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An einem nebelverhangenen Novembertag, an dem ein frostigfeuchter Wind über die norditalischen Ebenen strich, öffnete Leibniz die knarrende, schmiedeeiserne Gittertür, die in den verlassenen Friedhof der Karmeliter-Abtei la Badia della Vangadizza führte. Schweigend und ergeben trug ein dienender Bruder des Klosters dem sonderbaren Fremden einen uralten Hocker aus dunklem Holz nach, auf dem dieser Fremde trotz der Kälte viele Stunden täglich vor den verwitterten Marmortafeln an der Außenwand der Kirche zu sitzen pflegte. Man fragte nicht weiter, was er damit bezweckte. Der Abt hatte befohlen, den Tedesco in jeder Weise zu unterstützen und damit war die Sache erledigt. Auf jeden Fall war der Fremde ernst, fromm und freundlich. Und duldete um einer anscheinend heiligen Sache willen alle Mühe. Daher zogen sich auch zwei Padres, die in ihren grauen Kutten und mit ihren weißen, schwarzgefütterten Hüten eben in jenem wildumwucherten Teil des alten Friedhofes auf und nieder gewandelt waren, nach demütigem Gruß sofort zurück, als Leibniz zwischen den Taxushecken und Zypressen erschien und sich, enge in einen ebenfalls dunkelgrauen Mantel gehüllt, auf dem Hocker niederließ und einen Zeichenblock auf seine Knie legte.
Die Bilder aber, die vor dem inneren Auge Leibnizens vorüberzogen, hatten wohl kaum entfernte Ähnlichkeit mit der beinahe farbenlosen Eintönigkeit, die ihn hier umgab und die nicht nur den Himmel, die Gebüsche, den Erdboden, die Umfassungsmauern der Abtei und die Kirchenwand, sondern sogar die Kleider der Menschen und die alten abgeschliffenen, verwaschenen Marmortafeln überkommen zu haben schien.
Er war, so viel stand fest, durchaus nicht Custode der Vatikanischen Bibliothek mit der Anwartschaft auf den Kardinalshut geworden, obgleich ihm dieser Antrag viele Tage lang den Schlaf geraubt hatte. Um so mehr, als sich ihm stets wieder die Frage aufdrängte, ob nicht doch das »Rosenkranzwunder« in der Barke ein Zeichen gewesen sei, dem er zu gehorchen habe. Denn aus der Aufeinanderfolge der weiteren Ereignisse hätte selbst ein weniger gläubiges Gemüt als Leibniz schließen müssen, eine höhere Macht habe ihn nur darum in der Barke vor dem unglücklichen Ausgang und vor dem Abrollen rein kausalen Geschehens bewahrt, damit er dorthin gelangen könnte, wo ihn eine ganze Stadt – Rom selbst – quasi per inspirationem, wie durch Eingebung, in den zweithöchsten Rang katholischer Hierarchie hatte erheben wollen. Aber aus anderen zwar dunklen, doch unbezwinglichen Gemütstiefen meldeten sich die Gegenkräfte. Würde er, so hatte es in ihm gefragt, auch als Custode der Bibliothek des Vatikan wirklich und unmittelbar seinem noch immer bedrängten Volke dienen können? Und er hatte nach reiflicher Erwägung diese Frage verneint. Zum zweiten jedoch meldeten sich die Ansprüche seiner in den letzten Jahren stets zu klarerer Form sich durchringenden Philosophie. Nicht, daß er etwa eine Freiheit des Philosophierens im Spinozistischen Sinn gefordert hätte. Aber irgendwo im Untersten war sein philosophischer Kosmos, besser die Begrenzung seiner Freiheit, mit dem Glauben seiner Väter verknüpft. Und er hatte sich in all den schlaflosen Nächten wohl hundertmal die Worte vorgesagt, die er einst an den Markgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels geschrieben hatte, vor allem jenes »Turpius ejicitur quam non admittitur hospes«. Sicher war es besser, daß der Fremde nicht zugelassen als wieder hinausgewiesen wurde. Und wenn auch die Grundpfeiler seiner künftigen Philosophie vielleicht nur von einigen Mönchen verdammt, von frommen Bischöfen und Theologen aber wahrscheinlich ohne weiteres gebilligt oder zumindest geduldet werden würden, war es gleichwohl für ihn unmöglich, sich selbst um den Preis der Kardinalswürde einem solchen »Vielleicht« auszusetzen oder aber zum ewigen Schweigen über diese Grundlagen seines philosophischen Lebenswerkes verurteilt zu sein.
