Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel

Der Haß der Söhne

Boineburg veränderte plötzlich seine Haltung. Seine Züge glätteten sich und er antwortete vollständig beherrscht:

»Was fällt Ihnen ein, Herr Leibniz? Sie werden jetzt zur Strafe hier bleiben. Und hinunter an unseren Tisch kommen. Es liegt mir nämlich am Herzen, Sie von manchen Dingen zu überzeugen, die Sie trotz Ihrer großen Gelehrsamkeit sicher nicht wissen. Wegen der Dame können Sie sehr unbesorgt sein. Mich verbindet mit ihr aufrichtige Freundschaft.«

Leibniz war über den jähen Wechsel in der Taktik Boineburgs sehr erstaunt. Wollte der Jüngling bloß einlenken? Wo er noch vor wenigen Minuten beinahe an den Degen gegriffen hatte? Das war alles nicht so einfach, wie es schien. Wahrscheinlich schob Philipp Wilhelm seine Rache bloß auf. Oder er wollte nur mehr erfahren, ohne sich vor Leibniz oder vor der Dame bloßzustellen. Trotz dieser klaren Erkenntnis überkam Leibniz ein brennendes Mitleid mit Philipp Wilhelm und eine würgende Angst und Unruhe, die mit den gegenwärtigen Ereignissen gar nicht zusammenzuhängen schien. Und diese Angst wurde so mächtig, daß er dem Jüngling die Hand reichte und sagte: »Ich danke Ihnen für die Einladung, Philipp Wilhelm. Ich folge ihr gern. Ich bin sehr froh, mich ein wenig ablenken zu können. Denn es ist ein unerträgliches Grauen in mir, für das ich vergeblich nach einem Vernunftgrund suche. Gehen wir also!«

Der Ton dieser Worte sprang sofort auf Boineburg über. Denn er blickte Leibniz fast erschrocken an. Er kannte Leibniz zu gut, kannte dessen Ruhe und Abgeklärtheit in jeder Lage. Deshalb, so schloß er unwillkürlich, mußten furchtbare Dinge vorgehen. Oder sich vorbereiten. Unerklärliches Grauen ? Wer hatte von Leibniz schon derartiges gehört? Und Leibniz schien so benommen von diesem Grauen, daß er weder Zeit noch Lust hatte, gegen ihn zu kämpfen.

»Willst du mit uns hinunterkommen, Diane?« fragte Boineburg leise und trat zur Dame an die Brüstung.

»Ich möchte mich für heute entschuldigen, Philipp Wilhelm. Du wirst es mir verzeihen. Außerdem sei sicher, daß alles anders war, als du es vermutest. Ich sage das nur, weil es die Wahrheit ist.«

»Es scheint die Wahrheit zu sein«, murmelte Boineburg verwirrt. Er wußte selbst nicht, woher ihm diese Gewißheit kam. Er stand irgendwie unter einem Bann. Und es war ihm auch nicht unerwünscht, daß Diane für heute dem Gesichtskreis Leibnizens entschwand. Denn Leibniz würde sie sicher nicht suchen. Weder morgen, noch übermorgen, noch irgend wann. Darum küßte er ihr die Hand und geleitete sie über die Treppe hinunter. Leibniz folgte den beiden und empfahl sich unten von Diane. Er drückte ihr die Hand und sagte hell und leise:

»Ich hoffe, Sie in Ihren Träumen nicht gestört zu haben, mein Fräulein. Dafür aber, daß Sie mich träumen ließen, danke ich Ihnen in tiefer Innigkeit.«

Sie nickte nur wie abwesend und wandte sich einer Zofe zu, die sie beim Ausgang erwartete. Über das Gesicht Philipp Wilhelms aber huschte ein boshaftes Lächeln. Er zweifelte nicht mehr, daß die beiden nur geträumt hatten. Gleichwohl war auch dieses Träumen schon ein Eingriff Leibnizens in seine Rechte. Er würde jedenfalls bald dafür sorgen, daß Leibniz erwachte. Seine milde Stimmung gegen den Lehrer war wieder verflogen. Er haßte ihn jetzt, vielleicht deshalb, weil er keinen Angriffspunkt mehr fand. Leibniz hatte sich nicht auf die Ebene dieses Hauses begeben. Er hatte »geträumt« und hatte aus der wilden, lasterhaften Diane eine verschlossene, preziöse Dame gemacht. Schrecklich, wie solche Kälte ansteckte. Vor wenigen Minuten wäre er selbst fast neuerlich in den Bann dieses kosmischen Spielverderbers geraten, der ärger war als alle Beichtväter und alle eifernden Mönche. Leibniz sollte aber bald sehen, daß er nur ein halber Mensch war.

