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Die Sonnenbrüder wohnten jetzt alle an Pieter Goys Strand; Daniel aber hielt streng darauf, daß es darum doch kein Staat sei. Allerdings war die Arbeit zwischen ihnen verteilt, aber der Einsamkeit geschah deshalb doch Genüge; denn die Hütten lagen mehrere hundert Schritte voneinander entfernt. Einander nachbarlich in die Fenster gucken, das gab es nicht, und Besuche machen, wenn nicht die Not sie dazu trieb, war aufs strengste untersagt.
Daniel, Hendrik und Jakob konnten wie bisher unabhängig voneinander ihrer Kunst leben. Sie sahen sich nur bei der gemeinsamen Mahlzeit am Sonntag, und wenn sie sich zur Mittagszeit ihre Ration in der großen Gemeinschaftsküche bei Goys Hütte abholten.
Pieter war wieder Futtermeister wie in den Tagen der Löwenhöhle. Seine Pflicht war es, den Bedarf an Wild zu liefern, Feuerung zu schaffen und das Essen zuzubereiten. Außerdem war er Tischler, Maurer, Schmied, Korbmacher, Arzt und Apotheker der Gemeinde.
Auch jeder der anderen hatte seinen Teil der materiellen Arbeit.
Jakob Beer hatte seine Schwindelgefühle überwunden; und da er dünn und leicht war, wurde ihm die Aufgabe zuteil, Eier und Bananen für den Haushalt zu beschaffen.
Hendrik sorgte für den Kokosbedarf. Da er die größten Kräfte hatte, mußte er die Kokosnüsse herschleppen, die oft schwer und von weit herzuschaffen waren. Er mußte sie auch öffnen und den Saft ausgießen.
Daniel, dessen Hütte am weitesten draußen auf der Landzunge lag, fischte mit Pieters Reuse und seinen eigenen Angelschnüren. Er konnte halbe Tage mit Angeln verbringen, und dabei dichtete er.
Wenn der Fang mager war, behauptete Hendrik, daß Daniel die Fische mit seinen Versen verscheuche.
Für Tabak und Salz mußte jeder selbst sorgen.
Da aber die Kunst ihren Verehrern eine strenge Herrin ist und irdische Dinge leicht vergessen macht, so geschah es nicht selten, daß Hendrik und Jakob, wie zur Zeit der Löwenhöhle, Pieter Goy anpumpten und gleichzeitig etwas mit ihm plauderten.
Daniel betrachtete alles, was den Gesetzen der Insel widersprach, mit scheelen Augen. Er war überhaupt viel strenger als in der ersten Zeit und spielte sich so sehr als Herr der Insel auf, daß die anderen hinter seinem Rücken die Köpfe zusammensteckten und auf ihn schimpften.
Pieter Goy verlor seine Seelenstärke. Nicht allein, daß er die Aufgabe, die Gott ihm durch Eva anvertraut hatte, vermißte. Er hatte außerdem noch Aufgaben genug. Sondern er hatte Sehnsucht. Pieter Goy hatte Heimweh – nach Holland – nach seinem Vaterland – nach den Kanälen – ja, rein heraus, nach den schmutziggelben Wänden der Löwenhöhle.
Er hatte die ganze Zeit über genaue Rechenschaft mit den Daten in seinem Taschenbuch geführt. Als er jetzt anfing, März zu schreiben, stiegen Frühlingsgefühle in ihm auf. Obgleich hier in der Natur kein Unterschied zu merken war, – es war immer dieselbe ewige Sonne – so fühlte er doch ein Kribbeln und Krabbeln im ganzen Körper.
Jetzt schmilzt der Schnee in Groningen, dachte er. Das Gras grünt und das Vieh kommt auf die Weide.
Wenn er des Abends mit seiner Pfeife vor der Tür saß und zu der Lagune hinausblickte, wurden ihm die Augen feucht, und ein Seufzer nach dem anderen löste sich aus seiner bedrückten Brust.
Die großen Felder der weißen, blauen und hellroten Hyazinthen breiteten sich vor seinem inneren Blick. Denn zu dieser Jahreszeit pflegte er, wenn er einen freien Tag hatte, mit der Eisenbahn nach Haarlem zu fahren, um sich am Anblick des Blumenteppichs zu erfreuen.