So war er, glücklich und wehmütig zugleich, aus der heiligen Stadt geflohen, hatte das Gefühl nicht unterdrücken können, gleichsam so viele liebebereite Herzen zurückgestoßen zu haben. Und war noch weiter nach Süden, nach Neapel vorgedrungen, um sich im Angesicht des Naturwunders des Vesuv und der klassischen Stätten von Misenum und Capri zugleich in die Reiche der Geologie und der Antike zurückzuziehen.
Doch auch diese kurzen Tage der Selbstvergessenheit nahmen ein rasches Ende. Denn dringende Briefe des »Sonderlings« Magliabechi riefen ihn nach Florenz. Und in dieser Stadt wieder ergriffen ihn die noch allenthalben sichtbaren Wunder des Rinascimento. Beinahe geriet er hier in die Fährten Stenos aus Jütland. Durch Magliabechi, der hier, am Ort seiner Tätigkeit, wie eine Spinne im Netz saß und vergraben zwischen seinen Bücherbergen den Ruf des Sonderlings rechtfertigte, den er allenthalben genoß; da er sogar zwischen den Büchern in der Bibliothek aß und schlief; und alle Wissenschaft aller Welt auswendig hersagen konnte, ohne für sich selbst davon den geringsten, dieses Wissen verbindenden Nutzen zu ziehen: durch diesen Magliabechi also wurde er mit anderen, nicht weniger sonderlichen Fossilien des Rinascimento bekannt. Vor allem mit dem letzten lebenden Schüler des Galilei, mit Viviani, der die archimedische Schule der Exhaustion, der annäherungsweisen Quadraturen und Kubaturen, zu einer unerreichten Meisterschaft ausgebildet hatte, und stolz und siegespolternd mit seiner Schülerschar durch die Gassen wandelte, während er den Jünglingen peripatetisch Probleme stellte. Gleichwohl aber war dieser Viviani wissenschaftlich ein Todgeweihter, ein durch Leibniz selbst Todgeweihter, ohne daß er es ahnte, als er den Fremden mit offenen Armen empfing und ihm kraftbewußt seine ungewöhnliche Kunst vorführte.
Es war für Leibniz nicht leicht gewesen, diesen letzten großen Handwerker des Infinitesimalen, den er bewunderte, darüber hinwegzutäuschen, daß er, Leibniz, in seinem Differential- und Intregalkalkül Methoden besaß, die in wenigen Minuten dasselbe leisteten, wozu Viviani mehrere Tage brauchte, und darüber hinaus noch die Hintergründe der Probleme in weit andrer Exaktheit und Allgemeinheit sichtbar machten. Das naive und freundliche Selbstbewußtsein des Florentiners, der alles Neuere einfach nicht verstehen wollte und für eine Art höherer Spielerei oder gar für Jahrmarktskunststücke ansah, hatte es Leibniz erleichtert, den Takt zu wahren. Und so war es vorläufig zu keiner Verstimmung gekommen.
Aber nicht nur mit Viviani, auch mit dem Mathematiker Bodenus (der ein Abt und seinem wahren Namen nach ein Baron von Bodenhausen war) und nicht zuletzt mit dem gelehrten Prinzen Gasto von Toscana hatte er Freundschaft geschlossen. Und als er von Florenz schied, hatten ihn der Großherzog und alle anderen nach Bologna weiterempfohlen, wo er wieder mit dem Chymisten und Mathematiker Domenico Guilielmini und dem weltberühmten Anatomen Malpighi Freundschaft schloß.
Von Bologna war es nach Modena weitergegangen, und hier war er im Verkehr mit dem Arzt Ramazzini auf ein Werk dieses Arztes gestoßen, das ihm Bewunderung abnötigte und das er auch in Deutschland später einmal zu verwirklichen beschloß. Ramazzini hatte nämlich in den »Annalen der Lombardei« eine Sammlung geschaffen, in der alle Ärzte des Landes ihre Beobachtungen und Erfahrungen niederlegten und die gleichsam jedem einzelnen Arzt das Gesamtwissen aller Kollegen zur Verfügung stellte.