Und Boineburg schob lächelnd den Arm unter den Arm des Lehrers, leitete ihn durch die Tür in den Saal und sagte:

»Schelten Sie meinetwegen meinen Lebenswandel. Aber vielleicht erst dann, wenn Sie gesehen haben, was ich außer Diane hier suche.«

»Ich habe Sie niemals für eine flache oder einseitige Natur gehalten, Philipp Wilhelm«, erwiderte Leibniz ein wenig abweisend. »Ich betonte auch heute schon deutlich, daß ich Ihre Freiheit nicht beschränken will. Ich habe Sie auch, entgegen meiner Pflicht, niemals angeschwärzt. Aber, lieber Philipp, Sie vergessen eines. Daß ich Ihrem Vater unsagbar viel verdanke und daß Ihr Vater sehr bestimmte Ansichten über Ihre Erziehung hat, die Ihren Wünschen durchaus nicht immer entsprechen. Sie machen mir dadurch meine Aufgabe ein wenig schwer.«

»Ich werde bald einen Weg finden, Ihre Sorgen zu erleichtern«, sagte Boineburg kalt. »Jetzt aber wollen wir uns zu den anderen setzen. Dort ist meine Gesellschaft.« Und er führte Leibniz zwischen den Tischen durch, an denen junge Edelleute spielten oder scherzten. In der Mitte des Saales verbeugten sich eben die Paare in zeremoniellem Reigentanz.

Leibniz musterte schnell und unauffällig die »Gesellschaft« Boineburgs. Es waren drei junge, verschwenderisch gekleidete Herren und einige Mädchen. Die Farben der bunten Röcke und Tressen, all das Rot, Blau, Gelb, Grün, die Seiden, Spitzen und Tuche, das glitzernde Gold auf den Kleidern dieser anscheinend sehr reichen Jünglinge, bot ein verwirrendes Bild. Ein wenig schlichter und eher soldatisch wirkte ein vierter Edelmann mit großen blauen Augen und einem hellblonden Bärtchen, der abseits saß und den linken Arm in der Schlinge trug.

Die ganze Gesellschaft unterhielt sich lärmend und sehr selbstbewußt.

»Nun, haben Sie Ihre Diane wiedergefunden, Philipp Wilhelm?« rief einer der Edelleute Boineburg entgegen.

»Gewiß«, erwiderte Boineburg ostentativ lachend. »Sie ging aber schon nach Hause. Sie hat Launen wie jede Frau. Ich habe aber zum Ersatz für Diane meinen hochweisen Lehrer mitgebracht.«

Ein schmetterndes Gelächter der schon etwas angeheiterten Jünglinge antwortete diesem Scherz.

Wenn nun auch Boineburg sicher eine Stichelei beabsichtigt hatte, war er über die Wirkung seiner Worte doch erschrocken und blickte auf Leibniz.

Dieser aber tat das einzig Mögliche. Er lachte mit und sagte: »Bei Gott, ein sehr mangelhafter Ersatz! Ich finde fast, daß Herr von Boineburg die schöne Diane blasphemiert.«

Der Ton Leibnizens, von dem man nicht recht wußte, ob er spöttisch oder ernst gemeint war, erzeugte sofort eine gewisse Ernüchterung. Allerdings, ohne den Hochmut der Jünglinge wesentlich zu dämpfen.

»Wollen Sie uns nicht den Herrn Lehrer vorstellen?« meinte ein zweiter Edelmann gelangweilt.

»Es ist Herr Leibniz, derzeit in kurmainzischem Dienst, verehrter Marquis«, sagte Boineburg nebenhin.

»Also auch ein Deutscher«, quittierte der dritte Edelmann die Angelegenheit. »Das wird vielleicht den Grafen Tschirnhaus interesssieren.«

Bei der Nennung seines Namens blickte Walter Graf Tschirnhaus – der kriegerische junge Mann mit dem Arm in der Schlinge – auf und nickte.

»Wohl ein Philologe oder Historicus?« sagte er sehr herablassend. Dann kritzelte er weiter auf einem Blatt Papier, das vor ihm lang.

