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Dreiundvierzigstes Kapitel

Endkampf mit Spinoza

Wir machen uns also auf, Steno aus Jütland und ich. Wieder durch jenes sonderbar unbekümmerte Leben der Griechen, das sich wie kein andres Leben aller Zeiten für die Gegenwart und die Ewigkeit hielt, und das nicht ahnte, daß jenseits seiner Formen weit andre Formen des Lebens möglich seien.

Eben verläßt Xanthippe, weinend und sich die Brust schlagend, mit dem kleinen Söhnchen des Sokrates das Gefängnis. Geleitet von Kritons Leuten. Sie war stets eine brave Frau, diese Xanthippe. Eine viel zu brave. Und darum hat sie gegen Sokrates und gegen die Philosophie mehr auf dem Gewissen als alle anderen. Sie hatte den Kosmos der soliden Häuslichkeit verteidigt und es nie begriffen, wenn Sokrates geistige »Geburtshilfe« leistete, seine Steinmetzarbeit liegen ließ und wenn deshalb die Kinder hungerten. Aber Gottes Wege sind unerforschlich und er hat den verschiedenen Seelen verschiedenste Heiligtümer eingepflanzt, die sie in seinem Namen hartnäckig verteidigen und aus denen dann die Harmonie entsteht.

Also Xanthippe geht nach Hause. Für sie ist das Leben heute zu Ende. Unwiderruflich. Und sie ist überzeugt, daß es anders gekommen wäre, wenn Sokrates ihre kleinen und größeren Scheltworte stets beherzigt hätte.

Plötzlich erscheint langsam von der anderen Seite ein schmächtiger Mann. Er sieht gar nicht, was vorgeht. Aber er schreitet unaufhaltsam und unerbittlich heran. Auch er will sich einem Gericht stellen, vor das er gerufen wurde. Es ist Benedictus Spinoza.

Er selbst aber empfindet es nicht als Gericht. Eher als Verschwörung. Denn es wird ein junger Mann dabei sein, dem es vergönnt ist, noch viele Jahre zu reden, nachdem er selbst im Haag die Augen geschlossen hatte. Und er blickte mich auch durchdringend an, als ob er sagen wollte: »Wähne nicht, Leibniz, daß du deine geistigen Intrigen allein mit den Sokratikern und Platonikern oder gar mit diesem Steno hier spinnen kannst. Das geht überall, nur nicht in der Philosophie. Denn obgleich ich gestorben bin, bin ich allgegenwärtig, wie jeder, der die Wahrheit aus dem Dunkel des Nichtgewesenen in das Licht des Ausgedrückten hob. Und besonders gegenwärtig bin ich für dich. Denn auch ich habe mich mit dir mystisch vereinigt. Ob du es nun willst oder nicht. Die Unio mystica philosophorum erstreckt sich nämlich auch auf die Gegner. Aber wozu Worte? Wir wollen eintreten. Es wird heute noch viel geschehen.«

»Geh voran, Spinoza!« sagt Steno mit merkwürdiger Betonung. Und ich bin erstaunt. Denn mich hat es schon wie leise Abwehr überkrochen. Ich hätte lieber mit den Griechen allein disputiert.

Aber es muß wohl so sein. Steno hat entschieden. Seine Worte hießen, daß Festigung des Glaubens durch ein Ausweichen nicht erreichbar ist. Wie die homerischen Helden müssen wir frisch aufeinander losgehen, hat Platon-Sokrates gesagt, sonst gibt es kein Erkennen.

Es summt im Gefängnis von Stimmen. Keiner der Freunde ist fern geblieben an diesem »letzten« Tag des Sokrates, der vielleicht in Wahrheit der »erste« Tag des wahren Sokrates ist. Jenes Sokrates nämlich, der lebt und leben wird.

Herrliche Gesichter und Köpfe, die ihn umringen. Kriton ist da und Phaidon, Apollodoros, Kritobolos, Hermogenes, Epigenes, Aischines und Antisthenes. Auch Ktesippos und Menexenos. Schließlich Simmias aus Theben, Kebes und Phaidonides aus Megara, Eukleides und Terpsion. Nur er selbst, Piaton, ist krank, und das Fieber und der Schmerz, nicht hier sein zu dürfen, schütteln ihn in seinem vornehmen Hause. Und eine Ohnmacht wirft ihn in eine andere tiefere. Aber sein Geist ist hier. Riesengroß. Und überschattet an Erlebnis die Anwesenden.