Diese Reise durch das geistige Italien war aber für Leibniz nur die Oberfläche und eher eine Art persönlichster Leidenschaft gewesen. Denn in der Hauptsache war er, zähe und verbissen, den Spuren weiter gefolgt, die ihn schon seit Jahren gegen den Ursprung des Welfenhauses durch die dunklen Zwischenräume des noch unerforschten Mittelalters zurücktrieben. Und eben vor wenigen Tagen hatte ihn der letzte Fingerzeig der »Testimonia«, der beglaubigten Quellen, all der Urkunden, Adelsbriefe, Chroniken, Münzen, Monumente, in die schweigenden Bereiche der verfallenen Karmeliter-Abtei geführt, in der sich das letzte Rätsel der Ursprünge des Welfenhauses enthüllen mußte, wenn nicht alles zu einer wesenlosen Chimäre zusammensinken sollte.
Und wieder zog Leibniz den Mantel enger um den Leib. Denn ein feiner Sprühregen hatte begonnen und überrieselte sein Gesicht. Er achtete aber kaum mehr der Umgebung, da sich die ausgebrochenen, verwitterten Buchstaben auf den Marmortafeln, die wegen ihrer altertümlichen Linienführung selbst in unberührtem Zustande schon schwer genug zu entziffern gewesen wären, plötzlich zu sinnvollen Worten, Sätzen und Namen zusammenzuschließen begannen. Die Wappen aber, die oberhalb der Inschriften und Jahreszahlen nur mehr als weiche, verschwimmende Erhebungen mit Umrissen, die man mehr ahnte als sah, aus dem durchäderten Stein sich abhoben, bekamen gleichfalls unvermittelt greifbare Gestalt.
Sollte es harte, unleugbare, unumstößliche Wirklichkeit sein, was da auf den Steinen stand? War er dorthin gelangt, wohin er gelangen wollte? Was für einen Sinn aber hatte es, auf diesen zerbröckelnden Stein mehr zu achten als auf die Gegenwart, auf die Zukunft? Was also ist Geschichte, wie ich sie auffasse? Geschichte, deren Realität erst zum Vorschein kommt, wenn ich direkt oder auf Umwegen das mit Händen greifen kann, was sich vor Jahrhunderten, Jahrtausenden begab? Wenn ich nicht nur auf die vagen, vielfach entstellten Angaben und Erzählungen angewiesen bin, die sich von Mund zu Mund durch die Zeiten zu uns herauf forterbten, um uns als »Tradition« oft ein durchaus verfälschtes und von Zwecken verunreinigtes Bild vergangenen Geschehens vorzugaukeln? Wozu dient Geschichte? Genügt es nicht, wenn ich ganz im allgemeinen weiß, daß so und so viele Jahre vor mir verflossen sind und ungefähr diesen und diesen Inhalt hatten? Ungefähr. Nebelhaft. Wie die Rückerinnerung an eigenste Kindheit. Nicht jedoch gestützt auf »Testimonia«, auf beglaubigte Quellen, die mir oft erst wieder auf krausen Umwegen durch andre Wissenschaften zugänglich werden.
Nein, eine solche »Geschichte« genügt nicht! Es genügt nicht einmal die genaue und belegte Sammlung vorgefallenen Geschehens. Denn solches Beginnen entspräche, um mit Platon zu reden, erst der Stufe der Wahrnehmung, kann also niemals zur Epistéme, zum wahren Wissen, werden. Was also soll dann in aller Welt Geschichte sein, wenn weder das nebelhafte, noch das deutliche Bewußtsein von den Ereignissen der Vergangenheit genügt? Versuchen wir, wieder mit Sokrates-Platon, eine zweite Geburt. Fingieren wir einmal eine Doxa, eine Meinung über das, was wir als Ereignisse der Vergangenheit erkannten. Was aber heißt solche Meinung? Sind da nicht wieder jedem Phantom, jedem Relativismus Tür und Tor geöffnet?
