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Zwölf Jahre später durchschritt der Magister der Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz die Aula der Universität Leipzig und stieg gedankenbeschwert die Stiege zum Amtsraum des Rektors hinan. Die Eigenschaft, den Kopf zu senken, die schon dem Knaben eigentümlich gewesen war, hatte der Jüngling beibehalten. Er war wenig über mittelgroß, hatte jedoch breite Schultern und machte in seiner kräftigen Schlankheit durchaus nicht den Eindruck eines Bücherwurms oder Stubenhockers. Seine Tracht zeugte nicht von großer Wohlhabenheit. Sicherlich war sein schwarzes Studentenhabit sauber und korrekt, doch schien es aus alten ererbten Kleidungsstücken mühsam zusammengeschneidert.
Mit etwas ungelenken, lüpfenden Schritten kam ein andrer Magister über die Stiege herunter, der eine Hornbrille trug und offensichtlich weit älter war als Leibniz. Er grinste über das ganze verfältelte Gesicht, als er des Studienkollegen ansichtig wurde, und näselte:
»Gott zum Gruß, Herr Magister! Was führt Sie her? Wir haben einander weidlich lange nicht erblickt.«
Leibniz blieb stehen, reichte dem Kollegen freundlich die Hand und antwortete:
»Sie werden es aus eigener Erfahrung abschätzen können, wie viel Formalia wegen des Doktorats der Rechte zu erledigen sind.«
»Aus eigener Erfahrung?« Der Magister schien sehr verwirrt. »Ach gewiß!« Und er schlug sich übertrieben mit der Hand gegen die Stirne. »Ich bin selbst von Formalitäten völlig um die Klarheit gebracht. Natürlich weiß ich alles. Mein Promotionstermin ist in wenigen Wochen. Im November. Wie alt sind Sie eigentlich, Magister Leibniz?«
»Ein wenig über zwanzig Jahre.«
»Potztausend, ich bin eben einunddreißig geworden! Das wird ein junges Doktorchen, dieser Herr Leibniz, hihihi!« Und er kicherte erfreut darauf los.
Leibniz lächelte mit. Er war solche Bemerkungen von dem ein wenig schrulligen Magister Crusius gewohnt. Außerdem sah er die objektive Berechtigung der Worte ein. Denn es gab unter all seinen Mitbewerbern um den Doktorgrad keinen, der auch nur annähernd so jung war wie er.
»Nun, alles Gute zur Unterredung mit dem gestrengen Rektor Magnificus!« kicherte Crusius weiter. »Alles Gute! Ich muß in die Bibliothek. Man hat große Lücken in seinem Wissen trotz aller Sorgfalt.« Und er hatte schon Leibniz die Hand gegeben und stolzierte weiter über die Treppe hinab.
Leibniz sah ihm einen Augenblick nach. Er hatte trotz der Harmlosigkeit der Begegnung kein gutes Gefühl. Er konnte sich aber kaum Rechenschaft darüber geben, was ihn verstimmte. Wahrscheinlich war alles nur die begreifliche Hochspannung vor einer lebenswichtigen Entscheidung. So stieg er weiter die wenigen Stufen hinan, die ihn von dem gewölbten hellen Korridor trennten, der vor dem Allerheiligsten der Universität sich erstreckte.
Er erkundigte sich ein wenig hastig beim Diener und beim Sekretarius, ob er schon vorgelassen würde, und berief sich darauf, daß er zu dieser Stunde hieherbeschieden sei. Nach kurzer Zeit bedeutete man ihm, daß er sich noch werde gedulden müssen. Er möge auf einer der Bänke Platz nehmen.
Leibniz hatte es nicht anders erwartet. Gleichwohl überfiel ihn jetzt, noch heftiger als früher, üble Ahnung und Unruhe, die sich erst einigermaßen legte, als er, gleichsam zur Rechtfertigung vor sich selbst, seinen bisherigen Studiengang innerlich noch einmal überprüfte.