Eben hat sich Sokrates, als wir eintreten, aufs Lager gesetzt und lächelt den Barbaren, die er schon aus der Ringschule kennt, entgegen. Er reibt sich eben die von den Fesseln geschwollenen Beine. Und sagt: »Sonderbar, Freunde, ist doch das, was die Menschen angenehm nennen. In wie seltsamer Beziehung steht es nicht zu dem, was sein Gegensatz zu sein scheint, zum Schmerzlichen: zugleich wollen Lust und Schmerz nicht im Menschen weilen; wenn ein Mensch aber der Freude nachgeht und nach der Freude greift, muß er auch den Schmerz hinnehmen und umgekehrt, als hingen die zwei an einem Ende zusammen. Wenn also der Mensch schon den Schmerz hat, bekommt er nachher noch die Freude und umgekehrt. So scheint es auch mir jetzt zu ergehen: Nachdem ich infolge der Fesseln im Beine Schmerzen gehabt habe, muß jetzt das Wohlbehagen nachkommen.« Und dann spricht er weiter und weiter und wir alle vergessen seinen nahen Tod. Obgleich oder vielleicht weil er keiner Erwähnung des Ereignisses ausweicht. Und er spricht von Träumen, spricht Worte, die uns erschauern lassen, und nennt die Philosophie die höchste Musik ...

Schon hier beginnt der Blick Spinozas zu lodern. Wozu diese Vermischung der Weltweisheit mit ästhetischen Dingen? Höchste Musik? Ja, ist vielleicht auch die Geometrie, die Mathematik Musik?

Es sind Pythagoräer anwesend und sie lächeln über die Heftigkeit Spinozas. »Nur die Geometrie ist wahre Musik. Alle andere Musik ist ein verwischtes Abbild der Harmonie der oberen Sphären, in denen ausschließlich die Zahlen und Beziehungen regieren«, wirft einer der Pythagoräer ein. Doch dann schweigt er. Es ist ja esoterisch, ist innerhalb des Vorhangs, was er weiter sagen wollte. Aber Leibniz hat ihn begriffen, obwohl er schwieg. Und hört das Klingen des Algorithmus, jenes Brausen höchster Formen, die im Wehen des Gottesatems kreisen, sich binden, lösen, erlösen. Und gleichwohl nur erst Abbilder sind.

Aber Spinoza hat inzwischen gesprochen. Über Lust und Schmerz. Und hat dem Optimismus des Sokrates klarere Unterscheidungen entgegengesetzt. Denn seine, Spinozas, »Ethik« hängt an diesem Axiom der Absolutheit von Lust und Leid. Und er kann solche schwimmende, fließende Grenzen nicht anerkennen. Wie auch könnte er es? Wie auch könnte Schmerz je gut sein? Schmerz schadet, ist also auf jeden Fall schlecht.

Sokrates versteht ihn. Im Wesen sind sie über manches einig. Und das Ergebnis Spinozas von der Weltflucht des Weisen stimmt mit dem Ergebnis des Sokrates überein. Das ändert aber nichts daran, daß Sokrates seine Methoden unbeirrt aufrecht erhält. Sie seien, sagt er, allgemeiner, und es werde sich bald zeigen, das Spinoza auf seinem Wege in die Irre geraten müsse. Denn wahres Wissen gibt es nicht im Diesseits durch die Emendatio intellectus, durch die Verbesserung des Verstandes, sondern erst im Jenseits, im Reich der vollkommenen Reinheit von allem Sinnentrug. Wo aber sei im Pantheismus Spinozas für ein solches Jenseits Raum? Wo für alles Mysterium? Und es sei weit anders mit den Begierden, als sich Spinoza das vorstelle. »Nimm einmal die Mäßigen«, spricht Sokrates jetzt weiter. »Daran wirst du sehen, wie verwickelt alles liegt. Sind diese Mäßigen, die nach deiner Ansicht gut sein müßten, weil sie sich nützen, nicht recht eigentlich aus bloßer Unmäßigkeit klug und besonnen ? Du sagst, so etwas gebe es nicht. Nein, du Wunderlicher, so etwas gibt es. Es geht den Menschen in der Tat so mit ihrer abgeschmackten Mäßigkeit. Sie haben Angst, ihre kleinen Genüsse opfern zu müssen, die ihr einziger Wunsch sind, und darum enthalten sie sich andrer Genüsse und lassen sich von den kleinen Begierden beherrschen. Und doch nennen sie und du, Spinoza, Unmäßigkeit ein Beherrschtsein von Begierden. Deshalb kann eben ein Mensch aus Unbeherrschtheit beherrscht sein. Oder aus Unmäßigkeit mäßig. Und sie nützen sich sehr, um in deiner Sprache zu sprechen, Spinoza, und sind gleichwohl schlecht und jämmerlich. Der Mensch ist eben durchaus nicht das Maß aller Dinge, wie wir schon in der Ringschule feststellten.«