Um seine Gedanken zu zerstreuen, begann er ein Kanu nach dem Muster dessen zu zimmern, das Eva mitgenommen hatte.
Er mochte nicht, daß die anderen es wußten, und richtete sich deshalb einen Stapelplatz hinter der Landzunge in der großen Bucht ein. Hier stand er von dem Uferfelsen verborgen, der jeden Laut auffing, und zimmerte, wenn er seine tägliche Arbeit getan hatte.
Er versenkte sich so in seine Arbeit – sie gab ihm viel zu denken, denn es war ja ein reines Wunder, wenn sie ihm überhaupt glücken würde – daß er garnicht bemerkte, wie auch die anderen mit jedem Tag stiller und trauriger wurden.
Wenn Beer zur Mittagszeit kam, um seine Eier abzuliefern und seinen Topf Suppe abzuholen, pflegte er immer eine Weile auf dem Holzblock zu sitzen, mit Pieter Goy über Wind und Wetter zu sprechen und seiner heimlichen Begegnung mit dem braunen Weib zu gedenken.
Eines Tages aber sank er mitten im Gespräch zusammen. Goy sah auf und entdeckte erst jetzt, daß der Krüppel furchtbar mager geworden war.
Seine Augen waren größer und klarer, seine Nase spitzer, das festgewachsene Lächeln saß wie eine verwelkte Blume um seinen Mund. Die schiefe Schulter in die Höhe geschoben, die Arme im Schoß verschränkt, so saß er und starrte ins Leere.
»Was fehlt dir?« fragte Pieter und faßte ihn am Arm.
Jakob erwachte, betrachtete ihn mit fernen Blicken und lächelte.
»Nichts,« sagte er.
Tags darauf erschien Jakob nicht. Daniel und Hendrik hatten ihr Essen schon längst geholt und Pieter hatte auch gegessen; Jakob aber kam nicht.
Der Ärmste wird krank sein, dachte der Futtermeister, tat eine reichliche Portion Suppe in seinen eigenen Topf und ging damit zu Jakobs Hütte.
Einige Schritte davon entfernt blieb er stehen und lauschte. Jakob spielte. Alte, holländische Melodien, die er selbst tief im Inneren trug, tönten ihm entgegen. Er suchte vergeblich nach den Worten dazu, denn er kannte sie ja; aber es war ihm nicht möglich, sich darauf zu besinnen. Und kaum hatte er angefangen mitzusummen, so entglitt ihm die Melodie und ging in eine andere über, die er ebenso gut kannte und deren Worte er auch nicht finden konnte.
Goy gab es schließlich auf. Er faltete die Hände über dem Leib und nahm die Töne mit tränenerfülltem Auge in sich auf.
Als er schließlich in die Hütte trat, sah er Jakob zusammengekauert auf seinem Moosbett liegen, die Violine im Arm.
Seine schmalen Lippen bewegten sich, als ob er mitsänge; aber es kam kein Laut heraus, nur seine Finger, die so dünn geworden waren, entlockten den Saiten diese heimatlichen Töne.
Seine Augen standen weit offen, und große, klare Tränen rollten auf das Lager, auf dem er lag.
»Jakob!« rief Pieter leise.
Jakob kehrte ihm sein Gesicht langsam zu, aber er spielte weiter.
Da stellte Pieter den Topf aus der Hand, setzte sich auf den dreibeinigen Stuhl, den er selbst gezimmert hatte, schlug die Hände vors Gesicht und weinte aus Sehnsucht nach all dem Guten, Alten in der Heimat.
Jetzt wußte er, was es für eine Krankheit war, an der Jakob litt.
Bevor sie sich trennten, erzählte Jakob ihm, daß er seine große Sinfonie »Die Natur« vernichtet habe. Es täte ihm weh, aber er hätte sich auf keine andere Weise Ruhe verschaffen können. Gestern abend sei es geschehen. Heute morgen aber, als er erwachte, habe er die Violine ergreifen und sich alle Erinnerungen aus der Heimat vom Herzen spielen müssen.
