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Aus London, in dem er die wichtigsten geistigen Entscheidungen hätte abwarten sollen, war Leibniz seinerzeit nach einer Woche fast geflohen, um nicht zu spät in Hannover einzutreffen. Und nun saß er schon mehr als einen Monat hier in Holland fest und sandte einen Beschwichtigungsbrief nach dem anderen an Herzog Johann Friedrich, der es nicht unter seiner Würde gefunden hatte, ihn im Verlauf einiger Jahre nicht weniger als dreimal zu berufen. Und ihm trotz spröden Ablehnungen durch ein bedeutendes Geldgeschenk die Muße der letzten Pariser Jahre gesichert hatte.
Er würde ja kommen, er hatte ja die dritte Berufung, die ihn zum Bibliothekar und zum Rat des Herzogs machte, schon vor Jahresfrist angenommen. Konnte er aber aufrichtig seinem künftigen Herrn melden, was diese letzten Wochen neuerlicher Verzögerungen bedeuteten ?
Leibnizens Wangen waren von seltsamer Unrast gerötet, als er, eben mit sorgfältigster Toilette fertig geworden, an seinem Tisch in einem Gasthof im Haag saß und in fliegender Eile die Schlußsätze eines Briefes an den Herzog hinwarf: Er wisse es und gestehe es ein, daß keine erklärbare Ursache diese hoffentlich allerletzte Verzögerung rechtfertigen könne. Er habe in Paris seine mathematischen Studien bis zu einem Grenzpunkt vorgetrieben, dessen sichtbarer Erfolg voraussichtlich schon ein (wenn auch bescheidenes) Ruhmesblatt des Hauses Hannover bilden werde, da ihm je die Munifizenz des Herzogs und hochseine unglaubwürdige Nachsicht und Geduld zu diesem letzten Vorstoß in die Geheimnisse der Mathematik die reale Unterlage geboten hätten. Dann habe er sogar, um den Herzog nicht zu erzürnen, eine neue große Aufgabe, die Sichtung und Herausgabe der nachgelasssenen, erleuchteten mathematischen Aufzeichnungen des Blaise Pascal im Stiche gelassen. Er habe auch in London nur das allernotwendigste erledigt. Jetzt aber, in Holland, sei er durch all die Jahre des Suchens und Wanderns so sehr in Verwirrung geraten, daß er sich buchstäblich fürchte, in diesem Zustand dem neuen Herrn, der von ihm einiges Überdurchschnittliche erwarte, vor die Augen zu treten. Er glaube aber doch, in einigen wenigen Tagen so weit zu sein, die innere Sammlung wieder zu finden und als der Leibniz in Hannover zu erscheinen, den der Herzog in seiner großen Nachsicht würdig gefunden hatte, zu sich zu rufen...
War das nun alles Lüge, waren das Ausflüchte, waren es verschleierte und verzerrte Wahrheiten ? Oder stand hinter all dem doch nur der große Spinoza, zu dem er jetzt in einer Stunde endlich würde vordringen können? Warum hatte er nicht mit gleicher Hartnäckigkeit den gewaltigen Isaac Newton gesucht, hatte nicht einmal eine Antwort auf seinen grundlegenden Brief abgewartet, den er von London aus an Newton gerichtet hatte? Warum das alles ?
Und Leibniz suchte in rasender Gedanken- und Bilderflucht nach den wahren Gründen und Abgründen, während er den Brief an den Herzog siegelte und seinem Diener kurze Weisungen gab.
Die Wurzeln von all dem, was jetzt geschah, lagen weit zurück. Ließen sich bis in seine Jugend, bis in die Kindheit, bis zu einem entscheidenden Spaziergang, den er als fünfzehnjähriger ins Rosental bei Leipzig unternommen hatte, zurückverfolgen. Es war nicht jener erste fluchtartige Ausbruch ins Leben gewesen, der ihn durch das Rosental zur knarrenden Windmühle geführt hatte. Ein viel späterer, viel ruhigerer, nichtsdestoweniger jedoch ebenso entscheidender Spaziergang war es gewesen. Ein Weg, auf dem er den furchtbaren Zwiespalt aller Philosophie erkannt hatte.