»Du verstandest mich nicht, Sokrates«, erwiderte Spinoza. »Ich habe das nie so gemeint. Aber ich kann die Tugend nicht auf den lockeren Sand des Meinens oder Vermutens bauen und muß eine objektive Richtschnur dafür geben. Eine Richtschnur, die ebenso sicher ist, wie sie auch den Weg zum Höchsten freiläßt.«

»Oh, du Glücklicher«, lacht Sokrates. »Wie meinst du das nun wieder ? Glaubst du wirklich, es gebe keine andre Möglichkeit, die Tugend zu finden, als wenn wir ein Ding gegen das andre tauschen, nämlich Genuß gegen Genuß, Schmerz gegen Schmerz, Furcht gegen Furcht? Und dabei stets das Größere gegen das Kleinere, als wären Genuß, Schmerz und Furcht nichts als Münzen? Leibniz hat schon einmal deine Ethik das Merkantilsystem der Moral genannt. Ich verstehe heute diese Worte, da wir übereingekommen sind, Raum und Zeit aufzuheben. Aber, höre gut zu, Spinoza, und auch du, Leibniz: Wert allein hat die Vernunft. Gegen Vernunft magst du alles tauschen, um die Vernunft erst kannst du in Wahrheit die Tapferkeit und Besonnenheit und Gerechtigkeit und jede wahre Tugend kaufen und verkaufen, ob du nun Genuß oder Furcht noch dabei hast oder nicht. Also jenseits von Nutzen und Schaden! So du aber deine Gerechtigkeit und Tapferkeit von der Vernunft trennst und mit deiner Tugend Wucher treibst, dürfte diese Tugend nur wie der Schatten auf der Wand ohne Körper und in der Tat die Tugend von feilen Sklaven sein, die keinen Bestand hat und dich belügt; die wahre Tugend sei aber eine Reinigung von aller falschen, und nur mit deiner Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit, ja mit der Vernunft selbst, sollst du dich reinwaschen. Sie ist also der höchste Nutzen. Sie ist aber nicht deshalb Tugend, weil sie der höchste Nutzen ist, sondern weil sie eben am meisten teilhat an der Idee der Tugend, an der leuchtenden Sonne der Idee des Guten!«

»Und woran erkennst du die Idee, Sokrates?« fragt Spinoza mit jenem ironisch wissenden Lächeln. »Ist das dein ganzer Beweis? Tugendhaft ist etwas, weil es tugendhaft ist? Quod erat demonstrandum? Ist nicht vielmehr die Idee solcher Ethik der Grundsatz, daß jede Größe gleich ist sich selbst? Also ein Axiom, das man nicht zu beweisen braucht ? Wir sagten schon: Im Ergebnis sind wir einig. Du aber, Sokrates, verzeih mir, wenn ich es ausspreche, daß sich unsre Wege und unsre Systeme so unterscheiden wie das Werk eines Schwärmers und das eines Denkers. Ich habe mich nicht verfluchen lassen, um deine verwaschene Dogmatik anzunehmen.«

