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Drittes Kapitel

Die Prüfung

Ais er nach kurzer Zeit mit dem Knaben ins Zimmer zurückkam, war dieser noch um einen Schatten blasser als vorhin. Der Onkel, der aus Ritterlichkeit jede Beeinflusung vor der Prüfung vermeiden wollte, hatte kaum ein Wort zu ihm gesprochen und nur die beiden ominösen lateinischen Bücher verlangt, die er nun in der Hand hielt.

Was jetzt eigentlich mit ihm geschehen würde, wußte der kleine Leibniz nicht. Er war durch das Warten, das sich ihm in der Einbildungskraft zu Stunden gedehnt hatte, zermürbt und konnte außerdem aus der Miene des Edelmanns nichts erschließen. Wahrscheinlich würde man ihm die Bücher wegnehmen, ihn gar vielleicht strafen oder schelten. Allem Anschein nach war er zurückgeworfen in die Öde des auf das Mittelmaß zugeschnittenen Unterrichts, wurde zu Büchern verdammt, von denen er schon alles auswendig wußte, was erst im folgenden Jahr gelehrt werden würde. Er kämpfte mit übermächtigen Tränen, als er im Zimmer stand.

Wieder vergingen durchschwiegene bange Sekunden. Weder die Mutter noch der Lehrer sahen ihn an. Der drehte ihm sogar den schmalen, steifen Rücken.

Plötzlich sagte der Edelmann sehr sachlich und beinahe kalt:

»Setz dich an den Tisch, Gottfried. Hier sind die Bücher. Wir wollen uns von deinen Kenntnissen überzeugen. Du bist selbst schuld daran, daß wir dich prüfen müssen. Flunkerei wird in unsrer gelehrten Familie nicht geduldet. Nicht einmal bei Kindern. Dein Vater war ein berühmter Gelehrter, ebenso der Vater deiner Mutter. Also jetzt gilt's!«

Schon während dieser Worte hatte er den »Thesaurus« und den Livius dem Knaben zugeschoben. Mit Gottfried Wilhelm aber war eine gewaltige Wandlung vorgegangen. Blut war in seine Wangen geschossen, die Augen hatten zu leuchten begonnen, als er das Wort »prüfen« vernahm. Jetzt war er auf den Boden der Leistung gestellt, jetzt war er der Willkür entrückt, hatte das Schicksal wieder in der Hand. Und er antwortete hell:

»In welcher Art soll ich über diese Bücher Auskunft geben? Ich kenne beide genau. Von der ersten bis zur letzten Seite.«

»Dann irgendwo aus der Mitte.« Der Edelmann sagte es ebenso kühl wie früher. Er schlug den Livius auf. »So, hier. Du wirst diese Stelle lesen, übersetzen und ihren Zusammenhang erläutern. Soweit du ihn aus dem Buch entnehmen konntest. Daß du ein vollendeter Historicus bist, verlangt man nicht.«

Da lächelte der Knabe. Nicht etwa eitel und selbstgefällig. Nein, verklärt und hingegeben. Und begann leise zu lesen, wobei er sich zwar manchmal in der Betonung der Worte irrte, im allgemeinen aber schon den Eindruck erweckte, als lese er eine ihm durchaus bekannte Sprache. Und fast ohne Übergang sprach er deutsch. Auch hier gab es Worte, die er anscheinend nicht hatte enträtseln können. Aber der Sinn, den er ihnen gab, wich so wenig von ihrer richtigen Bedeutung ab, war zumindest stets so logisch, daß ein nur etwas flüchtiger Zuhörer die Fehler überhaupt nicht bemerkt hätte. Und plötzlich begann er zu erzählen und zu erläutern, plauderte über Numa Pompilius, Tullus Hostilius und Tarquinius Priscus, über Hannibal und Hamilcar, über den Übergang der Carthager über die Alpen. Er wußte, daß ein erklecklicher Teil des Livius verlorengegangen sei, daß zwischen den einzelnen erhaltenen Büchern oft Jahrhunderte lägen und nahm plötzlich den »Thesaurus« zur Hand, aus dem er zur Ergänzung einige Stellen vorlas, übersetzte und erläuterte.