Der innerste Zweck und Sinn der Geschichte muß also ein andrer sein. Geschichte muß irgendwie Bestandteil und nicht Gegensatz einer höheren Wirklichkeit werden. Wie aber? Gibt es auch Dämonen der Geschichte, die uns ihre Geheimnisse zuraunen? Es gibt diese Dämonen. Ich fühle sie um mich, während ich die verwitterten Tafeln anblicke, die mir durchaus nicht nur den Text von Inschriften, sondern viel mehr erzählen. Etwas greift aus diesen »beglaubigten Quellen«, diesen »Testimoniis« nach mir, erfaßt mich im Innersten, erzeugt mir ähnliche Schauer, wie das geheimnisvolle Werden mathematischer und philosophischer Erkenntnisse. Die Dämonen der Geschichte flüstern mir zu, sie hätten die Zeit zerbrochen. Was soll das heißen? Soll es heißen, daß nur Dinge wirkliche Geschichte sind, die heute noch wirken können? Daß die Geschichte aus Kräften besteht, die nur scheinbar zeitlich mir vorgeordnet, in Wahrheit jedoch mir dynamisch zugeordnet sind? Ist das Heute also eine Integration alles Vergangenen? Und daher nichts andres als der vorläufige Endpunkt einer Kurve, die ich gleichsam nur forschend in negative Koordinatenbereiche zurückverfolge, wenn ich Geschichte treibe? Ein unheimlicher Gedanke, den mir da die Dämonen zugeraunt haben. Ich könnte also, wenn ich ins beliebig Kleine vordringen wollte, sozusagen den Differentialquotienten der Gegenwart berechnen, könnte Gegenwart, das unermeßbare Heute, als Geschichte durchleuchten und aus diesem Heute das Gesetz des Weltlaufs ablesen.
Wozu aber suche ich dann wieder die »Quellen«? Bin ich in meinen Überlegungen nicht in neue phantastische Dickichte geraten, aus denen es kaum einen Ausweg gibt?
Ich werde in Gedanken eine Gegenprobe machen, werde mir den unhistorischen, besser den antihistorischen Menschen, die geschichtslose Gegenwart vorstellen, die ja nicht nur möglich ist, sondern bei primitiven Völkern auch in Wirklichkeit angetroffen wird. Zum nackten Leben ist Geschichte durchaus nicht notwendig. Ganze Zeitalter haben sicherlich ohne Geschichte oder trotz falscher Geschichte gelebt und gehandelt. Warum also zieht es uns immer wieder zurück in die Vergangenheit, die wir als Gegenwart, und in eine Gegenwart, die wir als Vergangenheit betrachten wollen? Ganz zu schweigen von der Zukunftsahnung und dem Zukunftswollen, das ja nichts andres zu sein scheint als eine Extrapolation aus dem Gesetz der Gegenwart in die kommende Zeit?
Jetzt haben mich die Dämonen der Geschichte umkrallt. Mir schwindelt, wenn ich bedenke, daß es in Wahrheit nur eine Wirklichkeit, die ausdehnungslose Gegenwart, gibt, während wir ununterbrochen bestrebt sind, in drei Wirklichkeiten zu leben: in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Wir dehnen also unser Ich aus der Gegenwart nach beiden Seiten bis dorthin, wo sich der Blick im Nebel verliert. Und wir suchen in der Vergangenheit die beglaubigten Quellen, um diese zweite Wirklichkeit mit Händen greifen zu können. Die Zukunft aber wollen wir aus den Ursachen der Gegenwart durch unsre Vernunft enträtseln, wenn uns nicht ein Gott die mühelosere und zuverlässigere Gabe des Sehers lieh.
Aber das ist nicht alles. Ein zweites Gedankenbild läßt uns den Fluß der Geschichte nicht nur als stetig, als Kontinuum erscheinen, sondern zwingt uns, daß Gesetz des Fortschreitens, ja des Fortschrittes in diese Zeitlinie hineinzutragen: ohne Unterbrechung steigt ein Pfad von der Erschaffung der Welt zu unsrer jeweiligen Gegenwart hinan. Und wir müssen prüfen, ob wir uns auf einer Fläche, auf einem Abstiegs-Teil der Weltkurve oder im weiteren Ansteigen befinden.
Und jetzt ist mir der Zusammenhang klar geworden. Wieder durch Platon. Eidos-Idea, das ewige Vor-Bild, ist es, was der Geschichte Sinn verleiht. Wahre Geschichte ist die Betrachtung vergangenen Weltablaufs und ihrer Stufenfolgen unter dem Kriterium einer Idee. Ob es sich nun um die Idee des Guten, der Macht, des Fortschrittes, der zunehmenden Gottnähe handelt.