Es klänge wie alte Lieder, aber es seien lauter eigene Kompositionen. Und jetzt sei er glücklich; in diesem Augenblick sei er ganz glücklich!
Das konnte Pieter begreifen. Er hatte immer bei sich gedacht, daß es ein komisches Zeug sei, was Jakob sich auf seiner Violine zurechtfiedelte. Dies aber – ach, dies –
»Damit wirst du in Holland einen Riesenerfolg haben,« sagte er und schlug seine dicken Hände zusammen. »Glaubst du?« fragte Jakob und sah auf. Im selben Augenblick fiel ihm ein, daß das große Tier ihn ja nie wieder hören würde; und da weinte er bitterlich.
Eines Nachmittags, als Goy auf dem Heimweg an Hendriks Hütte vorbeikam, sah er ihn vor seiner Tür sitzen und malen.
Goy hatte ihn schon häufig von weitem malen sehen. Er pflegte mit gespreizten Beinen vor seiner Staffelei zu stehen und die Augen wie ein Verrückter zwischen dem Bild und der Umgebung umherirren zu lassen.
Heute aber saß er mit gesenktem Kopf da und malte wie im Traum.
Goy konnte nicht widerstehen. Er schlich sich leise heran, damit Hendrik ihn nicht hören und wegjagen konnte; denn er mochte nicht, wenn jemand ihm bei der Arbeit zusah.
Hendrik hörte ihn dennoch. Er wandte den Kopf, aber er sagte nichts und rührte sich nicht vom Fleck.
Das Bild, das er malte, stellte Holland zur Frühlingszeit vor. Auf einer flachen, grünen Wiese weidete eine Kuh im hohen Gras. Die Sonne schimmerte blank auf ihrem braunen Fell. Frische Frühlingsluft kam vom Meer her, unter dem hohen, blauen Himmel. Die Spatzen zwitscherten und der Star flötete, daß es eine Lust war. Und dort rechts – ach ja, – da lag vor den kleinen roten Häusern ein großes Hyazinthenfeld neben dem anderen.
Ach, wie sie in diesem Jahre blühten! – Und wie sie dufteten!
»Hendrik,« sagte Pieter Goy und legte die Hand auf seine Schulter, während ihm die Augen feucht wurden, »wie ist das hübsch! Wie soll das Bild heißen?«
»Das gelobte Land,« sagte Hendrik ohne aufzusehen.
Er schämte sich des Bildes, denn es war ja nur nach dem Gedächtnis gemalt.
Jakob Beer lag einige Zeit krank.
Goy brachte ihm jeden Tag das Essen, und dann saßen sie und sprachen verstohlen von dem weiten Land mit den Kanälen, den Hyazinthen und Tulpen und dem Blütenduft der grünen Linden.
Langsam reifte ein Entschluß in Pieter Goy; aber er wollte ihn dem Krüppel nicht anvertrauen, bevor er wußte, daß er die Hoffnung, die er in ihm erwecken würde, auch erfüllen konnte.
Pieter war auf dem Boden der Munitionskiste angelangt. Erst waren noch hundert Patronen nach, dann fünfzig. Als aber der Tag kam, an dem er nur noch zwanzig Patronen zählte, da nahm er sich zusammen. Jetzt mußte es ernst werden.
Pieter Goy wurde schweigsam.
Sein Mißmut lagerte schwer auf den Hütten, denn seine gute Laune war es gewesen, an der die anderen gezehrt hatten.
Es war Hendrik stets eine Zerstreuung gewesen, sich über dies und das und gar nichts mit Goy zu zanken. Und für Daniel war es eine Linderung gewesen, sich über Pieter zu erheben und an ihm herumzunörgeln. Jetzt aber war es vorbei; Pieter tat seine Pflicht und wenn sie ihn anredeten, antwortete er einsilbig.
Sie sahen, daß er jeden Tag mit der Büchse fortging und lange fortblieb; aber sie hörten ihn nicht schießen und noch nie war die Jagdbeute so schmal gewesen wie jetzt. Trotzdem war er totmüde und schleppte die Beine nach, wenn er nach Hause kam.