Er hatte, das war nicht zu leugnen, bisher in gewissem Sinne nur Mißerfolge aufzuweisen. Besser, Enttäuschungen. Oder eine arge Zerfahrenheit und manch Trübes und Drückendes. Einen Höhepunkt, einen Gipfel hatte er seit jener Prüfung durch den Oheim und seit der Erschließung der Bibliothek kaum erlebt. Vielleicht deshalb, weil er im ersten Rausch der Entdeckungen die Fülle des Wissens weit unterschätzt hatte, die aus diesen Bücherborden auf ihn einströmen würde. Und der Strom war gewachsen, war von Tag zu Tag angeschwollen, wie bei einem Dammbruch, wo zuerst das Wasser durch einen unscheinbaren Maulwurfsgang zu sickern beginnt und die Bresche dann breiter wird und das tosende Stürzen der Wasser nie aufhört.
Was ihn aber noch mehr beängstigte als die Fülle des Wissens, die ihn erstickend bedrohte, war der Umstand, daß er nirgends das fand, was ihm als das Wesentlichste schien. Es war einfach nicht vorhanden, fehlte in all der Literatur, die er bisher durchforscht hatte. Ansätze gab es viele. Ahnungen, Hinweise. Aber stets, wenn er schon mit Händen hatte nach den Lösungen greifen wollen, war die Erkenntnis irgendwohin abgebogen, verflacht, oder sie hatte sich in Abstruses verwickelt. Und alles – eine neue Beängstigung – alles, was den anderen leicht und selbstverständlich schien, bereitete ihm unüberwindliche Schwierigkeiten, während gerade das sogenannte Schwierige ihm blitzartig verständlich war.
Dadurch auch hatte bisher stets sein Verhältnis zu seiner Umgebung gelitten. Die Mitschüler hielten ihn für absonderlich, für ein Gemenge aus Mindertüchtigkeit und grenzenloser Anmaßung, die Lehrer, die an seinen Leistungen nichts auszusetzen fanden, erklärten ihn dagegen manchmal für einen phantastischen Wirrkopf, wenn er neue Wege, die sich ihm zwingend erschlossen hatten, ihnen mitteilen wollte.
Alles in allem hatte sich seine Lage gegenüber jenem ersten Zusammenprall mit Tilemann Bachusius kaum verändert. Die absolute Größe der Gegenstände war verändert, die Beziehungen und die Folgen waren die gleichen geblieben. In dunklen Stunden hatte er das Gefühl eines unentrinnbaren Schicksals, einer deprimierenden Bestimmung, an der aller Fleiß, alles Nachdenken, alle Erfahrung nichts ändern konnte.
In den ersten fünf Jahren nach jener mystischen Berufung in der Bibliothek des Vaters hatte er die Klassiker studiert. Hatte Cicero, Quintilian, Seneca, Plinius, Herodot, Xenophon, Platon und die großen Kirchenväter sich einverleibt, nachdem er volle Bestätigung erhalten hatte, daß eine wahrhaft deutsche Literatur nicht vorhanden sei. Wie ein Mensch unmerklich gebräunt wird, der in der Sonne wandelt, während er mit andrem beschäftigt ist, hatte er durch diese Beschäftigung eine gewisse Färbung nicht nur des Ausdrucks, sondern selbst der Gedanken angenommen. Als er sich dann an Neuerem versuchte, kam ihm alles ohne Anmut, ohne Kraft und Mark vor. Ja, sogar ohne Nutzen für das wirkliche Leben.
Äußerer Abschluß dieses ersten Vorstoßes in die Reiche des Geistes war ein sogenannter »Erfolg«, ein Grundsatz und eine Entdeckung.
Der »Erfolg« hatte dem Dreizehnjährigen am Vorabend des heiligen Pfingstfestes anno 1659 gelächelt. An Stelle eines plötzlich erkrankten Mitschülers galt es, das Festgedicht zu rezitieren, und er brachte es zuwege, vom Morgen bis zum Mittag dreihundert lateinische Hexameter zu verfassen und diese zur Verblüffung aller vorzutragen. Gleichwohl hatte sich an diesen Erfolg ein trübes Kielwasser von Verdächtigung, Hänselei und Neid geheftet, das er noch lange hinter sich hatte herschleppen müssen.