Geschichte ist Prüfstein des Erreichten, ist Richtungspfeil des Zukünftigen. Niemals aber darf Geschichte ein Phantom sein, das sich eine zweckwollende Gegenwart unabhängig von wirklich beglaubigter Vergangenheit gewissenlos und wahrheitsfremd zurechtstutzte. Gewiß, der Deutungen wirklicher Vergangenheit gibt es viele. Und oft wird der dunkle Sinn des Gestern wie im Einzelleben erst durch das Heute offenbar.
Das verstehe ich unter jenem »Testimoniis nitendum esse«, jener Forderung, daß nur beglaubigte Quellen als Stütze wahrer Geschichtsdurchdringung dienen dürfen.
Gleichwohl aber hängt alles, was wir aus der Geschichte lernen müssen, in hohem Maß vom Einzelnen ab. Und es gibt nur wenige Bereiche, in denen Geschichte zwingend die Wege weist; während oberhalb allen Geschehens der Wille Gottes und die Gnade steht, den Punkt wahrhaft zu finden, auf denen der verästelte Weg der Zukunft wirklich zum Gipfel ansteigt.
Doch die Dämonen der Geschichte haben mich in Weiten hinausgetrieben, in denen es fast keinen Halt mehr gibt. Noch ist ja das Erste, das Einfachste, das Selbstverständliche nicht geleistet. Noch ist alle Wissenschaft der Geschichte nichts als ein vager, in die Vergangenheit irrender Traum, eine Rhapsodie von Wünschen und Entstellungen.
Und eine nüchterne, feste Hand soll unbeirrt von solchen Wünschen, gleichsam ohne Willen einer Verknüpfung, Stück für Stück die »Testimonia« heben, um dann auf diesen Leitersprossen zur Urtiefe zurücksteigen zu können.
Ich habe bisher einige dieser Sprossen an ihre Stelle gerückt. Und bin heute in eine Tiefe gelangt, die für meine beschränkten Absichten ein vorläufiges Unten bedeutet.
Es ist nicht mehr zu leugnen, nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Lückenlos führte die Ahnenreihe des Welfengeschlechtes hieher zu diesen Grabinschriften. Lückenlos. Einer neben dem anderen liegen sie hier, die bisher sagenhaften ersten Markgrafen von Este, unter der Erde dieses Friedhofes der Abtei Badia della Vangadizza. Und ihr erster Stammvater ist der geheimnisvolle Azo von Este, dessen Epitaph-Inschrift eben vor meinen Augen zu klarem Sinn und unzweifelbarer Bedeutung zusammenrann. Deren Wortlaut ich schon auf dem Papier vor mir festgehalten habe, obwohl der rieselnde Regen meine Schriftzüge verwischen wollte. Nein, du mühst dich vergeblich, rieselnder Regen! Nichts auf der Welt wird mehr dieses »Testimonium« tilgen, das bezeugt, in welcher Art, einem doppeltem Strome gleich, die Geschlechter der Este und der Welfen durch die Niederungen und Höhen des Mittelalters dahinflossen und einander aus den Augen verloren, nachdem sich der Ursprungsstrom einmal gegabelt hatte. Wie aber die Völker heute schon durch schiffbare Kanäle einander nähergerückt werden, so sollen auch diese Herrscherhäuser durch den freundlichen Kanal verwandtschaftlicher Bande ihre Kräfte wieder vereinigen und austauschen.
Es ist ein Beginn. Dynastische und hauspolitische Früchte wahrer Geschichtsforschung werden reifen. Bald aber soll die Durchdringung des »dunklen« Mittelalters den wahren Verlauf der riesigen Kurve zeigen, deren Gleichung und Differentialquotient aus dem winzigen Kurvenstückchen unsres Heute nur mit großer Unsicherheit zu enträtseln ist. Und erst die Sicherheit, gestützt auf beglaubigte Quellen, wird es uns an die Hand geben, abzulesen, wie Gott den weiteren Verlauf der Kurve, der dem Maximum einer bestmöglichen Welt zustrebt, gestaltet wissen will.