Leibniz antwortete nicht. Er sah jetzt deutlich, oder besser, er glaubte zu sehen, was Boineburg ihm aus Rache zugedacht hatte. Philipp Wilhelm hatte die Einführung des Gastes in diesen mehr als selbstbewußten Kreis ja auch in einer Art vorgenommen, die keine anderen als die tatsächlich erfolgten Ergebnisse zeitigen konnte. Ein lächerlicher Schulmeister, ein halber Domestike, das war der Eindruck, den Philipp Wilhelm durch geflissentliches Verschweigen von Rang und Titel erzeugt hatte. Gut, sollte der Knabe seine Freude haben. Schon mehr Dinge im Leben Leibnizens hatten ähnlich begonnen, um dann als Niederlage der anderen zu enden. Aber selbst das wünschte er heute nicht. Er war zu müde und zu erregt, um sich durchsetzen zu wollen.

»Nehmen Sie, bitte, Platz!« sagte Boineburg kühl und rückte einen Stuhl zurecht. Und zwar so, daß Leibniz gegenüber von Tschirnhaus zu sitzen kam.

Die Musik spielte und die anderen unterhielten sich schon wieder, manchmal in sehr zweideutiger Weise, mit den Mädchen. Auch Boineburg beteiligte sich an diesen Frivolitäten.

Leibniz drehte sich, um nicht eine allzu lächerliche Rolle zu spielen, fast ganz herum und sah den Tanzenden zu.

Als schon geraume Zeit verstrichen war, lachte Philipp Wilhelm plötzlich sehr unvermittelt auf.

»Sie denken wohl, Herr Leibniz,« sagte er dann leise, »daß sich in diesem Kreise nur Nichtstuer und Ignoranten befinden?«

»Ich hatte noch nicht den Vorzug, einen der Herren näher kennen zu lernen. Noch weniger habe ich Grund, mich mit den Eigenschaften dieser Herren innerlich zu beschäftigen. Soviel ich sehe, will man sich unterhalten, sonst nichts.«

»Darin eben irren Sie. Blicken Sie nur einmal zum Grafen Tschirnhaus hinüber. Und zum Marquis von Fouchiere. Die beiden grübeln eben über tiefste Dinge.«

Der Marquis schien etwas vom Geflüster Boineburgs verstanden zu haben. Denn er hob den Kopf und fiel ein:

»Lassen Sie uns zufrieden, Philipp Wilhelm! Es kann Sie doch nicht stören, wenn wir Probleme lösen.«

»Im Gegenteil«, sagte Boineburg schnell. »Ganz im Gegenteil. Ich wollte meinem Lehrer nur eine Lektion erteilen. Er ist nämlich der Ansicht, daß Gelehrsamkeit sich nur mit Askese verträgt.«

»Sie sind heute sehr ausfallend, Philipp Wilhelm«, lehnte Leibniz kühl ab. »Außerdem glaube ich, daß den Herren meine Ansichten höchst gleichgültig sind.«

»Das vielleicht«, fuhr Boineburg auf. »Mir aber sind sie nicht gleichgültig, da ich unter ihnen leide. Und darum erlasse ich es Ihnen nicht, Sie auf den Grafen Tschirnhaus hinzuweisen. Ob Sie es nun wollen oder nicht. Sehen Sie, Tschirnhaus ist ein erleuchteter Mathematiker. Er hat in Leyden studiert ...«

»Ich zweifle nicht daran«, lächelte Leibniz.

»Gut, Sie zweifeln nicht daran. Aber Tschirnhaus ist auch ein großer Patriot. Er hat an der Spitze einer Schar deutscher Freiwilliger für Holland gegen Frankreich gekämpft ...«

»Was wir ehren und begreifen«, fiel der Marquis ein. »Wir haben inzwischen Waffenstillstand geschlossen.«

»Und derselbe Tschirnhaus sitzt jeden Abend hier, gleich mir und den anderen.«

Leibniz schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen, Philipp Wilhelm«, sagte er müde. »Auch der große Descartes hat mitten im Kriege im Feldlager, Mathematik getrieben. Und bei den griechischen Gastmählern hat man bei Wein und Flötenspiel Tiefstes verhandelt. Ich habe nie behauptet, es sei unmöglich. Ich merke nur bei Ihnen selbst keine solche Betätigung.«

Tschirnhaus lachte gutmütig. Boineburg aber biß sich auf die Lippe. Er sah ein, daß er sich verrannt hatte. Und schwieg.

Leibniz aber hatte einen flüchtigen Blick auf die Zeichnung geworfen, über die eben der Marquis und Tschirnhaus diskutierten.

»Ein bisher ungelöstes Tangentenproblem des Blaise Pascal«, sagte Graf Tschirnhaus in gönnerhaftem Ton, als er den Blick Leibnizens merkte. »Mir ist eben die Lösung geglückt.«

»Eine berauschende Leistung!« sekundierte der Marquis.

