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Zweites Kapitel

»Catilinarische Intelligentia«

Ganz geborgen, fast selig fühlte sich jedoch der Knabe erst, als er vor dem Hause selbst stand. Und es erschien ihm nach seiner Wanderung in unbekannte Fernen und Einöden noch vertrauter und doch wieder geheimnisvoller als sonst.

Es war ein nicht allzugroßes, schmales Bürgerhaus, wie es deren zu Leipzig viele gab. Wahrscheinlich war es schon vor hundert oder noch mehr Jahren erbaut worden. Sicherlich hatte es dicke Mauern, und die Fassade war altertümlich und grau. Die schwere Tür hatte einen verborgenen Drücker, den der Knabe öffnete. Er stieg langsam über eine tiefdunkle Holztreppe hinauf und huschte durch das Winkelwerk einer Vorhalle, in der Truhen standen, in die Küche, wo er die Muhme vermutete.

Er hatte sich auch nicht getäuscht. Die alte Frau mit ihrem sauberen dunklen Kleid und dem weißen Häubchen stand beim großen Herd. Was den Knaben aber stutzig machte, war, daß sie die Pfannen und Teller wusch. Es war zwar schon halb drei, aber da sie ja allein zu Hause war, hätte sie wie gewöhnlich mit der Mahlzeit auf ihn gewartet, wenn nicht etwas Unerwartetes sich inzwischen ereignet hätte.

Sie drehte sich auch sogleich herum, als sie die Türe gehen hörte und blickte ihm aus ihrem verrunzelten und doch glatten Gesicht halb vorwurfsvoll, halb erfreut entgegen.

»Ach, da ist er ja, Gottfried Wilhelm! Wollte schon zur Schule sehen. Nachgesessen? Oder umhergestrichen? Mutter ist schon in Sorge.« Und sie kam auf ihn zu.

Die Muhme, eine verarmte entfernte Verwandte der Mutter des jungen Leibniz, war seit seiher Geburt gleichsam seine Kinderfrau und Erzieherin gewesen. Er liebte sie mit einer starken und doch ein wenig respektlos herablassenden Liebe.

»Mutter kommt doch erst um drei Uhr?« fragte er erstaunt. »Wie kann sie etwas wissen?«

»Ach, du Schlingel, darauf hast du gebaut? Nun, der Mensch denkt, Gott lenkt. Vor zwei Stunden nämlich ist plötzlich ein edler Herr hereingeklirrt. Ein Deuerlein von Königstein. Weißt du, ein Verwandter deiner seligen Großmutter väterlicherseits. Irgendwoher vom Land, wo er ein Gut hat. Und da haben wir deine Mutter sogleich geholt, aufgekocht für den vornehmen Gast – und du wirst deine Schelte bekommen, da du dem Hause Schande gemacht hast.« Sie hatte, während sie mit Zinnkraut eine Kasserolle rieb, diese Sätze sehr schnell hervorgesprudelt.

Obwohl sich nun der Knabe vor seiner sanften, gütigen Mutter keineswegs fürchtete, wußte man doch nicht, was der fremde Edelmann sagen würde. Entfernte Verwandte mengten sich am liebsten und energischesten in die Erziehung ein. Das wußte er aus übler eigener Erfahrung. Und er wurde durch nichts so verlegen und erbost, als durch solche halb scherzhafte, halb hämische Predigten und Kritiken unbekannter oder kaum bekannter Erwachsener, die sowohl die Unantastbarkeit des Außenstehenden als auch wieder die Vertrautheit und Autorität des Onkels für sich in Anspruch nahmen.

Er wäre am liebsten in sein Kämmerlein geschlichen, das ein Stockwerk höher lag. Die Muhme aber bemerkte sogleich diese Absicht. Sie wischte schnell ihre Hände in einem Geschirrtuch trocken und faßte ihn am Arm.

»He, nur nicht ausreißen, Gottfried!« sagte sie etwas entschiedener. »Der Onkel wird dich nicht beißen. Ist ein sehr umgänglicher Herr. Jetzt aber wasch dir Hände und Gesicht, laß deine Schulsachen hier liegen und geh hinein. Das Essen hab ich dir schon aufgehoben. Suppe und Klöße mit Salat bekommst du. Vielleicht finde ich auch noch ein Stückchen Fleisch.« Und sie zog ihn zu einem Eimer und fuhr ihm mit dem eingetauchten Tuch über Gesicht und Hände wie einem ganz kleinen Kind.

Der Knabe ließ sich diese Fürsorge gern gefallen. Er war dadurch weiterer Entschlüsse enthoben. Und er ging auch, als er sich abgetrocknet hatte, ohne viel nachzudenken, über die Diele und öffnete die Tür zum Wohnzimmer, in deren Öffnung er bescheiden stehen blieb.