Selbst der gestrenge Magister geriet in den Bann dieser Gründlichkeit. Er hub an, das Gespräch als wissenschaftliche Kontroverse zu werten, vergaß, warum er gekommen war, warf Fragen ein und gab eigene Meinungen zum besten. Bis sich plötzlich, von allen in ihren Anfängen kaum bemerkt, die Groteske ereignete, daß der Knabe, der Lehrer und der Edelmann in lateinischer Sprache disputierten.

Der freundliche Spuk wurde erst gestört, als die Mutter, der ja solcherlei Gespräch an sich nicht fremd war, in einer Wallung von Stolz und Staunen dem Söhnlein über den Kopf strich und im Tone sanften Vorwurfs sagte:

»Deine Wangen glühen schon, Gottfried Wilhelm. Ich denke, jetzt ist es genug. Du überanstrengst dich am Ende, mein Kind.«

Der Edelmann, der sich der Lage mit einem inneren Ruck bewußt ward, lachte freundlich schmetternd auf. Und da erwachte auch der strenge Lehrer:

»Es ist zuviel! Quo usque tandem?« schrillte er entsetzt. »Wo hinaus will noch das Bürschchen? Ein häßliches Mirakel. Er wird zugrunde gehen. Nicht das erste Wunderkind, das elendiglich scheitert. Principiis obsta. Rottet das Übel bei der Wurzel aus. Noch ist es Zeit. Der Teufel versucht ihn. Förmlich an den Wänden hört man das diabolische Principium scharren ...«

»Halt, mein Werter!« dröhnte der Edelmann. »Jetzt ruf ich Ihnen zu: quo usque tandem. Laßt mir den Teufel fein aus dem Spiel! Und antwortet mir als Mann von Ehre, Vernunft und Einsicht, als jener berühmte Erzieher Tilemann Bachusius, den alle wegen seiner hohen Gerechtigkeit schätzen: Hat also der Schüler Leibniz geflunkert oder hat er die Wahrheit gesprochen?« Und er packte den Magister mit blitzenden Raufboldaugen.

Der aber war durch Drohung und Schmeichelei in mächtige Verwirrung gestürzt. Eine Wirrnis, aus der er sich, anständig wie er in der Tat im Innersten war, nur durch Ehrlichkeit retten konnte.

»Ich gab ja zu, daß es ein Mirakel ist.«

»Aber kein häßliches, noch viel weniger ein diabolisches.«

»Das habe ich nicht so gemeint. Ich fürchtete für die Gesundheit des Jungen. Selbst die Giganten konnten nicht den Olymp stürmen, wiewohl sie den Pelion auf den Ossa türmten. Und der Schüler Leibniz ist dem Corpori nach alles eher denn ein Gigant.«

»Dieses Thema wollen wir ein andermal erörtern, gestrenger Magister.« Der Edelmann sprach sehr sanft.

Doch das machte den Lehrer wieder ausfallend:

»Und dann wird er mir die disciplinam in der Schule usque da finem, bis zum letzten Rest ruinieren. Was soll ich fürderhin mit solchem räderschlagenden Pfau in meinem stillen Hühnerhof beginnen?«

»Er wird keine Räder schlagen, das ist abgemacht. Damit du es weißt, Gottfried: Ohne Aufforderung eines Lehrers hast du jedes über das Maß des Unterrichts hinausreichende Mehrwissen in der Schule für dich zu behalten. Talent ist eine Gnade Gottes, aber kein Anlaß zu Hoffart oder Vordringlichkeit. Unter dieser Bedingung hat dir der Herr Magister verziehen. Du versprichst es ihm an Eides Statt.«

Bachusius erhob sich geräuschvoll. Es war ihm zwar fast alles ungelegen und peinlich, was sich da entwickelt hatte. Aber er sah keinen gangbaren Weg mehr, neue Bedingungen zu stellen, ohne entweder den wahrscheinlich einflußreichen Edelmann herauszufordern oder den Schüler zu verlieren, den er bei nächster Gelegenheit dem »stillen Hühnerhof« drohend als Exempel von wahrem Fleiß vorhalten konnte.