Meine Aufgabe hier bei den freundlichen Karmelitern ist erfüllt. Ich habe die letzte der Tafeln, die Inschrift, die den rätselhaften Markgrafen Azo von Este betrifft, auf meiner Kopie festgehalten. Jetzt darf ich über Venedig nach Hannover zurückkehren. nicht jedoch, ohne die Gewässer der Lagunen vorher erforscht zu haben. Denn alle Dämonen aller Wissenschaften brechen zugleich auf mich herein, da ich in einer der Wissenschaften einen kurzen Ruhepunkt fand. Wann werde ich mich endlich sammeln? Schon lange bin ich nicht mehr der »junge« Leibniz. Die Zeiten sind traumschnell weitergerückt und haben mich bis ins vierundvierzigste Jahr meines Lebens vorgerissen. Die Zeit aber ist das kostbarste aller Dinge in der Welt; sie ist eigentlich das Leben. Denn wieviel man an Zeit verliert, soviel verliert man an seinem Leben ...
Noch in Venedig erreichte einige Monate später Leibniz folgender Brief der großen Herzogin Sophie, der er alles über seine geschichtlichen Entdeckungen berichtet hatte:
»Sie gaben den guten Wünschen, die Sie mir zu diesem neuen Jahre darboten, eine so angenehme und verbindliche Wendung, daß ich sie deshalb allen Wünschen vorziehe, die ich von den Königen und Fürsten erhalten habe. Nur das Schicksal kann ja die Erfüllung solcher Wünsche verwirklichen; und in dieser Hinsicht ist die gute Gesinnung der größten Monarchen und Ihre gute Gesinnung für mich von gleichem Gewicht. Ich möchte Ihnen nun meine Erkenntlichkeit für alles Geleistete nicht nur durch Worte, sondern auch durch die Tat beweisen, um Ihnen gleichzeitig zu zeigen, wie hoch ich Ihre Freundschaft schätze. Da ich aber weiß, daß man Ihnen nur durch Aufbürdung neuer Aufgaben wahrhaft danken kann, frage ich Sie: Könnten Sie als erste sichtbare Bekräftigung Ihrer Entdeckungen nicht dem Herzog von Modena eine unsrer Prinzessinnen zum Neujahrsgeschenk geben? Ich verhehle Ihnen nicht, daß es sich um keine leichte Angelegenheit handelt. Denn Graf Dragoni, den mein herzoglicher Gemahl bisher mit dieser Sache betraut hatte, hat sehr schlechten Erfolg darin gehabt. Ich wünsche Ihnen jeden Erfolg und hoffe, Sie in diesem Frühling in guter Gesundheit wiederzusehen, zu welcher Zeit Sie mir, während mein Gemahl bei der Armee weilen wird, Ihre anregende Gesellschaft leisten wollen.
Ich habe noch nachzutragen, daß die Ihnen unterstehende herzogliche Bibliothek sich inzwischen in ein Theater verwandelt hat, in dem man die schönsten Opern der Welt aufführt. Der Hofdichter Hortensio Mauro verfaßt den Text und Signor Steffani, der im Dienst des Kurfürsten von Bayern war, komponiert die Musik dazu. Sie sehen daraus also die beruhigende Tatsache, daß die Franzosen bisher unsre Staaten noch nicht verbrannt und geplündert haben.«
Wieder die Dämonen der Geschichte, die jetzt, nach Wochen schon, ihr Recht verlangten? Der leichte, spielerische Ton des Briefes der Herzogin durfte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Entzifferung der Tafeln in Badia della Vangadizza und die Wiederauferstehung Azos von Este schon jetzt in die wirklichste Gegenwart eingriffen.
Leibniz verließ sogleich Venedig, eilte an den Hof von Modena, und es gelang ihm, nach fast sechshundert Jahren die Häuser der Welfen und der Este wieder zu vereinigen. Die Prinzessin Charlotte von Braunschweig-Wolfenbüttel wurde dem Herzog von Modena angelobt. Und Leibniz ließ, seiner Vision vor den Marmortafeln Gestalt verleihend, eine Schaumünze schlagen, auf deren Revers sich ein Strom nahe der Quelle in zwei Äste gabelte, die nach langem Lauf durch einen Kanal wieder vereinigt wurden. Und eine Devise, anspielend auf die Verbindung der Völker durch Kanäle, hob die Schaumünze zu höherer sinnbildhafter und geschichtlicher Bedeutung.