Die wunderbare Denkmaschine der Mathematik, ihr lichtes Reich der Formen und Größen hatte jetzt für viele Jahre den dämonischen Antrieb der Erforschung letzter Fragen überdeckt und überlagert. Hatte ihn durch das Spiel der unfehlbaren Notwendigkeit des mathematischen Ablaufes auf sicheren Boden gestellt und eine Scheinruhe erzeugt, aus der er schon auf der Überfahrt von England nach Holland erwacht war. Die Dämonen folgten ihm. Man konnte sie einschläfern, konnte sie zu Jahre währendem Schweigen bringen, aber sie waren da, lebten ihr überwirkliches Leben und waren im Schlafe gewachsen. Und sie stürzten sich mit aller Wut auf ihre Verdränger, die ihnen inzwischen erstanden waren, und rauften mit ihnen um den beherrschenden Platz in der Seele.
Und sie schleppten all ihre Katapulte und Geschütze herbei, da es philosophische Dämonen waren, die stets beanspruchten, oberhalb alles Denkens und Lebens zu stehen.
Wie sieht es mit deiner Ethik aus, Leibniz? hatten sie sofort beim Erwachen gefragt. Ethik gehört nämlich, obwohl du das gerade leugnen möchtest, auch zu unserem Gebiet und zu unserer Kompetenz. Warum, Leibniz, hat es dich so sonderbar aufgescheucht, als dich Herr Leeuwenhoek fragte, ob du ein Cartesianer seist? Du bist einmal kein Freund klarer Stellungnahme, mein Leibniz. Wir kennen deine Antwort, Leibniz, obgleich wir geschlafen haben. Richtiger, obwohl du uns den Mohnsaft der Mathematik eingeträufelt hast, um uns zu vielleicht ewigem Schweigen zu bringen. Du sagst Harmonie und weißt heute noch nicht, was du damit meinst; außer jene merkwürdige, beinahe genießerische Grundstimmung, daß du alles für wahr hältst, was irgendwer behauptet, und alles für falsch, was irgendwer verneint. Du bist gebildet genug, Leibniz, um zu wissen, daß man solche Sinnesart in der Antike »Eklektizismus« nannte und daß die antike Philosophie an diesen Honigabschöpfern des Geistes zugrunde gegangen ist. Willst du uns also auf die Art loswerden? Du bist dir selbst klar, Leibniz, daß du solches nicht willst. Dir ist, dunkel und doch merkwürdig leuchtend, nach deinem Besuch bei unsrem Diener Leeuwenhoek etwas Eigenes aufgegangen. Die wimmelnden Tierlein im Mikroskop haben dir manches gesagt. Sie haben sogar die Abgründe deiner vielgeliebten Mathematik mit unsren Abgründen zu verknüpfen begonnen. Kennst du das nicht auch, Leibniz, wenn etwas, dunkel und doch leuchtend, ganz unten in der Seele auftaucht? Nützen dir da Brillen, Teleskope, andre Linsen? Nein, sie nützten nichts. Du weißt es von der Geburt des Algorithmus der hohen Mathematik. Man ist verfallen und muß das Fünkchen im Dunkel suchen, muß dem Irrlicht nachjagen, bis es zur stillen reinen Fackel geworden ist, die wieder ein Stück des All-Dunkels für dich und für die Ewigkeit erleuchtet. Und bist du nicht durch deine Mathematik und durch Leeuwenhoek zweimal an dasselbe Weltenrätsel gestoßen? An die Teile, die immer und immer kleiner werden, die aber getrennt sind und Teile, In-dividuen, bleiben; und gleichwohl zusammen die ungetrennte Linie des Weltzusammenhangs, der Kontinuität, der Stetigkeit des Überganges ergeben? Wie willst du das alles überbrücken, Leibniz, wie willst du Entgegengesetztes vereinigen, du Allesverbinder, du Enthusiast der Harmonie?