»Hart bist du, mein Bester, beim Hunde«, entgegnet Sokrates. »Mehr als hart. Und ein wenig ungerecht. Denn ich wiederum, der in einigen Stunden wegen Gottlosigkeit und Verderbnis der Jugend werde den Schierlingsbecher trinken müssen, dürfte wohl dies alles auch nicht aus bloßer Schwärmerei getan und gelehrt haben. Darum, Freund, klammere dich nicht fortwährend an deine Art der Geometrie. Und glaube mir, daß du nur zu deiner Nützlichkeitsethik kamst, weil schon deine ersten Voraussetzungen anfechtbar sind. Aus der Konsequenz der Durchführung folgt niemals die Richtigkeit der Prämissen. Und ich glaube sogar, daß du mehr von der Idee des Guten weißt, als du zugibst. Du hast die Idee des Guten geschaut, Spinoza. Daher deine allerletzten Ergebnisse. Du hast aber auch die Idee des Wahren geschaut. Und nun wolltest du, was bei Ideen unmöglich ist, alles vermischen, verbinden, vereinheitlichen. Und so hat sich dir schließlich alles verbogen. Indem du nämlich Dinge, die nur mit der Idee des Guten zu tun haben, unter die Idee des Wahren zwingen wolltest. Aber wir sind weit abgeschweift, sind vorgestürmt. Und meine Freunde warten und wollen mit mir über die Unsterblichkeit sprechen. Ich weiche dir nicht aus, Spinoza. Wir werden heute noch alles erledigen. Weniger für dich. Denn für dich werden wir alle Schwärmer bleiben, da du behauptest, ›die wahre Philosophie‹, also die einzige, zu besitzen. Aber für Leibniz und für Steno müssen wir manches aufklären, ganz zu schweigen von meinen eigentlichen Freunden.«

Für einen Augenblick legt sich jetzt Nebel über das Gefängnis. Spinoza schweigt. Er will sich nicht in die Angelegenheiten der Hellenen eindrängen, die er für minder wichtig hält. Er hat aber mich ins Auge gefaßt. Denn mich betrachtet er als Unerlösten, als Erlösungsunwürdigen. Und den Bischof an meiner Seite als einen Finsterling, der sich nicht scheut, die Heiden herbeizurufen, um den »Geist« zu bekämpfen.

Ich selbst beobachte nur mehr Spinoza und erwidere seinen Blick. Vielleicht ist es eine Schande, daß ich den herrlichen Fortgang der Unterredung so wenig miterlebe. Aber dieses mein Verhalten hat tiefe Gründe. Sokrates-Platon untersucht noch immer die Unsterblichkeit. Und stellt eine Seelenwanderungslehre auf. Eine Lehre, die mir, dem gläubigen Christen, fremd ist und die wahrscheinlich nicht einmal als hellenisch angesprochen werden kann. Denn Sokrates-Platon hat diese Lehre von den Pythagoräern, und Pythagoras hat sie aus Ägypten und Indien herübergebracht. Vielleicht auch Platon selbst aus Ägypten. Auch Spinoza und Steno sehen diesen Teil der Unterredung als pure Angelegenheit der Sokratiker an. Und eben darum lasse ich Spinoza nicht aus dem Auge. Denn Sokrates hat Entscheidendes angekündigt. Und Spinoza wird sofort aufhorchen, wenn dieses für ihn und mich Entscheidende zur Sprache kommt.

Jetzt ist Spinoza zusammengezuckt. Sokrates hat etwas Merkwürdiges gesagt:

»Nicht wahr, ein von Natur zusammengesetztes Ding muß wieder in die Teile zerfallen, aus denen es zusammengesetzt war? Wenn ein Ding aber unzusammengesetzt ist, kann es einen solchen Zerfall nicht erfahren ? Und weiter: Was da stets in sich verharrt und sich selbst gemäß ist, dürfte wahrscheinlich vor allem anderen unzusammengesetzt sein, alles Bewegte und Wechselnde hingegen zusammengesetzt.«

»Das ist die einzige Substanz, ist die unteilbare Wesenheit, ist die Gottwelt, was du da definiertest«, sagt Spinoza kalt und sicher. »Alles übrige sind aber die Attribute und die Modi. Also Denken, Ausdehnung und die Gegenstände.«

Sokrates blickt ihn freundlich lächelnd an.