Der Grundsatz aber, den er den Klassikern verdankte, war sein Wille, von nun an bei den Worten und den übrigen Zeichen der Seele stets die Klarheit, bei den Dingen aber den Nutzen zu suchen. Klarheit sei Grundlage des Urteils, Nutzen Grundlage der Erfindungskraft.
Die Entdeckung schließlich mündete in dunkle Abgründe des Geistes, die noch Jahrhunderte später nicht aufgeklärt werden sollten. Und hatte zum Gegenstand einen uralten Traum des Menschengeschlechts, wieder einmal Fleisch geworden in der unheimlichen Riesengestalt des magischen Ramon Lull, der auch Raimundus Lullus genannt wurde. Dieser Magier, der einst, wie die Sage ging, vor seiner Erleuchtung ein heißes, wildes Leben geführt hatte, war einst an ein Weib geraten, das ihn in jeder Hinsicht berückte. Er gewann ihre Liebe, gewann ihren Leib. Konnte es aber trotz aller Bitten nicht erreichen, daß sie sich vor ihm schrankenlos enthüllte. Aufgepeitscht durch diesen Widerstand, hatte er ihr einmal in sinnloser Gier die Kleider zerrissen und hatte erblickt, daß die Brust des Weibes von einem gräßlichen Geschwür zerfressen war. Dieses Erlebnis hatte genügt, den Unseligen nach Jahren furchtbarster Pein in die Höhe des reinen Geistes zu treiben und seiner Seele jene unheimliche Zauberei einzuflößen, die als die »lullische Kunst« ebenso bekannt als unerforscht ist. Den Versuch nämlich, ähnlich der Mathematik, für alles Geistige ein Kalkül, eine Rechenmethode zu ersinnen, mit deren Hilfe man alles erschließen könnte, was nur irgendwie dem Geist zugänglich ist. Eine Ars inveniendi, Kunst des Erfindens und Entdeckens.
Fiebernd und von Scheinerfolgen geblendet, wieder zurückgeschlagen durch Enttäuschung und Fruchtlosigkeit, war der Knabe in den Spuren Ramon Lulls gewandert, bis er die Konzeption eines Alphabets der Gedanken gefaßt hatte, eines Alphabets der einfachsten Begriffe, aus denen man dann, gleich Worten, alles Verwickeltere durch Kombination zusammensetzen könnte. Und er hatte sich in diese Ideen so sehr verbohrt, daß er eines Tages, als er schon Wesentliches gewonnen glaubte, durch eine zweite Entdeckung fast um den Verstand kam. Er erfuhr nämlich, daß er bei seinen Bemühungen einen Teil der längst bekannten Logik aus sich selbst heraus begründet hatte.
Verzweifelt und angezweifelt von seinen Erziehern, die das Sprunghafte seines Wesens nicht begriffen, hatte er sich in theologische Dispute gestürzt. Er las Laurentius Valla, Luther, die Jesuiten und alles andre, was er erreichen konnte.
Ein äußeres Ereignis war ihm zustattengekommen. Zu Ostern des Jahres 1661, also mit fünfzehn Jahren, hatte er die Universität zu Leipzig bezogen und hatte vorerst Philosophie als Fach gewählt. Dadurch war sein eigenes selbständiges Forschen halbwegs in einen Gleichklang mit dem gekommen, was jetzt seine äußere Studienpflicht darstellte. Und es drang die Geometrie Euklids auf ihn ein, er lernte die Scholastiker und Aristoteles kennen, und wie eine sündhafte Lockung des Wissens trat Cartesius, der erst jüngstverstorbene Neuerer, in seinen Gesichtskreis. Und mit ihm schoß der Strom der Mechanik und Naturphilosophie durch die einmal geschlagene Bresche. Von Zahlen bis zu den Sternen: Baco, Campanella, Cardanus, Kepler, Galilei. Und es geschah einmal, daß Leibniz in einer körperlichen Vision alle die Geister, die er gerufen hatte, um sich fühlte, daß plötzlich von allen Seiten Stimmen tönten. Und daß er alle diese großen Lehrer des Menschengeschlechts erblickte und sie ihm Rede und Antwort standen. Von diesem Augenblick, der ihm wieder fast den klaren Verstand gekostet hätte, nach dem er tagelang wie leer und verbrannt umhergewankt war, hatte er sich, als Beruhigung eingetreten war, in den Kreis der Großen des Geistes aufgenommen gefühlt. Wenn er auch in nüchternen Stunden gezittert hatte und sich der Möglichkeit keineswegs verschloß, daß er wirklich nicht mehr sei als das, wofür ihn mit Ausnahme der Mutter und des toten Vaters alle hielten: ein reichlich talentierter, reichlich unsteter und reichlich überspannter junger Mensch, der in so frühen Jahren leider schon zur Absonderlichkeit zu neigen schien.
