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Achtzehntes Kapitel

Rückkehr aus England

Den braven Bürger schüttelt ein gelindes Grauen, wenn er das Wort »Doppelleben« hört. Er stellt sich sogleich Nachbarn vor, die bei Tag ebenso ehrbar leben wie er selbst, bei Nacht dagegen in weiß Gott was für Schlupfwinkeln und Tavernen umherschleichen, um dort fast unausdenkbare Abenteuer zu erleben. Daß es aber noch weitverwickeltere Formen eines Doppel- oder gar Vielfachlebens gibt, darauf verfällt der Bürger nicht. Noch weniger aber darauf, daß gerade in solchen vielfach lebenden Menschen die größten Sprengkräfte des Weltalls aufgestapelt liegen, weit unabsehbarer und dämonischer als bei denen, die dem Bürger Angst einjagen.

Leibniz war in den letzten Monaten – eben begann der Vorfrühling – in ein solches vielfältiges Leben geraten. Nicht zum erstenmal. Aber es hatten sich die zahllosen Seiten seiner Erscheinung, auch rein äußerlich, wieder einmal zu persönlichem Schicksal verknotet.

Er schritt, es war etwa elf Uhr abends, in seinem großen weißen Zimmer auf und nieder und warf manchmal einen Blick auf den Diener, der die Habseligkeiten seines Herrn aus den Koffern nahm und sorgfältig in die Schränke hing und zurechtlegte.

Leibniz war soeben aus England zurückgekehrt und das Rattern der Postkutsche lag ihm noch in allen Gliedern. Gleichwohl durfte er sich keinen noch so kurzen Augenblick der Ruhe gönnen. Denn eine sonderbare flatternde Unrast, ein dunkles, ängstigendes Gespenst war in und außer ihm. Und so liefen auch seine Gedanken kreuz und quer durch die Bereiche seiner verschiedenen »Leben«.

Gut, er war mehrere Monate drüben gewesen, auf der großen Insel der weißen Kreideklippen, der schweren Nebel, der roten elfenbewachsenen Schlösser und der Edelleute mit den hohen schwarzen Perücken. Sondergesandtschaft des Obermarschalls Schönborn. Ungeheure politische Aufregungen. In welchem Winkel der Vergangenheit lag schon das »Consilium Aegyptiacum?« Wieviel andersgeartete Wirklichkeit war schon über diesen seinen Traum hinweggestampft? Holland war zerschmettert und doch wieder nicht besiegt. Der Krieg loderte weiter, den Rhein entlang. Oder war das schon der Friede ? Alles war verstellt, verworren und unheildrohend. Sie waren beim König Englands gewesen, bei Karl II., um zu erreichen, daß alle Angelegenheiten Frankreichs und Hollands und alle Weiterungen, die das Deutsche Reich betrafen, einheitlich auf einem Kongreß in Köln verhandelt würden. Es mußte alles auf einmal bereinigt werden. Sonst flogen die Funken sogleich aus dem noch glimmenden Brandherd weiter, und jede böse Ahnung eines Krieges mit Deutschland ging in Erfüllung.

Daneben aber hatte das unbekannte Land Leibniz angelockt, sich ihm hinzugeben und es zu erforschen. Und ein neuer Schreck befiel den Suchenden, als er hörte, daß England sich eben des »goldenen Zeitalters der Wissenschaften« rühmte. Bald erhielt er Beweise. Denn der große Chymist Boyle wurde sein Bekannter, von den Ärzten Lyster und Sydenham erzählte man sich täglich Wunderdinge, Prinz Robert stieß in die Mechanik vor, Ray in die Pflanzenkunde, und hinter allen stand, für Leibniz unerreichbar, doch riesig, Sir Isaac Newton. Und auch an anderen Mathematikern gab es Überfluß, und man lächelte hier über manches, was Leibniz bisher als eigene Erfindung angesehen hatte, und man belehrte ihn, daß er es vollkommener und klarer in altbekannten Büchern finden könnte.

Auf einen Gipfel der Erregung jedoch war Leibniz gelangt, als er seine Rechenmaschine der Sozietät vorlegte und manche Anerkennung erntete; sich aber plötzlich ein Mechanicus, namens Moreland, gemeldet und höchst empört Prioritätsrechte geltend gemacht hatte.

Leibniz hatte schon das Gefühl gehabt, er sei wirklich nur ein unwissender Stümper aus dem armen Deutschland, ebenso vereinsamt und zurückgeblieben wie sein ganzes gepeinigtes Volk. Sollte er jetzt alles von vorn beginnen, oder gab es überhaupt kein Einholen der andren, Glücklicheren?