Und noch etwas haben wir, die Dämonen der Philosophie, mit dir zu besprechen. Wie gesagt, untersteht uns alles, da wir eben Dämonen der Philosophie sind. Du wirst jetzt blaß, Leibniz, weil wir dich am wundesten Punkt deiner Seele berühren. Uns untersteht – ja, winde dich nur, Leibniz – uns untersteht vielleicht auch die Religion. Sicherlich aber untersteht uns eine höhere Betrachtung der Geschichte. Du bist ja auch Historiker, großer Leibniz, Weltwunder der Gelehrsamkeit. Und wir wollen jetzt alle dokumentarischen und kritischen Methoden der Geschichte, unter gleichzeitiger Berücksichtigung der von dir stets sehr geliebten Ethik, einmal auf dich selbst anwenden. Oder ist das falsch? Bist du nicht jene historische Person Gottfried Wilhelm Leibniz, geboren 1646 zu Leipzig und so weiter, der es gar nicht unangemessen fand, das »Consilium Aegyptiacum« zur Beeinflussung des Weltablaufs bis vor die Stufen des Thrones eines Sonnenkönigs zu tragen? Darf man dich also geschichtskritisch beleuchten? Ja oder nein? Dein Schweigen und dein bleiches Gesicht sind uns Antwort. Man darf es. Darf es nach allen Regeln aller Künste. Und du ahnst schon, was wir dich fragen werden. Denn du bist namenlos klug. Bist namenlos gepanzert gegen alle Angriffe, die einmal noch erfolgen könnten. Du bist ein »Vauban« des Lebens. Ein genialer Festungserbauer. Wir aber kennen die schwachen Stellen deiner Bollwerke und Wälle und Kasematten, und wir haben die schwersten Geschütze von allen Armeen des Geistes. Wir, die Dämonen der Kerntruppe, der Philosophie. Wir haben die Geschütze der unerbittlichen Wahrheit, der Logik, der nie endenden Fragestellung, des Zweifels. Und wir lächeln über die Wälle der Ausreden.
Und wir haben das Recht auf Eindeutigkeit.
Warum also, Leibniz, hast du dich schön angezogen, um zu einem armen Glasschleifer zu gehen? Zu Benedictus Spinoza, wie der Mann heißt. Etwa, um ihm Achtung zu bezeigen oder weil du »gern scheinst«, wie Huygens von dir gesagt hat? Tun wir dir unrecht, oder ist dein Antrieb nur verschwommen?
Vielleicht war der erste Schuß schlecht gezielt. Deine Wälle sind unberührt. Unbewußte Dinge unterliegen heute noch nicht der Ethik. Aber schlüpfe nur nicht aus, Leibniz, du großer Ausschlüpfer! Jetzt kommt die zweite, weit peinlichere Frage, bei der wir all unsere Rechte vereinigen werden.
Gehst du zu Spinoza als Tändler und Kuriositätensammler? Oder als Weisheitsuchender? Oder vielleicht gar als – Spion?
Irgendwo hat jetzt der Schuß getroffen. Staubwolken türmen sich über deinen Festungswerken von Ausreden. Aber wo hat er getroffen?
Wir werden historisch plaudern, Freund Leibniz, bis sich der Staub und die Trümmer deiner Schanzkörbe verzogen haben.
Wer also hat in Kur-Mainz, bevor er uns Dämonen der Philosophie einschläferte, mit aller Leidenschaft des Geistes gegen die Freigeisterei gestritten? War das »utilitas« oder »necessitas«? Wir meinen, ob es zuliebe dem katholischen Herrn oder aus innerem Zwang gesprochen war? Oder war es gar das von dir so sehr geliebte Dritte? Etwa eine Konzession an die Harmonie der Welt, die durch Freigeisterei erschüttert werden könnte? Wir bekommen von dir keine klare Antwort. Gut. Gehen wir ein Stück weiter. Wer, lieber Leibniz, hat bald darauf, obwohl er durch Mathematik so sehr abgelenkt war, besser, obgleich er sich mit Mathematik in unsrem höheren Sinne bis zur Bewußtlosigkeit betrank, die philosophische Lehre des Cartesius studiert? Wer hat die grausigen Gesichte der Philosophie des Thomas Hobbes in sich aufgenommen und den wilden »Leviathan« über die Welt stampfen gesehen? Wer hat, weil er ja alle Behauptungen billigt, an den »Kampf aller gegen alle« geglaubt und sich dann vor Schrecken sogleich wieder in die lullische Zauberei des Algorithmus zurückgezogen? Wer hat sich dann auf den »Tractatus theologopoliticus«, auf jenes verpönte Manifest der Denkfreiheit, der Bibelkritik, der halben Gottesleugnung gestürzt, auf jene anonyme Forderung des Rechtes auf Freiheit der Philosophie von allen Dogmenschranken? Auf jenes Buch, das nie Worte, nur Taten strafbar haben will? Und wer hat weiter sofort gewußt, daß der Autor dieses Traktates kein andrer als Spinoza ist ?