»Ich wußte«, erwidert er, »daß schon deine ersten Grundsetzungen all das Ungeheuerliche verschulden, was du darüberbautest. Nein, Spinoza, weit gefehlt, so ist das ganz und gar nicht. Die Urbilder der Dinge sind das Unteilbar-Ewige, nicht deine einzige wesenlose und trotzdem allumfassende Substanz. Gleichheit, Schönheit, das Gute, das Wahre, das Größersein, das Kleinersein, und wie sie alle heißen mögen, unsre Ideen, sind das Beharrende, Unteilbare. Und alle Dinge, die du mit der Hand berühren, die du sehen, hören und riechen kannst, können an den Ideen mehr oder weniger teilhaben. Nähern sich ihnen in unendlicher Stufenfolge. Oder wie du es sagen willst. Und können auch gleichzeitig teilhaben an mehreren Ur-Bildern ...«

»Und noch einmal, Sokrates«, unterbricht ihn Spinoza. »Woher hast du deine Urbilder ? Sind das angeborene Einbildungen, sind es nachfolgende Abstraktionen ? Oder sind es gar irgendwelche mystische Geschöpfe, die in einem hypothetischen Jenseits hausen und von dort ihre ›Abbilder‹ beeinflussen ? Etwa so, wie man sagt, daß der Mensch nach Gottähnlichkeit strebe ? Du, Sokrates, würdest in deiner frivolen Ausdrucksweise davon sprechen, das Pferd strebe nach Pferdähnlichkeit und der Stein nach Stein-Ähnlichkeit. Kurz, du behauptest nur, drehst alles im Kreise und verwirrst alles.«

»Weniger als du, Wunderlicher!« antwortet Sokrates. »Du ahnst nicht, Spinoza, wie genau ich weiß, wohinaus ich will. Steno wird mich am ehesten verstehen, wenn ich behaupte, die Ideen zu schauen. Dir, der du mich als Schwärmer und dich selbst als Denker bezeichnest, sage ich es anders: Die Ideen entstehen nicht vor und nicht nach dem sinnlichen Wahrnehmen. Sie entstehen mit und während dem Wahrnehmen. Sie sind die Gestalt, die wir dem Chaos geben, weil unsre Erkenntnis Gestaltung ist. Während jedoch alle Sinneswahrnehmung bis zu einem Minimum schwinden kann, bleibt die Idee stets gleich. Zwischen Einheit und Vielheit etwa gibt es keinen Übergang. Es kann nicht etwas weniger oder undeutlicher Einheit sein. Ebensowenig ist nichts zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Und es gibt auch nichts, das zwischen warm und kalt vermittelte. Oder zwischen größer und kleiner, gleich und ungleich. Nein, Spinoza, es gibt nicht nur eine unteilbare, beharrende Substanz, es ist soviel Beharrendes in der Welt als es Ideen und soviel Wandelbares als es Erscheinungen gibt. Und diese Ideen sind noch mehr als die Substanz. Sie sind Ursachen der Dinge, sind Kräfte, die die Dinge erst zu Dingen machen. Aber ich muß mich jetzt wieder den anderen widmen, denn soeben hat der Gefängniswärter behauptet, er mische bereits den Schierlingstrank.« Und Sokrates wendet sich an seine Freunde: »Wo blieb ich stehen in meinem Gespräch? Doch dort, wo sich Anaxagoras, der große Philosoph, einmengte. So hört denn! Schon als Jüngling fühlte ich eine merkwürdige Sehnsucht nach dem, was man Naturwissenschaft nennt. Und ich suchte und suchte und fragte mich, ob nicht durch das Blut das Denken entstehe. Vielleicht aber sei das falsch und wir sehen und hören und riechen durch das Gehirn. Aus diesen Sinnesempfindungen entständen aber dann die Vorstellungen und das Gedächtnis, und daraus würde das Wissen geboren und die Vorstellungen kämen im Wissen zur Ruhe. Bald aber wurde ich durch diese Art, überall solche Ursachen zu suchen, ganz blind und ich verlernte alles, was ich früher gewußt hatte. Nun hörte ich eines Tages von der Lehre des Anaxagoras, daß nicht diese Ursachen alles ordneten, sondern daß die Vernunft der Allordner sei. Aber auch Anaxagoras ließ mich im Stich. Denn er behauptete zwar, die Vernunft ordne alles, er machte jedoch keinen Gebrauch davon, wenn er Wirkliches erklärte. Und er würde wahrscheinlich behaupten, meine Sehnen und Knochen seien die Ursache, daß ich jetzt hier sitze, wo die Ursache doch ausschließlich darin liegt, daß ich mich vor Tagen schon frei entschloß, hier im Kerker zu bleiben: der Idee der Gerechtigkeit folgend. Denn wenn nur die Knochen und Sehnen die Ursache wären, dann, beim Hunde, würde ich schon längst in Böotien oder Megara sein, wenn es mir nicht rechtschaffener und edler erschienen wäre, anstatt zu fliehen und davonzulaufen, die Strafe über mich ergehen zu lassen, welche die Stadt mir gab.« Und er wandte sich für einen Augenblick zu Spinoza und schloß: »Dorthin, mein Bester, führt meine Lehre. Sofern ich etwas lehren kann. Aber ich habe alles solcherart durchdacht, daß es auf zwei Dinge hinleitet. Jetzt aber will ich in deiner Sprache reden, du wunderlicher Spinoza. Meine Ideen leiten nämlich vom Mechanismus fort zu den Zwecken in der Natur und von der blinden Vorherbestimmung zur Freiheit des Willens. Und erklären damit in gleicher Weise Gott und die Welt, den Geist und die Natur; indem sie nicht so sehr zeigen, wie alles abrollt, sondern wie diese unsre irdische Erkenntnis überhaupt möglich ist; und wie doch gleichwohl Ewigkeit und nie endender Aufstieg nebeneinander bestehen können!«