»Dürfte man in die Zeichnung Einblick nehmen?« fragte Leibniz.

»Verstehen Sie etwas von Mathematik?« Graf Tschirnhaus lächelte mokant.

»Ein wenig.« Leibniz wollte sich aus dem Gespräch zurückziehen, da er den Ton kaum mehr ertrug. »Sie wissen selbst, Graf Tschirnhaus, daß in Deutschland der mathematische Unterricht noch nicht sehr hoch entwickelt ist.«

Das Gespräch wäre auch versandet, wenn nicht Boineburg, der sich einbildete, die Kenntnisse des Grafen Tschirnhaus seien denen Leibnizens weit überlegen, sich wieder eingemischt hätte.

»Zeigen Sie ihm nur Ihre Entdeckung«, sagte er zu Tschirnhaus. »Ich bin begierig, was er daran aussetzen wird.«

Tschirnhaus reichte über den Tisch hin das Blatt Leibniz, der es eine kurze Weile betrachtete. Dann gab er es zurück und bemerkte abwehrend:

»Sie gestatten mir doch, Graf Tschirnhaus, mich jeder Äußerung zu enthalten. Mir sind das Problem und seine bisherigen Lösungsversuche bekannt.«

»Was heißt diese orakelhafte Antwort ?« Der Marquis fuhr auf. »Nichts als die Bitte, schweigen zu dürfen«, wiederholte Leibniz.

»Das ist eine Verdächtigung«, erwiderte der Marquis. »Oder aber ein ganz und gar unbegründeter Zweifel.«

»Lassen Sie ihn!« sagte Tschirnhaus. »Es gibt Leute, besonders unter Lehrern und Erziehern, die niemals eine Leistung anerkennen wollen. Sie sind dazu einfach nicht imstande. Er will schweigen. Gut. So soll er schweigen. Wenn er etwas zu reden wüßte, würde er es von sich geben.« Und er rechnete achtlos weiter.

Leibniz, der einsah, daß seine Lage unerträglich wurde, wollte eben aufstehen und sich empfehlen, als Boineburg höchst pathetisch einfiel:

»Ich bin für den Gast, den ich einführte, verantwortlich. Deshalb fordere ich Sie auf, Herr Leibniz, Ihre verletzenden Andeutungen zu rechtfertigen.«

Leibniz war am Ende seiner Geduld. Haßten ihn wirklich alle Söhne? Es schien so.

»Ich habe gar nichts zu rechtfertigen«, erwiderte er so schneidend, daß alle aufhorchten. »Schließlich bin ich Mitglied der französischen und englischen Sozietät der Wissenschaften. Beides auf Grund physikalischer und mathematischer Arbeiten. Ich will nur sagen, daß ich eben infolge dieser wissenschaftlichen Stellungen berechtigt bin, jede wissenschaftliche Tat unter dem einzig maßgebenden Gesichtspunkt zu prüfen, ob sie richtig oder falsch ist. Etwas andres gibt es da nicht. Gesellschaftlich aber besteht die Möglichkeit, den Takt zu wahren oder ihn zu verletzen.«

»Was soll das wieder heißen?« Der Marquis wurde grellrot im Gesicht.

»Nichts, das Sie kränken könnte, Marquis«, erwiderte Leibniz. »Ich wollte mich nicht näher über die Leistung des Grafen Tschirnhaus äußern, weil sie ebenso originell als elegant ist. Wie gesagt aus Takt.«

»Nun und?« Der Marquis lachte verzerrt. »Wozu brauchen Sie ihren Takt, wenn etwas richtig, originell und noch dazu elegant ist?«

»Weil die Lösung eben nicht allgemein ist.« Leibniz wurde jetzt scharf. »Sie ist richtig. Aber nur für einen Spezialfall, für einen Grenzfall, den Graf Tschirnhaus rein zufällig bearbeitet hat. Das Problem selbst bleibt ebenso ungelöst wie bisher. Das allgemeine Tangentenproblem nämlich.«

»Wie, was behaupten Sie da? Tschirnhaus griff sich an den Kopf. »Was sagen Sie dazu, Marquis? Aber ich will mich jetzt nicht herumstreiten. Gehen wir auf den Balkon, Marquis!« Und er stand auf und nickte nur leicht mit dem Kopf. Der Marquis folgte ihm.

»Ich werde Ihnen das nicht so schnell vergessen, Herr Leibniz!« zischte Boineburg. »Sie sind ein Teufel! Aber Ihre Intrigen werden bald auf Sie selbst zurückfallen.«


 << zurück weiter >>