Und nun hat der feine Diplomat Leibniz zu handeln begonnen. Aus welchem Motiv? Wozu soviel Schlauheit? Wir werden noch davon sprechen. Jedenfalls hat Herr Leibniz vom achtzigjährigen Hobbes trotz schöner geistvoller Briefe keine Antwort bekommen. Die Pariser Cartesianer hat er ausgeholt. Auch gut. Er hat dann gegen die Philosophie des Cartesius gestritten, aus der Mathematik desselben Cartesius sein Licht geholt. Insoweit hat er Leeuwenhoek nicht angelogen. Wie er überhaupt niemals lügt, sondern sich bloß schlängelt und verschweigt. Aber was ist es nun mit Spinoza ?
In diesem Fall übersteigt die Diplomatie jedes Maß. Der Freund Tschirnhaus, ein begeisterter Kämpfer, ein wilder Freiheitsbold und Wagealles, ist natürlich in Holland so etwas wie ein Spinozist geworden. Einfache, gerade, leicht entzündliche Seele. Und ist ein Ritter und Ehrenmann dazu. Ein Enthusiast. Und dieser Tschirnhaus hat ihm viel vom Leben des Spinoza erzählt. Und derselbe Tschirnhaus trägt überall eines der berüchtigten, gefährlichen, verbotenen Manuskripte und das Wissen um das Hauptwerk Spinozas mit sich herum. Und darf das Manuskript nicht zeigen, über das Hauptwerk nicht sprechen. Er hat das Ehrenwort gegeben und hält es. Auch einem armen Glasschleifer, der ein angeblicher Gottesleugner ist. Denn im Kopfe Ehrenfried Walters von Tschirnhaus ist kindlicher Glaube und Freigeisterei vereinbar. Ihm, dem Tschirnhaus, verzeihen wir diese Skurrilität, lieber Leibniz. Bei dir ist das doch etwas anderes. Gleichwohl aber hast du, Leibniz, Tschirnhaus veranlaßt, Spinoza zu bitten, sein Geheimnis dir gegenüber zu lüften und Tschirnhaus zu näheren Mitteilungen zu ermächtigen. Spinoza hat dem Rat von Kur-Mainz, dem Gesandten des Erzbischofs, der ein Protestant ist und mit den Jansenisten verkehrt, der als Deutscher während des Reichskrieges gegen Frankreich sich in Paris aufhält, und was dergleichen Unauflösbarkeiten und Verwicklungen noch mehr sind, nicht getraut und das Ansinnen klar abgelehnt.
Aber, das geben wir dir zu, Leibniz, du hast einen festen Willen. Du hast nicht nachgelassen, obgleich du uns philosophische Dämonen mit dem Mohnsaft der Mathematik betäubt hattest. Du hast weiter gebohrt und nach diplomatischen Methoden gehandelt. Zuerst bei jenem berühmten Oldenburg in London, bei jenem Sekretär der königlichen Akademie, der sowohl Vermittler zu Newton als zu Leeuwenhoek als zu Spinoza werden sollte. Von den unzähligen anderen »Beziehungen« zu schweigen, die dir dieser wackere Mann verschafft hat.