»Ich bin nicht klüger geworden durch dieses Wirrsal«, erwidert Spinoza dumpf. »Und ich denke, auch Leibniz wird wenig gewonnen haben.«

Plötzlich beginnt sich alles zu verschieben, zu vermischen. Ein eisiger Hauch streicht um mein Antlitz, und die Fenster der Bibliothek klirren unter neuen Wellen des Nachtfrostes. »Opfere dem Asklepios einen Hahn!« tönt es noch aus den Urgründen. Es sind die letzten irdischen Worte des Sokrates. Er will damit zum Ausdruck bringen, daß er endgültig genesen ist. Denn man opfert dem Asklepios nur den Hahn, wenn schwere Krankheit von einem wich.

Ist Leben wirklich Krankheit? Und erst der Tod die Heilung? Hat auch Piaton so gedacht? Er, der Leuchtende, der Zerschmetterer? Nein, er selbst hat nicht so gedacht. Denn er hat uns das lichte Reich der Ideen, der Vor-Bilder gebaut, hat uns den Weg gezeigt, in Fülle zu leben. Denn nichts ist, das nicht ins Reich der Ideen eingehen, an ihnen teilhaben könnte. Keine Kluft mehr zwischen Wissen und Glauben, kein Abgrund zwischen Denken und Schauen. Denn Eidos-Idea, das Vor-Bild, ist geschaut in höherem Sinne, ist gehört, gefühlt. Hier beginnt die höchste Musik, die Weltweisheit! Weil wieder das Urbild der Musik nichts anderes ist als Harmonie. Und Harmonie zusammenklingende Vollendung, und Vollendung des Menschlichen der Weisheitsgipfel ist.

Die Kerzen sind niedergebrannt. Wie spät mag es sein? Kein Ton regt sich mehr in der Stadt. Nur das Knacken und Seufzen der Eichenborde durchbricht noch ab und zu die Stille.

Werde ich jetzt Platon folgen? Werde ich alles verlassen, verleugnen, was mir Spinoza gab? Oder werde ich jetzt, nach neuer mystischer Vereinigung, eigene Wege zu gehen beginnen?

Es ist ein Anfang. Noch verworren zeichnen sich vor mir die Umrisse der Gestalt Platons ab. Noch ahne ich mehr als ich weiß. Aber auf einem habe ich endgültig Fuß gefaßt: Auf den Hochebenen des freien Willens und der zweckvollen Natur! Wie ich aber meine eigenste Aufgabe lösen soll, wie ich mich würdig machen kann solcher mystischen Vereinigung, wie ich ein neues Stockwerk der Weltweisheit bauen werde, fest und tragfähig genug, daß Spätere das Dach türmen können, um das die Federwolken der Gottnähe schweben: das alles weiß heute nur »der« Gott!


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