So zog er sich schlau aus der Schlinge, indem er, plötzlich in fast flötendem Tone, sagte:

»Das Versprechen des Schülers ist mir unerläßlich. Ganz unerläßlich. Ich vertraue ihm auch, denn der Schüler Leibniz hat, bisher wenigstens, moralischen Sinn gezeigt. Darüber hinaus aber war es meine Pflicht zu warnen, damit nicht der begreifliche Verwandtenstolz vorzeitig eine vielversprechende Knospe der Wissenschaft knicke oder sie durch den Frühreif der Überanstrengung zum Welken bringe.« Dabei wurde er rot vor Stolz über das einzigartige Wortspiel der beiden Bedeutungen von »frühreif«. »Ich empfehle mich in aller schuldigen Ergebenheit«, setzte er wieder schrill fort. »Ich verzeihe ausnahmsweise zum letztenmal dem Schüler seinen Vorwitz und seine Prahlsucht. Ausnahmsweise. Es war mir eine Ehre. Bitte, alle Erregung meinem Pflichtgefühl zugutezuhalten.« Und er machte seine eckigen Verbeugungen, warf dem kleinen Leibniz noch einen gewollt drohenden Pädagogenblick zu und stolzierte von Catharina Leibniz begleitet, hinaus.

Als die Mutter zurückgekommen war, sagte der Edelmann: »Jetzt zum zweiten Teil meines Eingriffes in die Erziehung Gottfrieds. Sag mir einmal ehrlich, Knirps, ob du bei deinen Privatstudien große Anstrengung fühltest ?«

»Anstrengung?« Die Verständnislosigkeit, mit der der Knabe antwortete, war fast erheiternd.

»Was also dann?«

»Was ich fühlte?« Der Knabe sann ein wenig vor sich hin. »Ich kann es nicht so genau nennen. Manchmal war es wie ein Zwang, der mich trieb, manchmal Freude, wie wenn man im Rosental einen neuen Schmetterling oder Käfer findet, manchmal ein stilles Glücklichsein, wie wenn mir die Mutter die Hand auf den Kopf legt. Manchmal auch Stolz und Übermut, Angriffslust, wie wenn ich mit den anderen Jungen balge. Nie aber Mühe. Nein, ich schwöre es. Nie, nie, niemals!«

»Ich glaube es dir, ich habe es selbst gesehen, wie leicht es dir fällt. Und darum nehme ich es auf mich deine Mutter zu bitten, dir die Bibliothek des Vaters zu öffnen. Ich sah sie, bevor du kamst.«

»Die Bibliothek des Vaters?« Der Knabe preßte es heiser und sinnlos erregt hervor. Dann sprang er auf und umklammerte, am ganzen Körper zitternd den Edelmann. Tränen begannen aus seinen Augen unaufhaltsam über die Wangen zu kollern, sein Gesicht bedeckte sich mit fleckiger Röte. »Sag es noch einmal«, keuchte er. »Sag es noch einmal. Es kann nicht wahr sein.«

»Gott will es. Base Catharina«, erwiderte feierlich und dröhnend der Edelmann. »Du siehst es, liebe Base, daß Gott es will. Ich nehme die ganze Verantwortung auf mich.« Und er streichelte den Jungen, der noch immer zitterte und schluchzte. Dann sagte er hart: »Es ist Besessenheit, liebe Base. Unaufhaltsame Besessenheit. Nicht aber vom Teufel, sondern vom heiligen Geist. Er segne dich, mein Kind.«

Tiefes Schweigen lag lange über den dreien, während Abendröte langsam das Zimmer zu erfüllen begann. Endlich erhob sich die Mutter leise und ging hinaus. Als sie wieder hereinkam, legte sie vor Gottfried Wilhelm, der jetzt still auf seinem Sessel saß, einen großen Schlüssel mit krausem Bart hin. Dann flüsterte sie:

»Mögest du dieses Erbe deines seligen Vaters heute antreten. Er wird bei dir sein, mein Kind, wenn du seine Bücher in die Hand nimmst, die er so liebte und oft nur durch große Entsagung erwarb. Es sei dein Glück mein Kind.« Der Knabe aber preßte den kalten Schlüssel an sein wild pochendes Herz.

 


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