Und nun bist du hier, nachdem du Leeuwenhoek erobertest, in Amsterdam gewesen. Bei jenem herrlichen Patrioten Hudden, der es höher schätzt, einer der zwölf Bürgermeister Amsterdams zu sein und die Finanzen der Vaterstadt zu ordnen, als seinem übergroßen Genius der Mathematik zu leben, der sicher nicht weit hinter deiner Kunst zurücksteht. Und dann bist du zum braven Arzt Schuller gegangen, da du herausbrachtest, daß dieser Mann sozusagen der Türsteher Spinozas ist. Natürlich auf Empfehlung des Herrn Bürgermeisters Hudden, vor dem du deine glitzernden mathematischen Bälle wie ein Gaukler spielerisch durch die Luft schwirren ließest, und der als biederer und ruhiger Holländer von deinem Temperament, deiner Geschliffenheit und deinem geradezu gallischen Esprit entzückt war. Du hast sogar, Gaukler der du bist, das Tuch der Hexe von Endor ein wenig gelüftet und dem edlen Hudden ein Pünktchen deines Algorithmus gezeigt. Beileibe nicht Methoden, nicht Aufhellungen. Nein, fertige Resultate, Lösungen bisher unlösbarer Aufgaben. Und hast noch dazu fein gelächelt, als du merktest, daß der Mann vor Sehnsucht nach der eigenen Kunst erbleichte, der er für sein Vaterland abgeschworen hatte. Solche »höfische« Scherze treibst du mit Leuten, die dich wahrscheinlich die Stiege des Rathauses hinabgeworfen hätten, wenn ihnen das »Consilium Aegyptiacum«, jener tiefste und raffinierteste Vernichtungsplan gegen ihre Heimat, je bekannt geworden wäre.
Dann bist du, Leibniz, von Stolz und Siegesgefühl geschwellt, die Hafenkais Amsterdams entlang gewandert und hast nach deinem alten Rezept die Welt durchforscht, nach jenem Plan, der dir seitens des mißtrauischeren und kühleren Herrn Colbert fast die Verhaftung eingetragen hätte. Du verstehst dich auf dem versteckten Export aus Ländern, in denen du zu Gast weilst.
Wenn wir, die Dämonen der Philosophie, dich damals auf diesem Hafenspaziergang jedoch richtig beobachtet haben, so haben wir einen sonderbaren Stimmungsumschwung wahrgenommen. Wir lassen dich eben nicht los und fühlen uns in dir heimisch, weil du, trotz all deiner Sprünge, rettungslos zur Selbsterkenntnis verdammt bist.
Dich hat also auf den Hafenkais einiges zur Einkehr angeregt. Du sahst schwerbeladene Schiffe aus Indien, aus Sumatra, aus China einlaufen. Sahst die seltsamen Waren, die seltsamen Antlitze fremdester Menschen. Sahst Inder, Malaien, Chinesen. Sahst den Wald von Masten, den Wagemut der Kapitäne und Matrosen, den Fleiß und die Sorge, die Seligkeit und die Enttäuschung der Kaufherren von Amsterdam. Und da hast du etwas gedacht. Etwas sehr, sehr Aufrichtiges. Du bist dir nämlich plötzlich der Idee der Verantwortlichkeit bewußt geworden. Das war ja der lebendige Anblick jenes Handels hier um dich herum, den du durch dein »Consilium Aegyptiacum« hattest zerstören wollen. Lebensnerv, Lebenskraft eines ganzen, stammverwandten Volkes. Nicht daß du vielleicht dein »Consilium« in seinen Motiven gar zu sehr zu bereuen hättest. Wir wissen, daß du ehrlich als Patriot für Deutschland gedacht und gewirkt hast. So weit geht unser Vorwurf nicht. Vielleicht gibt es einen »Kampf aller gegen alle«. Vielleicht auch so etwas wie ein gottgewolltes Recht der Stärkeren. Aber, und jetzt kommt das fürchterliche Aber, mein Leibniz. Hast du damals, als du die sauberen Phrasen deines »Consilium Aegyptiacum« drechseltest, wirklich gewußt, was deine Worte bedeuteten? Wie leicht es ist, hinzuschreiben, der Handel eines Brudervolkes solle lahmgelegt werden, und was die riesige Tatsache hinter solchen Gedankendingen ist? Siehst du das jetzt? Und siehst du aus dem Lauf der Geschichte nicht weiter, daß Ludwig, der räuberische Sonnenkönig, um vieles milder war als du, trotz Brandschatzung und Plünderung? Gewiß, man hat es vorher nicht wissen können, daß diesem kleinen Volke ein Admiral de Ruyter erstehen würde. Daß hinter den hölzernen Wällen seiner Schiffe das Volk Hollands, fast nur mehr auf Amsterdam zusammengedrängt, die Rettung suchen und finden werde. Während die durchstochenen Dämme das blühende Land unter Wasser setzten und dieses Amsterdam zur Insel machten.
