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Das ist ja reizend!«
Hendrik Koort stand in der Tür und warf einen zornigen Blick auf Daniel und Jakob, die um die Wette aßen.
»Setz dich«, befahl Daniel mit vollem Mund.
»Man wird zum Abendessen eingeladen, und bevor die Gäste kommen, hat der Wirt alles aufgefressen!«
»Blech! – Du kommst immer zu spät. – Futtermeister, geben Sie ihm den Hummer.«
Pieter Goy langte nach der Schüssel, die er auf den Schrank gestellt hatte, damit Daniel sich nicht an Koorts Anteil vergreifen sollte.
Der Maler zwängte sich auf den engen Platz zwischen Tisch und Wand.
Der Futtermeister reichte ihm das herrlich rote Schaltier, das er mit etlichen Zungenlauten begrüßte, einem privaten Kunststück, das keiner ihm nachmachen konnte. Wein wurde eingeschenkt, und dann ging es los.
Kurz darauf erkundigte Jakob Beer sich nach seiner »Insel der Verheißung«, bekam aber keine Antwort.
Daniel dachte an sein Stück, das in diesem Augenblick auf der Räuberburg losgelassen wurde. Seufzend machte er sich über Beers Hummer her; denn wohl war der Musiker Vegetarianer, aber auf Hummer konnte er doch nicht ganz verzichten. Er hatte die eine Klaue gegessen.
Hendrik Koort verteidigte seinen Eßfrieden mit rollenden Augen und einem unsanften Geknurr, wie ein Hund, der an einem Knochen zerrt.
Als der erste Eifer vorbei war, hob er sein Glas und sagte zu Daniel:
»Laß uns auf den »Schoß der Natur« anstoßen. Laß uns darauf anstoßen, daß er eine unübersehbare Reihe von Abenden mit allem, was gut und edel ist, speisen möge!«
Daniel rückte auf seinem Stuhl hin und her und wurde ernst.
»Weißt du, Maler, man mag auf das große Tier sagen, was man will, aber sobald man es lockt, fällt doch ein Knochen für einen ab.«
»Und du hast es diesmal gewaltig gelockt.«
Daniel beugte den Kopf schuldbewußt über seinen Teller, aber er sagte nichts.
»Wenn ich mir vorstelle«, begann Jakob Beer, indem er sich mit strahlenden Augen über einen Gemüsesalat hermachte, »daß es Leute gibt, die Abend für Abend ihren halben Hummer essen und Wein dazu trinken können, ohne einen Schimmer von Musik und Harmonie und Schönheit zu haben – was sagt Ihr?«
»Ja«, sagte der Futtermeister und stellte eine Flasche Wein auf den Tisch, »es ist unglaublich, was Leute, die Moneten haben, in sich reinstopfen können.«
Nachdem Daniel das letzte dünne Hummerbein ausgesaugt hatte, lehnte er sich in den Stuhl zurück und zog einen Brief aus der Tasche, den er morgens von seinem reichen Onkel bekommen hatte, einem Reeder, der eine Dampferlinie zwischen Java und Hinterindien hatte.
Daniels Kampf mit der Gesellschaft hatte sich mit der Zeit zu einem Briefkrieg mit dem Alten zugespitzt, der sich darüber ärgerte, daß sein Neffe nichts Vernünftiges tun wollte.
Es wurde hin und her verhandelt. Der Alte hatte Daniel einen Platz in seinem Kontor angeboten, den dieser mit Entrüstung abwies. Dann bot der Alte höher und schlug ihm ein Studium vor. Daniel war ja sein einziger jüngerer Anverwandter und trug seinen Namen.
Daniel nahm zum Schein an und forderte einen entsprechenden Betrag zum Einkauf von Büchern usw. Dafür lebte das Kleeblatt eine Zeitlang in Saus und Braus, bis der Alte dahinter kam.
Jetzt hatte er durch die Zeitungen erfahren, daß eines von Daniels schamlosen Stücken auf einer Bühne aufgeführt werden sollte, die in den jungen Tagen des Reeders eine unanständige Bude war, wo Frauenzimmer herumgingen und mit den Gästen tranken.
Da beschloß der Alte, der Sache ein Ende zu machen, und schrieb diesen Brief, den Daniel zu seinem Morgenkaffee bekommen hatte.