Nach kaum zweijährigem Studium an der Universität hatte er mit siebzehn Jahren durch eine Dissertation »über das Prinzip des Individuums« den Grad eines Baccalaureus der Philosophie erworben. Dieses Erreichen des ersten akademischen Grades aber hatte sogleich neue Unruhe in ihm erzeugt und ihn auf ein andres Gebiet geschleudert. Er war Jurist geworden und hatte Leipzig für ein Semester den Rücken gekehrt.
Die Universität Jena jedoch stürzte ihn in neue Wirrnisse. Er versäumte es zwar nicht im mindesten, seine Jurisprudenz gewissenhaft zu hören und in sich aufzunehmen. Daneben aber geriet er in den Bann des Polyhistors und Mathematikers Erhard Weigel, der sich wohl von allen Lehrern der damaligen Hochschulen mächtig unterschied. Trotz seiner ungeheuren Gründlichkeit machte dieser durchaus nationale und revolutionäre Mann das ganze Schulwissen der Zeit lächerlich. Behauptete er doch schlankweg, daß aller Spuk der Scholastik verfliege, wenn man all die feinen Unterscheidungen in rechte deutsche Worte fasse. Und er zwang mit polternder Lebendigkeit seine disputierenden Schüler, jeden Streitfall in der Muttersprache auszutragen, was tatsächlich nicht selten die Hohlheit überspitzten scholastischen Wissens zutage förderte. Leibniz nun, der sich schon seit Jahren seinen Kopf an den Subtilitäten der großen Scholastiker, eines Zabarella, Rubius, Fonseca, Suarez zermartert hatte, war zuerst geneigt, dieses Gehaben für unwürdig und schrullenhaft zu halten. Er war erst stutzig geworden, als er die ungeheuren Kenntnisse des bieder-derben Weigel bemerkte und als ihm das Gerücht zu Ohren kam, der große berühmte Samuel von Pufendorf habe seine »Elemente des Naturrechtes« geraden Weges aus den Kollegienheften Weigels ausgeschrieben.
Gab es also vielleicht doch etwas wie eine Selbstüberhebung der Wissenschaft? Orgien der bloßen Form? Selbstverschuldete Wesensfremdheit der Gelehrten? In mancher schlaflosen Nacht hatte der Jüngling den Besitz, den er bisher am höchsten gehalten, zerbröckeln gefühlt, hatte den »Plunder der Scholastik«, wie Weigel es nannte, in Rauch aufgehen gesehen, wenn er die Streitfragen in deutscher Sprache zu überdenken begann. Und trotz seines Schmerzes, trotz seiner Verwirrtheit, trotz der inneren Forderung, jetzt manches, wenn nicht alles, neu beginnen zu müssen, hatte er sich am Ende bestätigt gefunden. Vielleicht hatte ihm Erhard Weigel, dieser sonderbare »Bildungsverächter«, den Weg gezeigt, dorthin vorzudringen, wo er sich bisher verlassen und unbefriedigt gesehen hatte.
Jedenfalls war er im Herbst 1663 verwandelt nach Leipzig zurückgekehrt, hatte sich sogleich auf das praktische Studium der Rechtswissenschaft geworfen, das ihm ein Freund, der Assessor beim Hofgericht in Leipzig war, ermöglichte. Schon nach kurzem aber hatte er bemerkt, daß ihn nur der Richterberuf anzog. Den Ränken der Advokaten beschloß er zeitlebens entgegenzuarbeiten.