Und du hast auch, weiter wandelnd, die letzten Spuren de Ruyters im Hafen erblickt, Leibniz. Lagen dort nicht, halb abgetakelt und noch wund und zerspellt von Schüssen französischer Breitseiten, die bauchigen, kanonenstarrenden Schiffe des großen Admirals, deren helle Bodenbewachsung, deren Muschelkruste und Tang in der Wasserlinie von wärmeren Meeren erzählte? Du weißt ja alles, Leibniz. Weißt, daß es die Schiffe waren, die eben aus dem Mittelmeer heimkehrten mit trauernd gesenkten Flaggen. Die Flotte, die vor kaum sechs Monaten bei Catania im Angesicht des Ätna die Überzahl der Franzosen angegriffen hatte und wieder, wie immer, gesiegt hätte, wenn nicht durch eine tölpische Kanonenkugel dem greisen de Ruyter ein Bein abgerissen worden wäre. So daß er, fern der Heimat, am nächsten Tage in Syrakus seine Augen für immer schloß.
Und solchem Geschehen gegenüber, solchem Anderssein des Lebens, des wahren Handelns gegenüber hast du noch kein Mißtrauen gegen Worte? Wirst du in Hannover ein de Ruyter, ein Hudden deines Vaterlandes werden? Oder wirst du weiter alles billigen, was jemand bejaht und für falsch halten, was jemand verneint? Merkwürdig, daß gerade wir, die Dämonen der Philosophie, uns plötzlich an die Seite der Tatmenschen schlagen und gegen das Wort streiten. Aber auch da verstehst du uns sehr gut, Allerklügster. Wir wollen dir ja nichts andres sagen, als daß Worte furchtbarer sein können als Taten. Und daß Worte, gesprochen in den obersten Zonen des Geistes, das allerhöchste Maß an Verantwortung bedeuten, weil alles Geschehen an ihnen hängt und aus ihnen folgt.
Jetzt bist du plötzlich merkwürdig ruhig, Leibniz. Sollte es gutes Gewissen bedeuten? Oder lügst du dir gar wieder etwas vor, weil du siehst, daß deine Wälle nur eine bedeutunglose Bresche zeigen? Wir werden ja gleich weiter in deine Stellungen hineinfeuern. Halte Kampfpausen niemals vorschnell für Friedensschlüsse, du elastischer dreißigjähriger Weltmann.
Was also hast du weiter im Falle Spinoza unternommen ? Ah, Leibniz, der nächste Schuß wird geladen, du bist schon wieder unruhig.
Du hast dich, wir sprachen schon darüber, vom Patrioten Hudden an den Arzt Schuller empfehlen lassen, den wir als den »Türsteher« Spinozas bezeichneten. Es ist derselbe Schuller, durch dessen Hand alle Korrespondenz verdächtiger Leute an Spinoza läuft. Also auch deine Anliegen aus Paris sind seinerzeit diesen Weg gegangen. Und Schuller weiß, daß du ein »Verdächtiger« bist. Was tut man da, außer deinem beliebten Mittel, zu »scheinen«? Außer gutem Kleid und verbindlichem Lächeln? Nun, es ist sehr einfach. Man gewinnt in ewig wachem, niemals selbstvergessenem Gespräch das Vertrauen, das einem bisher versagt wurde. Man lügt nicht. Beileibe nicht. Denn das ist zu gefährlich. Aber man verschweigt, verschweigt und verschweigt nocheinmal. Nämlich alles Trennende. Und betont stark und scharf das Übereinstimmende. Bis man nach einigen Wochen (denn auch der Enthusiasmus ist verdächtig und muß dosiert werden!) endlich so weit ist, den ersten Zipfel der Geheimnisse zu fassen.