Zur linken Hand, an einem schweren Eichentisch saßen seine Mutter und der Landedelmann. Auf dem Tisch funkelten eine Karaffe mit Wein und einige Römer. Zur Rechten leuchtete der mächtige grüne Kachelofen, da ihn eben ein volles Bündel von Sonnenstrahlen getroffen hatte.

Die Mutter, im schwarzen Tuchkleid mit der weißen Halskrause, lächelte dem Söhnchen freundlich entgegen und machte ihm ein Zeichen, näherzutreten. Der Edelmann, der das Glas gerade absetzte, wischte sich mit dem Finger den Schnurrbart und fragte mit tiefer, aber äußerst freundlicher Stimme:

»Das also ist mein Neffe Gottfried Wilhelm?«

»Ja, das ist er«, erwiderte die Mutter. »Die Knaben bleiben manchmal über die Zeit in der Schule. Sie haben strenge Lehrer und denen fällt oft etwas ein, was den Unterricht um eine Stunde verlängert.«

»Wenn nur den Schülern nichts einfällt, was die Unterrichtszeit verlängert«, lachte der Edelmann los. »Ich bin auch einmal nachgesessen, mach dir nichts draus, Gottfried, und gestehe.« Und er erhob sich und reichte dem Knaben die Hand, der eine linkische Verbeugung machte.

Der Edelmann hatte trotz seiner Größe und seines mächtigen Brustkastens sehr wohlgebildete, aufgeweckte Züge und besonders große, leuchtende Augen. Und sah nicht martialisch aus, wiewohl er die üblichen braunen Stulpstiefel, die pluddrige Reithose und das Lederkoller trug. Nicht einmal das Klirren der Sporen klang kriegerisch.

»Ich bin nicht nachgesessen, ich habe mich auf einem Spaziergang verspätet«, antwortete der Knabe, da er weder die Mutter noch den gewinnend sympathischen Onkel belügen wollte.

»Das wirst du erzählen, wenn du gegessen hast, mein Kind«, sagte die Mutter mit einem Schatten von Sorge und Verständnislosigkeit in ihrem blassen, ruhigen Gesicht.

Und Gottfried Wilhelm berichtete, nachdem er mit Heißhunger die von der Muhme hereingebrachten Speisen hinuntergeschlungen hatte, ohne Beschönigung oder Übertreibung seine Erlebnisse. Nur die Gründe, die ihn so weit ins Land hinausgetrieben hatten, konnte er nicht deutlich angeben. Als er über diese Gründe sprach, begann sich sein Blick zu verirren, und seine sonst so glatte flüssige Rede hub an, in Unklarheit bis zum Gestammel zu zerrinnen.

Der Edelmann hatte ihn die ganze Zeit beobachtet. Bevor noch die Mutter etwas sagen konnte, warf er ein:

»Mein Gott, es ist nichts geschehen. Gottfried ist eben trotz seiner zarten Gestalt kein reiner Bücherwurm und Stubenhocker. Nicht umsonst war seines Urgroßvaters Bruder, Paul von Leibniz, ein tüchtiger Feldhauptmann des Kaisers an der windischen Grenze. Geadelt wegen großer Tapferkeit. Und wir Deuerleins sind auch rauhe Burschen. Nehmen wir diesen Vorstoß ins Unbekannte als Symbolum. Die Welt ist die Welt und die muß man mit dem Kopf und mit den Augen durchforschen.«

»Du hast da einen Anwalt bekommen, du Schlingel«, sagte die Mutter scherzend. »Seinetwillen mag sein unüberlegtes Stückchen verziehen sein. Aber nicht wahr, Gottfried, du wirst dich nicht mehr unnötig in Gefahr begeben? Du bist jetzt gewarnt. Und so töricht und schlecht bist du wieder nicht, deiner Mutter großen Schmerz zuzufügen.«

Der Knabe senkte blutrot den Kopf, und in seinen Augen schimmerte es. Vor Vernunft und Milde beugte er sich vielmal beschämter als vor Zank und Drohung.

Aber dieser demütigende Augenblick währte nicht lange.

Muntere Erzählungen des Edelmannes brachten bald eine andre Stimmung, und es waren wohl mehr als zwei Stunden vergangen, als die Muhme in die Wohnstube trat und meldete, der gestrenge Lehrer Tilemann Bachusius habe mit der Mutter des Schülers Gottfried Leibniz ernste und dringende Angelegenheiten, besagten Schüler betreffend, zu besprechen.