Wenige Monate später, als er eben, nach rasender Arbeitslast, durch eine Dissertation über die Notwendigkeit der Philosophie in der Rechtswissenschaft den Grad eines Magisters, den zweiten akademischen Grad, erreichte, hatte er seine Mutter verloren. Eine gläserne Stille war über ihn gekommen, eine Zerrissenheit sondergleichen. Jetzt hatte er erst den tiefsten Sinn der Lehren Weigels erblickt: Die winzige Kleinheit alles Grübelns den wahren Mächten des Lebens gegenüber. Trotzdem trieb ihn eine andre Region seiner Erkenntnis weiter und weiter. War die Not Deutschlands schon vollkommen gelindert? Zeigten sich Ansätze zu wahrhaft deutschem Geistesschaffen? War nicht vielleicht eben Weigels Lehre ein Weckruf für deutsches Wissen? Nein, alles war wichtig, alles groß und klein zugleich. War der Tod eines Menschen etwas Ungeheures, dann war auch das Leben und Schaffen eines Menschen etwas Riesiges, konnte es wenigstens sein. Denn der Verlust eines Dinges kann nicht größer sein als sein Inhalt. Und wies der Einzelne nicht noch weit über sich hinaus als Teilchen einer größeren Gesamtheit, der Nation, ja der Menschheit? Mußte der Einzelne nicht in der Richtung handeln, die für die Allgemeinheit die beste und fruchtbarste war ?
Genug. Es blieb der Schmerz um die sanfte, kluge, gütige Mutter, blieb das gräßliche Gefühl des Verwaistseins. Gleichwohl hatte es keinen Stillstand gegeben. Zwischen Erbschaftsschikanen mit entfernten Verwandten, die er als Sachverwalter seiner Stiefgeschwister und seines jüngeren Schwesterleins auszufechten hatte, waren die Studien, den eigenen Gesetzen folgend, weitergerast. Sein Körper war abgemagert, seine Wangen eingefallen, seine Augen glommen in flackerndem Glanz. Zugleich hatte er den Versuch unternommen, sich einen Platz in der philosophischen Fakultät durch tiefreichende Dissertationen »über die kombinatorische Kunst« zu erringen und den Doktorgrad der Rechtswissenschaft zu erreichen, der ihm für nahe Zeit den notwendigen Brotverdienst sichern sollte. Denn das Erbteil, das ihm zugefallen war, konnte nicht für lange reichen. Und die juristischen Dissertationen lagen fertig ausgearbeitet bereit.
Und nun saß er hier auf der Bank vor der Kanzlei des Rektors und erwartete die letzte Entscheidung, an deren günstigem Ergebnis er eigentlich nicht zweifeln konnte. Denn er hatte sich weder einer Protektion noch eines Schleichweges bedient. Und seinen Vorteil nur insofern wahrgenommen, als er aus seiner großen Jugend Kapital schlug. Zur Erklärung seines Planes sei darauf hingewiesen, daß damals die juristische Fakultät zu Leipzig außer den Professoren aus zwölf Assessores oder Beisitzern bestand, die sich fast gar nicht mit Vorlesungen und Prüfungen beschäftigten. Die Tätigkeit der Beisitzer war vielmehr eine praktische. Sie hatten Rechtsgutachten und Rechtsbelehrungen zu erteilen, aus denen sie neben ihrer Besoldung ein oft ansehnliches Einkommen zogen. Alle Doktoren der Universität hatten nun das Recht, Beisitzer zu werden, und zwar konnte jeder Doktor genau in der Reihenfolge des Promotionsdatums einrücken, wenn eine Stelle durch Tod, Auswanderung oder Niederlegung erledigt war. Da nun durch den Krieg, der viele junge Männer um Leben oder Studium gebracht hatte, die meisten Beisitzer in hohem Alter standen und sich außerdem Berufungen an andre Universitäten oft ereigneten, war für Leibniz, der zudem nur wenige Vordermänner hatte, die begründete Hoffnung gegeben, in sehr jungen Jahren eine Stelle als Beisitzer zu erreichen. Daran, daß er sich in diesem theoretischen Beruf bewähren würde, zweifelte er nicht. Zumindest hatte er sein Brot und eine Arbeit, die er spielend in wenigen Tagesstunden würde erledigen können.–
Er wartete noch einige Zeit, bis ihn der Sekretarius aufrief und zum Rektor hineingeleitete.