Der Reeder bot ihm freie Reise mit der »Atlanta«, seinem größten Schiff, das in acht Tagen nach Australien abgehen sollte. Er wollte seinen Neffen mit einer kleinen Summe ausrüsten, die er jedoch erst in Brisbane erhalten konnte; drüben sollte er dann selbst versuchen, sich Bahn zu brechen.
Daniel las seinen Freunden diesen Brief laut vor.
»Schlag zu!« rief der Maler, »und nimm mich mit. Dort drüben gibt's gewiß genug Urwald und wilde Menschen, durch die man sich Bahn brechen kann.«
Der Futtermeister mischte sich ängstlich ins Gespräch:
»Das wäre doch dumm, da Herr Hooch gerade so schön mit den Theatern in Gang gekommen ist!«
Während Daniel in plötzlicher Niedergeschlagenheit seinen Kopf in die Hände stützte, sagte Jakob Beer, indem er mit schwimmenden Augen in den weißen Wein vor sich starrte:
»Wenn ich mir vorstelle, daß jemand große Schiffe besitzt und die Erde bloß zu seinem Vergnügen umsegeln kann! – Was sagt ihr?«
»Pieter Goy hat recht!« räumte Hendrik Koort ein, »laßt uns erst den Saft aus dem ›Schoß der Natur‹ pressen, dann können wir hinterher Bahn brechen.«
Es wurde an die Tür geklopft. Der Futtermeister öffnete.
Draußen stand ein Dienstmann mit der Mütze in der Hand und fragte nach dem Schriftsteller Hooch.
Daniel wurde blaß vor Erwartung und streckte die Hand nach dem Brief aus.
Hendrik nahm ihn dem Futtermeister ab und las die Aufschrift.
»Er ist von der Räuberburg!« rief er triumphierend, gib dem Mann einen halben Gulden, Pieter!«
Daniel öffnete den Brief mit zitternden Händen. Es war ja doch sein eigenes Stück, wie entartet es auch sein mochte.
Indem er las, erbleichte er und seine Lippen begannen zu zittern.
Hendrik Koort nahm ihm den Bogen aus der Hand und las vor:
»Vollständiges Fiasko! – Für hundert Gulden Inventar aus dem Fenster geworfen. Die Polizei schrieb Ihre Straßenjungen-Klaque auf. Das Publikum schrie nach dem Verfasser, um ihn zu verhauen. Danken Sie Ihrem Schöpfer, daß Sie nicht zugegen waren, und verlassen Sie sich darauf, daß dieser Mist nicht zum zweitenmal bei mir über die Bretter geht. Ehrerbietigst Janßen, Direktor.«
Der Maler las es ganz langsam noch einmal, während der Futtermeister ihm mit großen, verstörten Augen über die Schultet blickte. Dann sah er vom einen zum andern und machte sich in einem ungeheuren Gelächter Luft.
Pieter Goy puffte ihn ärgerlich in den Rücken. Was gab's hier zu lachen. Die Sache war ja im höchsten Grade fatal.
Währen Hendrik Koort zwischen den Lachanfällen in verschiedenen Tonarten »ehrerbietigst Janßen« wiederholte, schlug Daniel, der schweigend, mit bebenden Lippen, dagestanden hatte, plötzlich mit der Faust auf den Tisch, so daß Teller hüpften und Gläser klirrten.
»Tod und Teufel«, zischte er, »ich will nicht länger in diesem verpesteten Land leben!«
Während er so stand und nach Luft schnappte, fiel sein Blick auf den Brief des Reeders, der sich zwischen den Gläsern herumtrieb. Auf das Wort »Brisbane« fiel er. Dieses drollige Wort erkämpfte sich plötzlich seine Aufmerksamkeit. Es war, als ob eine neue Welt sich ihm in der Ferne erschloß. Die Welt des abenteuerlichen Naturdaseins, nach der er stets geseufzt hatte, zeigte sich ihm plötzlich in ihrem ganzen lockenden Freiheitsglanz. Sie kam wie eine letzte Zuflucht zu ihm und machte sein Herz klopfen.
Dort stand ein handgreifliches Angebot, mit spitzer, ehrenwerter Kontorhandschrift auf einem handgefertigten Firmenbogen geschrieben.
Daniel war nicht abergläubisch, aber er glaubte dennoch an eine ironische Weltlenkung.