Plötzlich hatte Spinoza etwas gestattet. Nur jetzt kein zu unverhohlener Jubel! Du handelst schnell, aber du behieltst die kühle Maske. Du wirst es jedoch zugeben, Leibniz, daß du zittertest, als du die drei neuesten Briefe Spinozas an Oldenburg zum Studium erhieltest. Als du von Schuller schnurstracks in deinen Gasthof liefst und die ganze Nacht über den Briefen saßest, sie abschriebst und die Abschriften glossiertest. Man hat es dir nicht verboten, sie abzuschreiben. Folglich war es erlaubt. Und Schuller würde nicht fragen, ob du sie abschriebst, wenn du sie ihm schon am nächsten Morgen zurückbrächtest.
Und jetzt, Leibniz, haben wir unsre Geschütze gegen deine innersten Wälle gerichtet. Alle Geschütze zugleich. Du fühlst es, weißt, daß dort drinnen im Fort deine beste Mannschaft, dein Proviant, deine Munition liegt.
Was willst du eigentlich von Spinoza? Du hast im wesentlichsten Punkt eine sehr eigentümliche Bemerkung an den Rand der Briefabschrift gesetzt. Und hast dich mit dieser Glosse gegen Oldenburg für Spinoza entschieden.
Mein Gott, was bedeuten solche Notizen? könntest du erwidern. Du schweigst aber entsetzt. Denn es ist nichts zu erwidern. Du hast nämlich ganz gegen alle deine sonstige Gewohnheit Stellung genommen. Klare, eindeutige, nicht wegzutüftelnde Stellung. Und dazu noch gerade im Angelpunkt aller Zwiespalte. Ist es vielleicht so, daß es dir geht wie den braven wohlerzogenen Kindern, die nie etwas angestellt haben, und deren erste Ausgelassenheit dann eine übergroße wird? Ist es so? Oder sind dazu diese furchtbaren Worte doch zu klar, zu wuchtig, zu stilisiert? Oder hast du nicht stets gefühlt und geglaubt, es behauptet und dafür gestritten, daß der freie Wille die Grundfeste jeder wahren Sittlichkeit ist? Was bedeuten also jene zwei Sätze der Glosse? Sieh sie nur noch einmal genau an. Was heißt das? »Ob es in jemandes Macht gestanden wäre zu wollen, tut nichts zur Sache. Zur Strafwürdigkeit genügt der offenkundige verbrecherische Wille.«
Wie nennt man solche Weltanschauung, weiser Leibniz, die aus diesen zwei Sätzen hervorleuchtet, mehrnoch, hervorsprüht ? Heißt sie nicht Determinismus, unabänderliche Vorherbestimmung, Prädestination? Bist du Calvinist geworden, Leibniz? Oder gar schon philosophischer Freigeist? Willst du noch den Traktat von der Freiheit des Philosophierens dazu bejahen? Gehst du zu Spinoza, um dich endgültig zur Freigeisterei führen zu lassen? Und Unfreiheit des Willens mit Freiheit des Denkens und Redens zu verbinden? Weißt du, was für Sprengstoffe gerade in dieser Kombination liegen?
O ja, Leibniz, du weißt es genau, da dich die Linienschiffe de Ruyters über den Begriff Verantwortung aufgeklärt haben. Und du weißt auch, daß dein tiefstes Wesen, jene noch so verschwommene Harmonie, wahrscheinlich das Gegenteil verlangt. Nämlich Freiheit des Willens als Grundlage der Sittlichkeit und Gebundenheit des Wortes im Interesse höchster Zwecke. Im Interesse der Nation, der Menschheit, des Kosmos, Gottes!