Hier allerdings, in diesem Punkt, der vielleicht der gefährlichste war, da ja sein Ansehen in Frankreich mit der Rechenmaschine stand oder fiel, hatte er mehr Glück gehabt, als mit seinen mathematischen »Entdeckungen«. Moreland hatte zu stark mit dem Patriotismus seiner Landsleute gerechnet und gehofft, der bloße Verdacht und die Beschuldigung allein würde den Ausländer aus dem Feld schlagen. Die Sozietät der Wissenschaften aber war der Sache auf den Grund gegangen, nicht ohne daß Schönborn sein Gewicht als Gesandter in die Wagschale geworfen hatte. Und es hatte sich herausgestellt, daß Morelands Maschine nichts war als eine Kombination der Pascalchen Maschine mit den ebenfalls längst bekannten Napierschen Rechenstäbchen. Also nicht entfernt Ähnliches leistete wie das Modell Leibnizens, vielmehr gegen dieses sozusagen um Äonen zurück war.

Gleichwohl hatte all das Auf und Ab dieser hochnotpeinlichen Debatte, die Verquickung diplomatischer mit persönlich wissenschaftlichen Angelegenheiten, die Geselligkeit, in die Leibniz hineingezogen worden war, und dazu noch der bohrende und neiderregende Vergleich Deutschlands mit diesen fremden, aufstrebenden Welten, Leibniz fast zermürbt. Seine Heimat, für die er arbeitete, sank stets mehr vor seinem Gedächtnis zu einem Schattenreich zusammen und er schwebte innerlich nicht nur zwischen den Nationen, sondern zwischen den Wissenschaften, Religionen und Charakteren, da er ja trotz aller heißen Heimatliebe von Natur eher die Stärken als die Schwächen jeder Erscheinung sah und dadurch zwar zum Harmoniker vorausbestimmt, jedoch auch wieder fast eines starren Ichs beraubt war.

Und nun war er wieder, Schönborn voraneilend, in Paris eingetroffen und war sich unklarer denn je, was er eigentlich beginnen sollte. Um so unklarer, als sein Schützling, der junge Boineburg, inzwischen seiner Führung fast vollkommen entglitten zu sein schien.

»Wo ist Herr Philipp Wilhelm?« fragte er den Diener, der noch immer mit dem Auspacken beschäftigt war.

»Ich weiß es nicht, gestrenger Herr Doktor«, erwiderte der Diener ausweichend.

»Es wird doch festzustellen sein?« Leibniz legte eine gewisse Schärfe in seinen Ton.

»Ich werde mich erkundigen. Soll ich es sofort tun?«

»Es wäre mir erwünscht.«

Seufzend stand der Diener, der eben noch gekniet war, auf und ging hinaus.

Nach einiger Zeit erschien er in Begleitung des Kutschers wieder, der die Equipage des Obermarschalls lenkte.

»Der Kutscher weiß Bescheid«, sagte der Diener und kniete sich wieder vor den Koffer.

»Nun?« fragte Leibniz und blickte den Kutscher an.

»Herr von Boineburg fuhren zum Theater.« Der Kutscher stockte.

»Da müßte er wohl schon zurück sein.«

»Ich führte ihn nach dem Theater noch zu Freunden. Er entließ mich dann, da er vielleicht auswärts übernachtet.«

»Ach so!« Leibniz wollte nicht den Anschein erwecken, als ob er seinem Schüler nachspioniere. »Damit Sie mich richtig verstehen. Ich muß Herrn von Boineburg dringendste Nachricht überbringen. Ist das möglich?«

»Heute noch? In der Nacht?« Der Kutscher schien die Falle zu wittern.

»Gewiß. Heute noch. Also wo kann ich ihn treffen?«

»Herr Doktor Leibniz könnten zufällig hinkommen?« Der Kutscher war so verlegen, daß er stammelte.

»Das ist meine Sache. Sie mißverstehen übrigens die Angelegenheit vollständig. Herr von Boineburg kann tun und lassen, was er will. Ich bin sein Lehrer, nicht aber sein Vormund oder seine Amme. Also los, wo steckt er?«

»Es ist da draußen ein Haus ...«

»Das ist keine Auskunft.«

»Euer Gnaden, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, es ist ganz neu.«

»Nun und?«

»Es ist ein Haus, eine Art Tanzhaus, wo viele junge Edelleute verkehren. Es sind Mädchen dort. Aber bitte nicht falsch zu verstehen, Euer Gnaden! Es ist kein verrufenes Haus. Ein feines, vornehmes Tanzhaus.«

Leibniz mußte lächeln.

»Nun, kann jeder in dieses neue, vornehme Haus einfach eintreten, oder muß man eingeführt werden?«

»Jeder, der Geld und gute Kleider hat, kann hinein. Sonst werfen einen die Edelleute hinaus.«

»Also gut. Spannen Sie ein und führen Sie mich hin. Nicht erschrecken! Nur in die Nähe. Ich werde mich inzwischen, bis der Wagen fertig ist, möglichst elegant kleiden. Damit mich die Edelleute nicht hinauswerfen ...«

»Ich habe das nicht so gemeint.«

»Schon recht, mein Lieber, aber jetzt schnell! Herr von Boineburg könnte Sie sonst schelten, wenn er meine Nachrichten zu spät erhält.«

Der arme Kutscher, der genau wußte, daß er in eine Zwickmühle geraten war, gleichwohl jedoch keinen Ausweg sah, empfahl seine arme Seele Gott und lief hinunter zu den Pferden, denen er beim Anschirren, untermischt mit Flüchen, sein Leid klagte.


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