Noch schmerzte die Wange ihm von der Ohrfeige, die das große Tier ihm verabreicht hatte.
Oh, er hatte es nicht besser verdient. Warum hatte er seine Feder zu kleinen koketten Bosheiten erniedrigt, anstatt mit Skorpionen zu peitschen? Er, dessen Gemüt danach strebte, sich von dem Fluch des Gesellschaftzwanges zu befreien und der Menschheit ihr großes unbeschnittenes Ich zurückzugeben!
Jetzt mußte zugegriffen werden – – zum ersten und zum letztenmal.
Er stand so lange in den Vorsatz vertieft, der sich plötzlich aus den tiefen Traumschichten seines Inneren hervorrang, daß es Jakob Beer schließlich ganz unheimlich zumute wurde und er ihn am Rock zupfte:
»Ich reise!« sagte Daniel und ließ sich auf den Stuhl fallen.
Ein verheißungsvolles Lächeln spielte um seinen Mund, während sein Blick über die Weiten unter der Decke irrte und die Hand durch das braune Haar fuhr.
»Was willst du?« fragte Hendrik und drang mit seiner gewölbten Stirn auf ihn ein.
Ihm ahnte, daß etwas Großes in der Luft lag.
»Ich nehme sein Angebot an. Ich verlasse dieses Land – diese Gesellschaft, die ich hasse und die mich nie verstehen wird. Ich reise mit dem Schiff des Alten nach Brisbane.«
Hendrik erhob seinen schweren Unterkörper, so daß der Stuhl umfiel.
»Abgemacht!« rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch, »ich reise mit.«
Daniel blickte aus seinen Weiten auf ihn herab:
»Du – wo kriegst du Geld her?«
Jakob Beer wurde unruhig. Das erlösende Wort des Entschlusses hatte alle Schleusen zu dem wunderbaren Traumland geöffnet, das auch in seinem Inneren lebte.
Koste es, was es wolle. Auch er wollte fort aus dieser grauen und schmutzigen Stadt, wollte die Handeisen der Gesellschaft sprengen, die elend bezahlten Stunden und die jämmerliche Anstellung in der Blindenkirche von sich abschütteln.
Hinaus in die weite Welt, wo jeder freien Zutritt zu den Gütern hatte, die die Natur aus ihrem reichen Mutterschoß spendete!
Ach, unter dem Schatten hoher Dattelpalmen wandern; den Liebestönen wunderbarer Urwaldvögel lauschen; der Einsamkeit ihre tiefe, geheimnisvolle Korallmusik entlocken!
»Nimm mich mit!« bat er und legte seine schmale Spielhand auf Daniels Arm, während er flehend in seine Adleraugen blickte.
Hendrik Koort malte mit seiner dicken Tatze durch die Luft, während sein Blick groß und starr wurde und das rote Haar ihm zu Berge stand.
»Das Jungfräuliche, versteht Ihr – das, was hinter den Symbolen liegt, versteht Ihr – dort, wo noch kein menschlicher Fuß hingetreten ist, – wo noch keiner die Natur in ihrer Nacktheit belauscht hat, das will ich malen – den Sonnenaufgang, versteht Ihr – wie etwa ein Affe, ein koloristisch begabter Affe ihn malen würde – so will ich malen!«
»Wir wollen wie die ersten Menschen leben!« sagte Jakob Beer, »von wilden, vollsaftigen Früchten, die lose an den Bäumen baumeln und mit einem Klatsch auf die weiche Erde fallen, wenn man den Stamm berührt. Fleischähnliche, weiße Wurzeln wollen wir essen – und –«
»Wir wollen nackt in der brennenden Sonne gehen,« fuhr Hendrik Koort fort, »so wie die Natur sich uns gedacht hat. Und Haare werden auf uns wachsen, bis wir ebenso behaart sind wie die Tiere.«
Auch Daniel wurde mitgerissen.
»Wir wollen den Tieren ihre Sprache ablauschen – die ursprünglichen, begrifflosen, aber unendlich ausdrucksvollen Lautzeichen wollen wir lernen, eine Poesie, die nur auf der Grundlage der Instinkte beruht. Oh, wir wollen ein Dasein führen, wo es kein Gut und Böse gibt, kein Mein und Dein, kein du sollst und du darfst nicht!«