Jetzt türmen sich feuerzuckende Rauchsäulen über deinen Festungswällen, Leibniz, jetzt hört man das Krachen gesprengter Pulverfässer.
Warum also gehst du zu Spinoza? Warum, Leibniz, der du eben die Ansätze eigenster Philosophie aus den Wunden Leeuwenhoeks zu erlauschen begannst? Warum?
Nur, weil du keine Furcht zeigen willst, weil du alle Verwirrung, alle Gefahr, die Quintessenz des Gegnerischen in dich aufnehmen willst, um es zu überwinden zur höheren Ehre Gottes? Oder weil du unter dem anderen unheimlichen Gott zitterst, den Spinoza hat, und der die Weltseele ist? Oder weil du gar Gott als Rechenexempel betrachtest und der Formreiz eines fremden Algorithmus dich lockt? Du bist verwirrt, Leibniz, du bist schwach, du bist angreifbar. Deine Festung liegt in Trümmern. Und darum gehst du heute deinen schwersten, deinen gefährlichsten, deinen entscheidensten Gang. Und du, der Sieggewohnte, hast dich mit der unfehlbaren Sicherheit deines Instinkts in eine Lage hineinmanövriert, in der dir, verzeihe das Paradoxon, auch die Niederlage winkt.
Vielleicht (hörst du jetzt die Dämonen kichern?), vielleicht, Leibniz, ist der Wille wirklich nicht frei. Vielleicht gehst du nur den Weg deines unentrinnbaren Fatums. Oder hat dich Gott ein einziges Mal unfrei gemacht, daß du später imstande seist, desto nachdrücklicher die Freiheit des Willens zu erkennen und zu panzern?
Und wie wirst du gegen den Menschen Spinoza streiten? Vorausgesetzt, daß du überhaupt noch streiten willst. Was steht dir da bevor? Darfst du, Leibniz, dessen Gerechtigkeitsstreben wir nicht bezweifeln wollen, weil wir dich ja sonst freiwillig verließen, darfst gerade du also leugnen oder auch nur vernachlässigen, wie dieser Mann sein Leben bisher gelebt hat? Wie wenig oder, besser, wie überhaupt keine Angriffspunkte die Selbsttreue und selbstvernichtende Wahrhaftigkeit dieses Mannes auch dem Gegner bietet? Was also wirst du tun, der du nicht einmal weißt, ob du ein Gegner bist?
Oder ist dein Gang Starrsinn oder bist du doch nichts als ein Spion?
Geh jetzt, Leibniz, wir haben dir alles gesagt. Haben nichts verschwiegen, nichts verdeckt. Und sieh zu, wie du nach dieser Unterredung ein Philosoph, ein Christ und ein Deutscher bleiben kannst.
Wir werden auch dort bei dir sein und dir nichts ersparen. Denn das letzte Ziel des Geistes heißt Verantwortlichkeit, auch dann, wenn der Wille gebunden ist. Du hast das selbst an den Rand des Spinozabriefes geschrieben. Nicht mit diesen Worten, aber dem Sinne gemäß. Was auch gäbe es Verbrecherisches, als die tiefsten Brunnen der Weltweisheit zu vergiften, aus denen noch ferne Geschlechter trinken sollen und trinken müssen?
Und diesmal bist du nicht wie sonst der vorbestimmte Sieger, Leibniz. Diesmal stehen deine Chancen höchstens eins zu eins, wie deine mathematischen Wahrscheinlichkeitsüberlegungen es nennen. Aber vielleicht bist du heute dem gemeinsamen Schicksal aller mühseligen und beladenen Menschen mehr verbunden, tiefer verbrüdert, enger eingegliedert als im Vorwärtssturm deiner Siege. Und vielleicht hat Gott eben das gewollt, dessen Werkzeug du sein möchtest, wenn du dir über ihn selbst klar wärest.
Dein Diener zupft an den Falten deines hellgrauen modischen Rockes, Leibniz. Man wird dich zumindest für einen Weltmann halten. Daß du mehr bist, wirst du »more geometrico«, nach Art der Geometrie oder noch viel subtiler zu beweisen haben.