Dieser, ein alter trockener Gelehrter, bot ihm mit sehr herablassender Handbewegung einen Sitz an und blickte dann zum Fenster in die graue Herbststille hinaus. Dann räusperte er sich und begann langsam, mit schulmäßiger Betonung:
»Sie haben, soviel ich den Actis entnehme, sehr werter Herr Magister Leibniz, um die Zulassung zur Promotion zum Doktor beider Rechte angesucht. Und haben nachgewiesen, daß Sie alle Erfordernisse und Formalien für die Gewährung dieses Ersuchens erfüllt hätten. Ist es richtig, was ich sagte?«
»Gewiß, Magnifizenz«, erwiderte Leibniz leise und gedankenlos, da ihm derartige Einleitungsfloskeln nicht weiter auffällig erschienen.
»Sie haben dabei«, der Rektor trommelte mit den Fingern auf den Tisch, »nur eines nicht in Rechnung gezogen, Herr Magister. Ich meine Ihr mehr als jugendliches Alter.«
»Es gibt doch keine Altersgrenze, soweit ich unterrichtet bin, Magnifizenz«, stieß Leibniz hastig und erschrocken hervor.
»Im allgemeinen nicht!« Der Rektor hatte sich erhoben wie ein Richter, der ein Urteil verkündet. »Es ist Ihnen aber ebenso bekannt wie mir, Herr Magister, daß die Universität und die Fakultät autonom sind. Daß sie also dort, wo das geltende Universitätsrecht Lücken aufweist oder sich Härten herausstellen, Recht schaffen und geltendes Recht auslegen kann. Zweifeln Sie an diesen Sätzen, Herr Magister?«
Das Antlitz des Jünglings hatte sich fleckig gerötet. Er wußte zwar noch nicht, was für Hindernisse seinen Plänen drohten, daß aber Hindernisse drohten, war nicht mehr zu verkennen. Wahrscheinlich wollte man seinen Promotionstermin ein wenig hinausschieben, um ältere Bewerber zu beschwichtigen. Vielleicht war es nur ein sozusagen optischer Effekt, der erzielt werden sollte. Jedenfalls mußte er sich wehren. Auch er war aufgestanden und sagte verhalten, wenn auch die Erregung durchklang:
»In duvio pro reo! Im Zweifel ist jede Auslegung zugunsten des Angeschuldigten oder des zu Verurteilenden vorzunehmen. Ich bitte um diese allgemein gültige Rechtswohltat.«
»Ich war auf solche Sprüche gefaßt«, erwiderte der Rektor wegwerfend. »Wer aber ist hier der zu Verurteilende? Sie sehen Ihre Angelegenheit sehr subjektiv, Herr Magister. Nicht als Richter, sondern als stürmische Partei.«
»Ich bin in diesem Falle aus der Natur der Sache Partei.«
»Aus eben derselben Natur der Sache gibt es eine Gegenpartei. Ich werde Ihnen jetzt den Fall erklären. Durch die Not des Krieges und seiner Folgen sind Zustände in der Fakultät eingetreten, die nicht als normal bezeichnet werden können. Viele Knaben haben ihr Studium zu spät begonnen, sind durch Armut der Eltern aufgehalten worden, mußten auf frühen Broterwerb ausgehen. Faktum ist es, daß der jüngste Bewerber außer Ihnen, Herr Magister, der für den nächsten Termin vorgemerkt ist, achtundzwanzig Lebensjahre zählt. Hinter Ihnen im Studium aber stehen eine Unzahl Magistri mit sechsundzwanzig, fünfundzwanzig, vierundzwanzig Jahren. Diese alle würden durch Sie, den Zwanzigjährigen, übersprungen werden für Lebenszeit. Nun hat die Bestimmung, daß die Doctores nach dem Datum der Promotion in die erledigten Stellen der Beisitzer aufrücken können, seit jeher den Sinn und die Absicht gehabt, daß der Ältere vor