Ein neues Erschrecken an diesem schon mehr als einmal ereignisreichen Tage durchzuckte den Knaben.

»Weißt du, was er will? Hast du doch etwas verbrochen?« fragte Vertrauen heischend der Edelmann.

»Nein, ich weiß nichts. Ich kann es nicht einmal ahnen«, erwiderte der Knabe totenblaß und kopfschüttelnd.

»Dann müssen wir den gestrengen Magister hören. Ich möchte bei der Unterredung dabei sein. Als Schiedsrichter. Du gestattest es doch wohl, werte Base?«

»Es ist mir sogar erwünscht.« Die Mutter des Knaben wandte sich an die Muhme. »Führe, bitte, den Herrn Lehrer herauf. Es wird uns ehren, ihn zu empfangen.«

Als die Muhme gegangen war, gab der Edelmann dem Knaben einen freundlichen Rippenstoß.

»Bleib im peinlichen Verhör streng bei der Wahrheit, Bürschchen. Die Auslegung und Verteidigung überlaß mir. Verstehst du? Aber nur keine Lügen. Das ist schlimm. Also abgemacht.«

Der kleine Leibniz nickte wie im Traum. Denn er hörte schon das Knarren der Treppenstufen.

Im nächsten Augenblick ging die Tür auf, und vorgeneigt und selbstbewußt schritt der hagere, schwarzgekleidete Magister in die Mitte des Zimmers, als ob er erwartete, die Schüler würden in den Bänken hochrasseln. Ein wenig verdutzt war er, als er den Edelmann erblickte. Er verneigte sich eckig vor ihm und bedachte dann auch Frau Catharina Leibniz mit einer leichten Verbeugung. Gar nicht beachtete er seinen zitternden Schüler.

»Dies ist mein Vetter von Deuerlein, Herr Lehrer«, sagte Catharina Leibniz ruhig. »Ich würde Wert darauflegen, wenn er unsrer Unterredung beiwohnte. Soll ich Gottfried Wilhelm hinausschicken?«

Der Lehrer sah den kleinen Leibniz stechend an.

»Fürs erste dürfte es sich wohl empfehlen. Wenn wir etwas zu fragen haben, können wir ihn hereinrufen. Er soll sich, ohne zu horchen, in der Nähe bereithalten.«

Der Edelmann schmunzelte über den hochfahrenden Ton und hatte sogleich beschlossen, was immer auch kommen würde, dem Lehrer allen möglichen Widerstand entgegenzusetzen.

»Bitte, nehmen Sie Platz, verehrter Herr Magister«, sagte er ein wenig ironisch. »Und du, Gottfried, hast ja gehört, was du tun sollst.«

Der Knabe gehorchte lautlos. Der Lehrer aber räusperte sich und zögerte einen Augenblick. Dann rückte er einen Stuhl vom Tisch weg und ließ sich bedeutungsvoll nieder. Man bot ihm Wein an. Er machte eine abweisend beschwörende Geste mit dem Handteller wie ein hoher Richter, dem man in einem Staatsprozeß einen Scheffel Goldes als Bestechung hingehalten hätte.

»Nun, also Prost!« trank ihm der Edelmann zu. »Ich bin begierig, die Gravamina gegen meinen Neffen zu hören.«

»Es ist unglaublich, ganz unglaublich!« schrillte der Lehrer los. »So etwas ist mir in zwanzig Jahren noch nicht untergekommen an vorlauter Streberei.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und sah abwechselnd Frau Catharina und den Edelmann an. Dann setzte er schnell fort: »Habe ich da heute unüberlegterweise fast die Bande der Zucht in meiner Klasse gelockert. Fragte einen Diszipel über geschichtliche Dinge, nur so weit, wie es eben diese Grünschnäbel begreifen. Und redete über Rom. Über das antike Rom. Nur zwei Worte. Plötzlich meldet sich der Schüler Leibniz und fängt an, mit notabene richtigen lateinischen Sätzen und Citatis aus dem Livius zu flunkern. Aus dem Livius! Bei meiner armen Seele Seligkeit.«

»Er kann doch nicht lateinisch«, sagte Catharina Leibniz erstaunt.

