn Johann Friedrich war möglicherweise in den Winterlagern bei seinen Truppen oder im Harz oder in Göttingen. Und hatte auch gar nicht gewußt, daß er, Leibniz, heute eintreffen würde. Denn die Jahreszeit in Verbindung mit den hoch fortdauernden Kriegshandlungen längs des Rheins hatte jede Regelmäßigkeit der Postverbindungen zerstört, so daß sich Leibnizens letzter Brief auf sehr beiläufige Angaben beschränkt hatte, die durch Tatsachen längst überholt waren.
Jedenfalls war es wichtiger, daß er schon heute auf alles vorbereitet war, was er in der ersten Audienz vortragen wollte, als daß diese Audienz heute stattfand.
Zu diesem Schluß war er eben gelangt, als ihn ein Pochen an seine Tür vor eine gänzlich neue und unerwartete Sachlage stellte.
In höchster Erregung polterte nämlich der Wirt herein und teilte mit, daß ein Offizier der herzoglichen Leibgarde in einem Hofwagen soeben vorgefahren sei und Herrn Rat Doktor Leibniz dringendst suche. Jetzt erst erinnerte sich Leibniz einer auffallenden Episode bei der Kontrolle der Reisenden im Stadttor, durch das er nach Hannover eingefahren war. Während man nämlich seine Mitreisenden kaum beachtet hatte, war er selbst eingehend ausgefragt worden, man hatte seine Angaben notiert, mit bereitliegenden Dokumenten verglichen und einige leise Befehle an Ordonnanzen erteilt. Er hatte dies alles darauf zurückgeführt, daß er aus Holland, also aus einem dem französischen Verbündeten feindlichen Lande kam. Jetzt aber ahnte er anderes, eine Ahnung, die einen gewissen Stolz in ihm auslöste.
Er hatte kaum Zeit, sich weiteren Betrachtungen hinzugeben. Denn nach wenigen Augenblicken trat ein äußerst vornehmer junger Offizier bei ihm ein, der sich vor ihn stramm stellte und sich in reinstem Französisch als Baron von Dinkhofen, Leutnant der Garde, meldete. Er sei, meldete er weiter, zum persönlichen Dienst des gestrengen und hochgelehrten Herrn Rats Doktor Leibniz kommandiert, da Seine Hoheit soeben von der Ankunft des Herrn Rates Rapport erhalten habe. Es sei jetzt halb drei Uhr. Um sechs erwarte Seine Hoheit Herrn Leibniz in Audienz, falls er sich bei voller Kraft und Gesundheit befinde. Den Hofwagen, der den Herrn Rat dann später nach Herrenhausen bringen werde, habe Seine Hoheit schon jetzt hieherbefohlen, da sich Herr Leibniz vielleicht durch eine Rundfahrt durch die Stadt zerstreuen wolle. Auf jeden Fall bitte Seine Hoheit Herrn Leibniz – dies habe er wörtlich zu melden –, es sich in Hannover schon heute so einzurichten, wie in einer Stadt, die sich auf seine Ankunft freue; und im Namen des Herzogs all das zu befehlen, was zu seiner Bequemlichkeit diene. Das Zeremoniell – das möge Herr Leibniz zur Kenntnis nehmen – sei in Herrenhausen das gleiche wie in Versailles. Wenn man Kleines mit Großem vergleichen dürfe. Jedenfalls brauche da Herr Leibniz, der sich im großen Paris innerhalb dieses Zeremoniells unbefangen bewegt habe, keine Belehrung. Es werde ihm auch nur mitgeteilt, damit er sich desto heimischer und ungezwungener fühle.
»Und mir, gestrenger Herr Rat, und all den anderen Edelleuten vom Hofe«, schloß der Baron mit einer Verbeugung, »wird es Ehre und Vergnügen zugleich sein, einen so hochbedeutenden Mann in seinen edlen Bestrebungen für unser geliebtes Vaterland zu unterstützen. Wir sind uns bewußt, daß es ein hochherziger Entschluß war, der eine solche Kraft uns allen zur Verfügung stellte. Und daß wir daher zu danken und nicht zu fordern haben. Dies kleine Zeichen aber als Begrüßung.« Und er überreichte Leibniz nach neuerlicher Verbeugung eine zierlich ziselierte Golddose, in deren Deckel das Wappen Hannovers eingestochen war.
Leibniz bedankte sich formell, aber äußerst herzlich. Die kleine Szene hatte sein Selbstbewußtsein ungemein gehoben, soweit es sich auf seine Stellung in dieser seiner neuen Heimat bezog. Ja, er war geradezu überrascht. So weit also ging die Vorliebe des Herzogs zu ihm, daß sogar die Edelleute es nötig fanden, dem zukünftigen Günstling ein Geschenk zu überreichen? Jetzt war mit einem Schlag alles anders. Denn Hannover wurde groß für ihn, groß und größer, je höher er stand. Jetzt galt es nicht mehr, sich persönlich durchzusetzen. Jetzt galt es, den unbeschränkten Wirkungskreis, der ihm geboten wurde, auszufüllen. Jetzt galt es die Sache und nicht mehr seine Person. Er stand mit dreißig Jahren im Mittelpunkt der Geschicke eines deutschen Staates. Und er würde diese Geschicke leiten, würde sie mit seinem Geist erfüllen, würde vorerst sanft wie eine Taube und klug wie eine Schlange, aus diesem Kraftzentrum heraus, das größere, das größte Deutschland in seinem Geiste dem Platze zuführen, auf den es zu stehen hatte.
Und er schloß seinen Dank an die Herren des Hofes mit einem rätselhaften Lächeln, das ihm die Tatsache abnötigte, daß auch er in französischen Sätzen vornehmsten Pariser Schliffes sprach, während eine zweite, tiefere Schicht seiner Seele deutscheste Gedanken dachte.