dem Jüngeren zum Zuge kommt. In normalen Zeiten gab es auch im Promotionsalter nur dann Unterschiede, wenn ein Bewerber aus Faulheit zurückblieb. Die Unterschiede heute aber sind nicht selbstverschuldete, sondern sie sind Folgen großer Not und des großen Krieges. Deshalb haben alle älteren Kollegen, als sie von Ihrem Gesuch hörten, durch Magister Crusius, den Senior dieser Unglücklichen, bei uns petitioniert. Die Fakultät hat sich den Beschwerden Ihrer Kollegen angeschlossen. Die wohlerwogenen Gründe habe ich Ihnen schon mitgeteilt. Und ich bringe Ihnen hiemit zur Kenntnis, daß Ihre Promotion zum Doktor der Rechte nach diesem Fakultätsbeschluß erst stattfinden darf, bis der letzte Magister, der an Jahren älter ist als Sie, den Doktorhut trägt. Sie müssen sich also gedulden, Herr Magister. In etwa drei bis vier Jahren dürfte kein Hindernis mehr obwalten.«
»Ist dieser Beschluß inappellabel?« fragte Leibniz heiser.
»Er hat meine Billigung. Ich wüßte nicht, wer noch über dieses Internum der Universität entscheiden sollte. Sie scheinen uns für ungerecht zu halten, Herr Magister. Vergessen aber dabei Ihre eigene große Ungerechtigkeit.«
»Ich danke für diese Belehrungen!« Leibniz konnte sich nicht mehr halten. Dann aber, als ihm zum Bewußtsein kam, daß sein Plan endgültig gescheitert war, da er durch die Intrige der älteren Kollegen, die durchaus nicht allein aus Not ihre Dissertationen vernachlässigt hatten, mindestens dreißig neue Vordermänner bekam, setzte er ironisch hinzu:
»Die Not Deutschlands, Magnifizenz, erfordert sehr verschiedene Maßregeln. Jeder muß das mit seinem Gewissen abmachen. Ich für mein Teil habe soeben beschlossen, meinem Vaterland dort zu dienen, wo man diese Dienste wirklich wünscht.«
»Eine Drohung, die unsre wohlerwogenen Entschlüsse kaum erschüttern wird. Sie sind jedenfalls sehr selbstbewußt, Herr Magister, wenn nicht gar anmaßend. Ihr seliger Herr Vater, der eine Zierde unsrer Universität war, hätte wenig Freude über die Einsichtslosigkeit und den hochfahrenden Ton seines Sprößlings, der seine gewiß hohe Begabung als Freibrief für alles in die Wagschale werfen möchte, was den Gemeingeist verletzt. Überlegen Sie sich ihre Schritte. Wie gesagt, in drei bis vier Jahren. Und nun sind Sie für heute entlassen.«
Für heute? Leibniz lachte beinahe auf. Er wußte es so deutlich, daß sich nie mehr daran etwas ändern konnte: Seine Vaterstadt hatte ihn ausgestoßen. Hatte ihn mit ölglatten, moralisierenden Phrasen um den verdienten Preis seiner ungeheuren Mühe gebracht. Sollte er aus dieser einen Tat auf sein ganzes Verhältnis zu den Menschen schließen?
Plötzlich raunte ihm eine innere Stimme das Wort Schicksal zu. Und als er die Türe der Kanzlei hinter sich schloß, wußte er, daß hier eine höhere Macht die Mitbürger zur Ungerechtigkeit verblendet hatte. Denn schon lange brannte sein Geist, größeren Ruhm in den Studien der höheren Wissenschaften zu erlangen. Die Kenntnis fremder Länder und die Mathematik lockten von ferne. Hier, in Leipzig, wäre vielleicht Erstarrung eingetreten. Lahme Flügel des Geistes. War das alles nur kindischer, verzweifelter Selbsttrost? Er wußte es nicht. Zwischen Lachen und Weinen taumelte er die Stiege hinab ins Freie.