»Er kann es nicht ?« Der Lehrer lachte schrill. »Und ob er es kann! Und behauptet noch, er habe es ohne Wörterbuch gelernt. Die anderen Schüler glaubten, sie müßten es auch können. Sie sind kopfscheu geworden, haben rebellieret. So lösen sich die Bande der Ordnung durch Eitelkeit und Streberei. Eine Pestis, ein unheilvoller Schandfleck ist diese vordringliche Geschwätzigkeit. Wie ein Kothurn für einen Pygmäen, wie Stelzen für einen mißwachsenen Zwerg paßt dieses unverdaute Latein, dieser Livius für einen Schüler von acht Jahren. Das Bilderbuch von Comenius und den kleinen Katechismus soll er vornehmen, der Zwerg. Nicht aber von Sextus Tarquinius gar oder von Lucrezia flunkern. Wohin kommen wir da? Noch nie nahm solcher Aberwitz ein gedeihsames Ende. Das ist alkibiadische, mehr noch, catilinarische Intelligentia. Halbwissen, tausendfach schlimmer als Nichtwissen. Man stelle diesen Unfug ab, der nur durch mangelnde Überwachung im Hause so sehr in die Halme geschossen sein kann.« Er schwieg erschöpft.

»Wenn ich recht verstehe, behaupten Sie, Herr Magister, daß Gottfried, mein Neffe, über unnötigen Privatstudien den Stoff der Schule vernachlässigt«, schmunzelte der Edelmann sarkastisch.

»Was behaupte ich? Nichts behaupte ich«, ereiferte sich der Lehrer. »Er hat nie versagt, kann alles bis zum Rand. Aber er wird versagen, wird in Eitelkeit das Einfache vernachlässigen mit seinem unverdauten Livius.«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil ich, zu dero gnädiger Wohlmeinung gehalten, ein erfahrener Pädagoge bin.« Die Antwort war schneidend hochmütig.

»Sie sagten aber selbst, Sie hätten einen solchen Fall zum erstenmal erlebt. Woher also die Erfahrung?«

»Es gibt auch Wahrheit aus Begriffen, nicht nur aus Erfahrungen.«

»Mir aber,« der Edelmann schmunzelte noch immer, während der Lehrer schon zitterte, »mir aber, Herr Magister, erscheint in unsrem Fall die Wahrheit aus Begriffen einfach die zu sein, daß ein Mehrwissen keine pädagogisch tadelswerte Handlung ist. Einen Augenblick! Ich schlage vor, wir rufen Gottfried herein. Ich werde mich persönlich von seinem lateinischen Sprachschatz überzeugen. Falls der Knabe stümpert und aufschneidet, schließe ich mich Ihrer Meinung an. Falls er aber etwas kann, sehe ich keinen Grund, ihn in seiner autodidaktischen Fortbildung zu hindern. Er wird in der Schule nicht mehr davon sprechen, damit keine neue gefährliche Revolte entsteht.«

Der Lehrer unterdrückte mühsam eine scharfe Antwort. Heiser und hohl sagte er endlich:

»Sie stehen also auf dem Standpunkt, edler Herr, daß es dem Elternhaus gestattet sei, wohlerwogene Anordnungen der Schule geradezu zu durchkreuzen.«

»Nun, nicht gar so hitzig!« lachte der Edelmann auf. »Ich stehe auf dem Standpunkt, daß das Elternhaus nur dann mit der Schule zu gehen hat, wenn eine Schuld des Schülers vorliegt. Die Schule ist ein Hilfsmittel der Erziehung, nicht die ganze Erziehung. Bei aller Hochachtung, die ich vor Ordnung im allgemeinen und der Schule im besonderen hege. Aber ich kann ja schließlich auch das Kind aus ihrer Schule nehmen und in eine andre schicken.«

»Das können Sie, das können Sie. Aber eine Nicolai-Schule wächst nicht an jeder Straßenecke.« Beleidigtes Ehrgefühl und eine Angst um den begabtesten Schüler kämpften im Pädagogen.

»Da haben Sie recht. Vollständig recht. Aber jetzt bitte ich Sie, mir zu antworten, ob Sie auf meinen Vorschlag eingehen?«

»Sehr ungern.«

»Das heißt also, Sie sind einverstanden. Ich werde mir den Alkibiades selbst holen. Wehe ihm, wenn er flunkerte! Dann dürfen Sie ihm alle Strenge zu kosten geben.«

Der Edelmann stand auf. Da mengte sich Catharina Leibniz besorgt ins Gespräch:

»Willst du nicht doch den Rat des Herrn Magisters befolgen? Was, wenn er versagt? Dann wird er dem berechtigten Zorn des gestrengen Herrn Lehrers verfallen sein.«

»Die Frau Mutter steht auf meiner Seite«, triumphierte der Lehrer.

»Ich trage die Verantwortung. Ich habe mehr Vertrauen zu Gottfried Wilhelm als ihr alle. Und kenne ihn besser, obwohl ich ihn heute das erste Mal sah. Ich bestehe auf meinem Willen.« Und er schritt schon klirrend zur Türe hinaus.


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